Die allgemeinen Grundlagen des Gesundheitswesens
Das rechtliche Fundament für das polnische Gesundheitswesen legt die Verfassung der Republik Polen in Artikel 68, insbesondere Absatz 1 und 2: »Jeder hat das Recht auf Schutz der Gesundheit. Der Staat garantiert den Staatsbürgern unabhängig von ihrer materiellen Situation gleichberechtigten Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens, das aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Die Bedingungen und den Umfang der erteilten Leistungen bestimmt das Gesetz.«
Gesundheitsschutz ist ein maximal weit gefasster Begriff. Er umfasst sowohl das Gesundheitswesen als auch die öffentliche Gesundheit. Das Gesundheitswesen bezieht sich im Allgemeinen auf Leistungen zur Wiederherstellung der Gesundheit des Einzelnen. »Öffentliche Gesundheit« ist eine Kategorie, die Krankheitsvermeidung und Gesundheitsförderung meint. Hier geht es nicht um die Wiederherstellung, sondern um die Stärkung der Gesundheit.
In Polen fällt der Bereich Gesundheitsschutz in die Verantwortung der Verwaltungseinheit »Gesundheit« des Gesundheitsministeriums. Die wichtigste Institution des Gesundheitswesens ist der Nationale Gesundheitsfonds (Narodowy Fundusz Zdrowia – NFZ), der die Aufgabe des Staates übernimmt, wie sie in der Verfassung beschrieben wird: »gleichen Zugang zu den Gesundheitsleistungen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, gewähren«. Im Bereich der öffentlichen Gesundheit, die ebenfalls in der genannten Abteilung angesiedelt ist, spielt die Staatliche Gesundheitsaufsicht (Państwowa Inspekcja Sanitarna/Sanepid) die wichtigste Rolle. Allerdings sind die Gesundheitsförderung und die Prophylaxe Aufgaben, die nur durch das Zusammenspiel aller Politikbereiche unterstützt werden, insbesondere der Sozialpolitik und der Wirtschaftspolitik des Staates in Form der Staatlichen Arbeitsaufsicht (Państwowa Inspekcja Pracy), der staatlichen Umweltaufsicht (Inspekcja Ochrony Środowiska) usw. Daher sind die Nationalen Gesundheitsprogramme als Verordnungen beschlossen worden, die für alle Ressorts Gültigkeit haben.
Aus der skizzierten Differenzierung ergibt sich die Unterscheidung zwischen dem Recht auf Gesundheit – verstanden als Schutz der Gesundheit im Allgemeinen, das generell allen, die sich in Polen aufhalten, zusteht – und der Gesundheitsfürsorge, die speziell den Bürgern der Republik Polen per Verfassung garantiert wird. Aus dem universalen Recht auf Gesundheit ergibt sich beispielsweise, dass die Lebensrettung im Rahmen des Staatlichen Medizinischen Rettungswesens (Państwowe Ratownictwo Medyczne) keine Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung erfordert, da sie aus Mitteln des öffentlichen Haushaltes gedeckt wird und nicht aus den Krankenversicherungsbeiträgen.
