Gerhard Gnauck (FAZ): Herr Ministerpräsident, kann die Corona-Krise zum Zerbrechen der Europäischen Union führen?
Mateusz Morawiecki: Die mit der Pandemie verbundenen Ereignisse und ihre wirtschaftlichen Folgen sind in ihrem Ausmaß viel größer als alle Krisen der vergangenen hundert Jahre. Denken Sie allein daran, dass die Vereinigten Staaten nach sieben Wochen 38,6 Millionen Arbeitslose haben. Im April habe ich in Ihrer Zeitung geschrieben, dass die Strategie der Austerität, das Engerschnallen des Gürtels während der Krisen von 2007 bis 2013, sich nicht bewährt hat. Daher muss jetzt die Antwort der EU sehr entschlossen sein und unserem Kontinent einen Hebel für seine Entwicklung geben. In einer Zeit dramatischer Veränderungen in der Weltwirtschaft muss das ein Hebel der Investitionen in Infrastruktur, Innovation und in die Menschen sein. Wir können in dieser neuen globalen Rivalität nicht schon am Anfang hinterherhinken.
Kann die Krise die wirtschaftlichen Trennlinien zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern – darunter die Staaten Ostmitteleuropas – verfestigen?
Nur im Mannschaftsspiel können wir ein gutes europäisches Ergebnis erzielen. Die Pandemie hat ganz Europa symmetrisch getroffen, und auch die Antwort sollte symmetrisch sein. Die Staaten Ostmitteleuropas hatten in den vergangenen Jahren eine vernünftige Politik geführt, und so konnten sie jetzt geld- und fiskalpolitisch gut reagieren. Polen, früher ein Land mit einem der schwächsten Steuersysteme, hat dieses mutig reformiert. In der jetzigen Krise hat eines unserer Rettungspakete, das Finanzschild, bereits 170.000 Firmen mit 1,7 Millionen Beschäftigten erreicht. Aber die Folgen der Krise treffen uns alle gleich. Ich vertraue darauf, dass dieses verführerische »Europa der zwei Geschwindigkeiten«, das beunruhigend oft in früheren Debatten auftauchte, in dieser völlig neuen Situation endgültig ad acta gelegt werden wird. Denn Voraussetzung für Erfolge im Kampf gegen die Krise ist Solidarität zwischen allen EU-Ländern.
Nach der Finanzkrise und der Migrationskrise ist der »kranke Mann Europas« auch diesmal im Süden zu finden. Dagegen scheinen die »Tigerstaaten« in Ostmitteleuropa gesund – und sie brauchen keine Unterstützung mehr, könnten manche sagen.
Wir sollten uns gerade jetzt vor einer Spaltung hüten. Einer Spaltung in Kranke und Gesunde zum Beispiel. Das wäre wertend, geradezu stigmatisierend. Aber es gibt kein besseres oder schlechteres Europa, nur ein Europa, das angesichts großer Probleme dringend Solidarität und Zusammenarbeit braucht. Wenn Polen und seine Nachbarn in der Visegrád-Gruppe sich in den vergangenen Jahren am dynamischsten entwickelt haben, so können wir heute mehr Kraft und Frische in die Gemeinschaft einbringen.
Jetzt liegen Vorschläge auf dem Tisch, wie der Kampf gegen die Krise zu finanzieren wäre: ein deutsch-französischer, einer aus Wien und Den Haag. Welches Konzept erscheint aus polnischer Sicht als das beste?
Am besten wäre eine Option, die elastisch ist, im Sinne einer EU, die »in Vielfalt vereint« ist. Sie sollte den differenzierten Bedürfnissen der betroffenen Länder entsprechen. Ein Tourismusland braucht andere Mittel der Unterstützung als ein Land mit großer Automobilindustrie. Wieder andere Instrumente brauchen Länder, die wegen der Katastrophe der kommunistischen Zeit eine Politik der Kohärenz brauchen, Investitionen in Brücken, Straßen, die Bahn, die Energiewirtschaft. Wenn wir schnell einen Wiederaufbauplan beschließen, einen neuen europäischen Marshall-Plan, können wir die Katastrophe der Pandemie zu einem Erfolg umschmieden und die EU stärken.
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Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.05.2020. S. 2.
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