In Anbetracht seiner politischen und sozialen Bedeutung wurde das System des Gesundheitswesens in Artikel 68, Abschnitt 2 der Verfassung sowie weiter im »Gesetz über die Gesundheitsleistungen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden«, vom 27. August 2004 geregelt. Die Verfassung legt fest, dass der Staat das System des Gesundheitswesens nach dem Prinzip der Solidarität organisiert: »unabhängig von […] der materiellen Situation«. Das heißt, dass die Versicherungsbeiträge an die jeweiligen Möglichkeiten angepasst sind, zum Beispiel die Beitragshöhe einkommensabhängig festgelegt wird. Das Prinzip der Solidarität macht es allerdings erforderlich, dass ein Zwangssystem praktiziert wird. Das polnische System ist an das Bismarck-Modell angelehnt: Es stützt sich auf die allgemeine Versicherungspflicht, die für abhängig Beschäftigte gilt sowie für Personengruppen, die im Gesetz definiert werden (zum Beispiel Rentner und Arbeitslose). Personen, die nicht versicherungspflichtig sind (das gilt für bestimmte Beschäftigungsverhältnisse), können sich freiwillig im NFZ versichern. Die allgemeine Versicherungspflicht als Bedingung für den Zugang zur Gesundheitsversorgung kann mit der verfassungsmäßigen Garantie kollidieren, die allen polnischen Staatsbürgern diesen Zugang garantiert, aber es gibt in Polen darüber hinaus auch versicherungsunabhängige Berechtigungen, Gesundheitsleistungen in Anspruch zu nehmen. Der Krankenversicherungsbeitrag an den NFZ gehört in Polen zu den Arbeitskosten. In rechtlicher Hinsicht handelt es sich um eine zweckgebundene Steuer (zur Mittelgenerierung für einen gesellschaftlich relevanten Zweck), die über die Sozialversicherungsanstalt (Zakład Ubezpieczeń Społecznych – ZUS) abgeführt wird.
Die Struktur des Gesundheitswesens
Das polnische Gesundheitswesen besteht in organisatorischer Hinsicht aus der allgemeinen, verpflichtenden Krankenversicherung und den Gesundheitsleistungen, die vertraglich zwischen dem einen einzigen öffentlichen Kostenträger (der dezentral in jeder Woiwodschaft vertreten ist) und den Leistungserbringern (Arztpraxen, Krankenhäuser, Ambulanzen usw.) geregelt sind. Darüber hinaus umfasst es weitere Aspekte, zum Beispiel die Kostenerstattung bei grenzüberschreitender medizinischer Versorgung sowie die Finanzierung der medizinischen Rettungsdienste aus öffentlichen Mitteln.
Historisch betrachtet, ist das polnische Gesundheitssystem eine Zusammensetzung aus dem deutschen Bismarck-Modell und dem britischen Beveridge-Modell (William Henry Beveridge). Aus dem historischen Bismarck-Modell wurden folgende Aspekte übernommen:
Als grundlegendes Merkmal (der Kern des Bismarck-Modells) das Recht des Einzelnen auf Gesundheitsleistungen aufgrund des Versichertenstatus in einer Krankenversicherung (obgleich es parallel dazu viele Möglichkeiten gibt, in bestimmten Situationen und Versorgungsbereichen auch versicherungsunabhängig Leistungen der Gesundheitsversorgung zu erhalten).Eng damit verbunden ist die gesetzliche Verpflichtung zur Krankenversicherung. Diese Verpflichtung bezieht sich auf bestimmte, gesetzlich festgelegte Personenkategorien, insbesondere bestimmte Berufsgruppen. Insofern ist die Berechtigung, Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen zu können, gewöhnlich mit einem Beschäftigungsverhältnis verknüpft, was ein Relikt des Bismarck-Modells aus dem 19. Jahrhundert ist.Eine weitere Eigenschaft ist die obligatorische Einteilung in die Kosten übernehmende Institution (NFZ) und die Leistungserbringer. Dies soll eine Marktsituation gewährleisten, also den Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern – sowohl den öffentlichen (im Besitz der Selbstverwaltung) als auch den privaten (von Ärztegenossenschaften bis Aktiengesellschaften). Laut Gesetz kann die Beziehung zwischen dem Kostenträger und dem Leistungserbringer nur per zivilgesetzlichem Vertrag geregelt werden.Eine weitere, ursprünglich vom Bismarck-Modell inspirierte Eigenschaft ist die Dezentralisierung der Ressourcenzuordnung. Hier geht es um den Pluralismus der Institution (NFZ), welche die Verträge über Gesundheitsleistungen abschließt. Anders als in Deutschland ist dieser Pluralismus in Polen regional begründet: Die Verträge werden mit den NFZ-Niederlassungen auf Woiwodschaftsebene abgeschlossen. Diese Dezentralisierung knüpft an das einst bestehende Krankenkassensystem in Polen an, das ebenfalls in Woiwodschaftseinheiten organisiert war. Grundsätzlich kann es zu regionalen Unterschieden bei der Kostenkalkulation kommen, die sich aus den Vertragsverhandlungen ergeben. Mit Hilfe der Festlegung der Tarife für bestimmte Gesundheitsleistungen wird allerdings ein einheitlicher Standard angestrebt.
Das polnische Gesundheitssystem weist außerdem Merkmale auf, die für das britische Beveridge-Modell, also ein Fürsorgesystem für die gesamte Bevölkerung, typisch sind.
Das Wichtigste ist hier die zentrale Verteilung der Ressourcen: Die Versicherungsbeiträge fließen in einen Pool der NFZ-Zentrale und eben nicht an die NFZ-Niederlassungen auf Woiwodschaftsebene. Dies ermöglicht eine effektivere und gerechtere Mittelzuweisung, so dass beispielsweise regionale Unterschiede bei gesundheitlichen Risiken der Bevölkerung ausgeglichen werden können. Anders jedoch als beim typischen Fürsorgesystem, werden die Mittel für die Gesundheitsversorgung nicht vor allem aus Steuereinnahmen und dem öffentlichen Haushalt bestritten, sondern aus einem gesonderten Pool der Krankenversicherungsbeiträge, der vom NFZ verwaltet wird – wobei auch der NFZ teilweise Zuwendungen aus dem öffentlichen Haushalt erhält.Eine wesentliche typische Eigenschaft dieses Modells ist die Unterordnung des Kostenträgers unter das Gesundheitsministerium in der bereits genannten Verwaltungseinheit »Gesundheit«. Der NFZ ist die zentrale staatliche Institution; er untersteht personell dem Gesundheitsminster, der die Aufsicht ausübt.Die Krankenversicherung ist nicht die einzige Zugangsberechtigung zu Gesundheitsleistungen. Es gibt außerdem verschiedene sogenannte gesetzliche Versorgungsberechtigungen für jeden Bürger, das heißt nicht nur für den Versicherten. Sie werden aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. Zu diesen Leistungen gehören vor allem der medizinische Rettungsdienst (finanziert durch eine zweckgebundene Steuer, die über den Woiwoden an die Woiwodschaftsfilialen des NFZ geleitet werden, um beispielsweise Verträge mit den Rettungsdiensten der Krankenhäuser abzuschließen) sowie die Suchtbekämpfung und die Bekämpfung ansteckender Krankheiten.
Die zentrale Mittelzuweisung und die Dezentralisierung der Zuordnung von Ressourcen
Nach der Gesundheitsreform von 1999 erinnerte das polnische Gesundheitswesen mit seinen 16 gegründeten Krankenkassen zunächst stärker an das deutsche System. Aus verfassungsrechtlichen Gründen konnten sie aber nicht das sein, was die deutschen Krankenkassen sind, denn Artikel 68 der polnischen Verfassung legt fest, dass die Gesundheitsleistungen »aus öffentlichen Mitteln finanziert« werden. Die Kassen dürfen also keine Versicherten-Selbstverwaltung sein. Daher wurden die Krankenkassen der Woiwodschafts-Selbstverwaltung untergeordnet und damit zu staatlichen Institutionen auf der regionalen Selbstverwaltungsebene (nicht auf der Ebene der Zentralregierung). Diese Ordnung zog sofort Probleme bei der Mittelverteilung zwischen den Regionen nach sich. Daraufhin wurde 2003/04 eine Reform durchgeführt und der NFZ ins Leben gerufen. Die Reform diente dazu, einen zentralen Kostenträger, den NFZ, aufzubauen, der die Mittel verteilt, und die dezentrale Zuordnung der Mittel beizubehalten – durch die Woiwodschaftsniederlassungen des NFZ.
Schrittweise Reformen
Das ursprüngliche Gesetz aus dem Jahr 2003 zur Schaffung des NFZ hielt vor dem Verfassungstribunal nicht stand; endgültig ist der NFZ nun durch das Gesetz aus dem Jahr 2004 legitimiert. Das Urteil des Verfassungstribunals erwies sich aber weniger als Versuch, die Gesundheitsreform zu torpedieren; vielmehr hatte es aufgrund weiterer Reformauflagen zur Folge, dass das Gesundheitswesen den Artikel 68 der Verfassung besser umsetzt. Schlüsselbedeutung hatte hier, dass der Mechanismus des Gesundheitsversorgungspaketes eingerichtet wurde. Dessen Leistungen sind für jeden Versicherten garantiert. Übereinstimmend mit den gloablen Standards soll sich das Paket auf die Evidenzbasierte Medizin stützen. In diesem Zusammenhang wurde im Jahr 2005 auch die Agentur für die Bewertung Medizinischer Technologien (Agencja Oceny Technologii Medycznych – AOTM) gegründet. Damals war das ein bedeutender fachlicher Erfolg der Spezialisten in Polen, auch mit Blick auf Ostmitteleuropa, sowie ein Beispiel für die methodischen Bemühungen, das polnische Gesundheitssystem besser und gerechter zu machen.
Nach bescheidenen Anfängen gelang es im Jahr 2009, die AOTM gesetzlich zu stärken. Dabei wurden die garantierten Gesundheitsversorgungspakete als allgemein verbindliches Recht festgelegt. Vor der Reform gab es Versorgungspakete zwar auch, aber zu Zeiten der Krankenkassen waren sie stärker regional ausgeprägt. Später stützten sie sich auf interne Verordnungen des NFZ. Die Bürger konnten sie also nicht als garantierte Leistungsberechtigung wahrnehmen. Seit 2009 werden die für bestimmte medizinische Bereiche landesweit geltenden Versorgungspakete auf der Grundlage von Verordnungen des Gesundheitsministers geschnürt. Sie sind also allgemein verbindliches Recht.
Weiter wurde beobachtet, dass keine Deckungsgleichheit zwischen den geschätzten und den tatsächlichen Kosten für Gesundheitsleistungen bestand. Manche Leistungen wurden im Vergleich zu den realen Kosten zu günstig, andere zu teuer geschätzt. Das polnische Gesundheitssystem organisiert die Gesundheitsleistungen auf der Grundlage von Verträgen zwischen den Woiwodschaftsniederlassungen des NFZ und den Leistungserbringern (Krankenhäuser usw.). Diese zivilrechtlichen Verträge kommen durch Angebotsausschreibungen und/oder Verhandlungen zustande. Die veranschlagten Kosten für die betreffende Leistung beruhen also vor allem darauf, welche Preise die Leistungserbringer mit dem NFZ auszuhandeln in der Lage sind. Es kam zu Situationen, dass die Oberste Kontrollkammer (Najwyższa Izba Kontroli – NIK) alarmierte, die veranschlagten Kosten würden – bei Wahrung der Qualität – deutlich von den realen Kosten abweichen. Außerdem wurden manche Leistungen überproportional hoch eingestuft, beispielsweise im Bereich der invasiven Kardiologie. Verstärkt wurde diese Tendenz durch das Verhalten des »Rosinen Pickens«: Manche Leistungserbringer, insbesondere private, richten sich auf weniger schwierige Leistungen aus, die große Gewinne einbringen. Dies geschieht auf Kosten der Organisation von Behandlungen für weniger »gewinnbringende« Patienten, insbesondere chronisch Kranke. Daher erhielt die AOTM die Kompetenz, Leistungstarife festzulegen. Entsprechend heißt sie jetzt Agentur für die Bewertung Medizinischer Technologien und Tariffestlegung (Agencją Oceny Technologii Medycznych i Taryfikacji – AOTMiT).
Ein wesentlicher Reformschritt (wenngleich kein gesetzlicher, stellt er eine funktionale Ergänzung des Systems in seiner ursprünglichen Form dar) ist der Zusammenschluss der Bündnisse der Arbeitgeber im Gesundheitsschutz »Grünberger Bund« (Federacja Związków Pracodawców Ochrony Zdrowia „Porozumienie Zielonogórskie”). Er entstand 2003/04, zeitgleich mit der Schaffung des NFZ, und war eine Antwort auf die Gründung des NFZ als »Monopson«, das heißt einen monopolistisch den Markt dominierenden Nachfrager, dem viele Anbieter gegenüber stehen. Der Hintergrund ist, dass es im Zuge der Reform im Jahr 1999 und der Einführung von zivilrechtlich geregelten, ausgehandelten Gesundheitsleistungen mit unterschiedlichen Leistungserbringern zu einer blitzartigen Privatisierung auf der Ebene der Basisgesundheitsversorgung (Podstawowa Opieka Zdrowotna – POZ) kam, wozu Hausärzte und Ambulanzen zählen. Bereits im Jahr 2003 bestand die Basisgesundheitsversorgung mehrheitlich aus privaten Leistungserbringern. Mit Hilfe des Vertragsmechanismus stützte sich das System auf das Prinzip, ökonomische Interessen der Leistungserbringer gegenüber einem starken monopolistischen Kostenträger auszuhandeln. Das schwächte die Position der heterogenen privaten Leistungserbringer deutlich. In dieser Situation war es dem NFZ ein Leichtes, den Leistungserbringern ungünstige Vertragsbedingungen zu stellen. Die Arbeitgeber des Gesundheitsschutzes wandten daraufhin Lösungen an, die von Praktiken der Arbeitnehmer inspiriert waren: Sie organisierten eine Art Gewerkschaft der Arbeitgeber, um gemeinsam eine Form von »Streik« durchzuführen, also den Abschluss ungünstiger Verträge abzulehnen. Das polnische Gesundheitssystem gründet auf fairer Zusammenarbeit zwischen dem Staat, darunter der NFZ, und den Leistungserbringern, darunter auch den privaten. Das ergibt sich daraus, dass die zivilrechtlichen Verträge freiwillig (sic!) sind. Das gibt den vor allem privaten Arztpraxen und Ambulanzen der POZ ein eigenes Vetorecht im Moment der Einführung von Gesundheitsreformen. Da es deutlich daran fehlt, Koalitionen bei der Erarbeitung von Gesundheitsreformen zu bilden, ist die Folge, dass Reformen in der Phase der Implementierung blockiert werden, eben weil es abgelehnt wird, Verträge zu neuen Konditionen zu schließen, die vorher nicht abgestimmt waren. Dieser Trend, Reformen von oben ganz zum Schluss abzulehnen, führte dazu, dass sich der »Grünberger Bund« gründete, um das Vetorecht effektiver zu nutzen. Anders gesagt, die Entstehung des »Grünberger Bundes« war eine strukturelle Konsequenz des bestehenden »internen Marktes« mit einem einzigen zentralen Kostenträger.
Die privaten Leistungserbringer der POZ haben in diesem Zusammenhang insofern einen doppelten Trumpf, als sie im polnischen Gesundheitssystem sogenannte »gatekeeper« sind. Um zu Fachärzten und Spezialuntersuchungen vorgelassen zu werden, ist eine Überweisung des Hausarztes notwendig. Das bedeutete oftmals, dass, wenn die Regierung von oben den Reformbeginn und die Implementierung neuer Verträge angeordnet hat, es vorerst besser war, nicht krank zu werden – die lokalen Arztpraxen nahmen keine Patienten an und stellten daher auch keine Überweisungen bis zur Beilegung des Streites aus (ein Beispiel wäre 2014/15 das Reformpaket aufgrund der Warteschlangen im Bereich der Onkologie).
In der Zwischenzeit wurde eine Reihe weiterer Reformen umgesetzt. Per Gesetz wurde 2006 ein eigenes Subsystem des Staatlichen Medizinischen Rettungswesens eingeführt. Seitdem wird der Rettungsdienst aus dem öffentlichen Haushalt durch Vermittlung des jeweiligen Woiwoden finanziert. Die Schlüsselrolle der Woiwodschaftsniederlassungen des NFZ wurde hier jedoch aufrechterhalten. Darauf spezialisiert, befassten sie sich mit den Vertragsverhandlungen und -abschlüssen für die Rettungsambulanzen der Krankenhäuser und das Rettungspersonal (Ausnahme: die fliegenden Einheiten der Rettungsdienste, mit ihnen schließt der Gesundheitsminister direkt Verträge).
Eine andere wichtige Reform betraf die bessere Planung im Gesundheitswesen: Die Aushandlung der Gesundheitsleistungen nicht nach dem Prinzip, wo sind welche Ressourcen, sondern mehr nach dem Grundsatz, wo bestehen welche gesundheitlichen Bedarfe. Gerade mit Blick auf das Problem der generellen Ineffektivität der Zuordnung von Ressourcen für Gesundheitsleistungen und Investitionen (zum Beispiel teure Geräte und Ausbau von Abteilungen) wurde in Polen Folgendes eingeführt:
2015 die Erarbeitung regionaler Landkarten sowie einer Polenkarte, auf denen die gesundheitlichen Bedarfe und die Prioritäten für die regionalen Gesundheitspolitiken verzeichnet sind;2018 das sogenannte Instrument zur Bewertung von Investitionsanträgen im Gesundheitssektor (Instrument Oceny Wniosków Inwestycyjnych w Sektorze Zdrowia – IOWISZ). Es geht darum, dass in einem ersten Schritt untersucht wird, was für Probleme wo im Gesundheitssystem vorliegen und was in welcher Region notwendig oder prioritär ist. In einem zweiten Schritt soll in die jeweiligen Gesundheitseinrichtungen investiert und sollen die Gesundheitsleistungen so ausgehandelt werden, dass sie die lokalen Bedarfe adäquat bedienen und effektiv mit der Verteilung der begrenzten Ressourcen des Systems umgegangen wird.
Alle diese Reformen liefen natürlich nicht von Anfang an reibungslos und erzielten nicht sofort die angestrebten Ergebnisse. Bei der Zuordnung der Ressourcen spielen nach wie vor nicht die tatsächlichen gesundheitlichen Bedarfe eine starke Rolle, sondern die zur Verfügung stehenden Kräfte. Festzustellen ist aber auch, dass die Mehrheit der Reformen schrittweise zu einer systematischen Erweiterung des Personenkreises führten, der einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung hat. Gegen die Logik des traditionellen Bismarck-Modells wendet sich Polen schrittweise von der engen Verbindung zwischen Krankenversicherung und Anspruch auf Gesundheitsleistungen ab. Diese Entwicklung setzte bereits vor 2015 ein, zusammen mit der Einführung der Elektronischen Überprüfung der Berechtigung des Leistungsempfängers (Elektroniczna Weryfikacja Uprawnień Świadczeniobiorców – eWUŚ). Noch vor wenigen Jahren musste man einen Krankenversicherungsausweis bei sich haben, um sich in einer Arztpraxis registrieren zu lassen. Das war gewöhnlich ein Ausdruck der monatlichen Bescheinigung der Sozialversicherungsanstalt, an die die Krankenversicherungsbeiträge abgeführt werden. Mit Einführung der eWUŚ wurde aber sogar der, der nicht berechtigt war, zu Leistungen zugelassen. Generell läuft die Entwicklung dahin, dass auf die Versicherungspflicht, zumindest in den Hausarztpraxen, verzichtet wird. Patienten hier auszuschließen, wird eher als Verletzung von Artikel 68 der Verfassung betrachtet.
Andere wichtige Entwicklungen sind die Zentralisierung von Gesundheitsleistungen in einigen Bereichen, so auch im Zusammenhang mit der Schaffung von miteinander kooperierenden Krankenhausnetzwerken, mit dem Ziel Wartezeiten zu verringern und die Ressourcen besser einzusetzen. Von großem Wert sind Reformen in Richtung einer koordinierten Betreuung des Patienten, um die »Wanderschaft durch das Gesundheitssystem« zu optimieren und die therapeutischen Behandlungen in Gang zu halten, insbesondere wenn sie die Zusammenarbeit vieler Leistungserbringer erfordern. Vielen der genannten Reformen gehen Pilotprojekte in den Regionen voraus, die ermöglichen, rechtzeitig Fehler und organisatorische Nachteile festzustellen und sie aufzuheben, bevor die Reform landesweit eingeführt wird.
Die hier vorgestellten Gesundheitsreformen sind nur einige der wesentlichen Reformprozesse, die sich im polnischen Gesundheitswesen abspielen. In den letzten Jahren fanden außerdem wesentliche und absolut notwendige und seit langem ausstehende Reformen im Bereich e-Gesundheit statt (elektronische Rezepte und Überweisungen). Deren Einführung kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie erleichterte das Funktionieren des polnischen Gesundheitssystems erheblich.
Neben diesen Reformen lassen sich des Weiteren diejenigen nennen, die
entweder abgelehnt wurden (zum Beispiel die Bestrebungen, die öffentlichen Krankenhäuser zu kommerzialisieren);oder die aufgegeben wurden, etwa aufgrund ihrer Kompliziertheit oder ihres zweifelhaften Sinns (zum Beispiel die Ankündigung, einen Nationalen Gesundheitsdienst (Narodowa Służba Zdrowia) zu schaffen, der aber vor allem darauf beruht hätte, die Aufgaben des NFZ in den Kompetenzbereich der Woiwoden zu verschieben);oder die erst gar nicht angegangen wurden (wie der Plan, eine private Konkurrenz zum NFZ einzuführen).
Herausforderungen
Die im polnischen Gesundheitssystem bereits umgesetzten Reformtrends sind leicht erkennbar: Bestrebungen in Richtung eines größeren allgemeinen Zugangs zu den Gesundheitsleistungen, mehr Koordination durch Zentralisierung und Integration bestimmter Prozesse.
Darüber hinaus ist festzustellen, dass seit Jahren bestimmte fundamentale Grundsätze im polnischen Gesundheitswesen korrigiert werden, die bereits 1999 eingeführt wurden. Diese Grundsätze erwuchsen aus der in den 1990er Jahren favorisierten Dezentralisierung, Einführung des Wettbewerbs und anderer Maßnahmen im Geiste der sogenannten Neuen Öffentlichen Verwaltung. Zurzeit sind wir damit beschäftigt, sie zu korrigieren, weil deutlich geworden ist, dass sie mit einer Reihe strukturell-systemischer Nachteile verbunden sind. Die Corona-Pandemie hat diese nur verdeutlicht und die Argumente für die Durchführung wesentlicher Korrekturen gestärkt.
Zu den typischen, chronischen Problemen des polnischen Gesundheitssystems gehören
die sehr niedrigen Ausgaben für den Gesundheitsschutz im Allgemeinen und das Versorgungssystem;die Warteschlangen bei den Gesundheitsleistungen;die Verschuldung der Krankenhäuser;der Personalmangel und die Tatsache, dass das Personal häufig mehrere Beschäftigungsverhältnisse eingeht (nicht zuletzt aus finanziellen Gründen);die mangelhafte Ausstattung mit medizinischen Geräten;die Vernachlässigung der Gesundheitsprophylaxe;wiederkehrende Konflikte im System, was das Funktioniern der medizinischen Einrichtungen beeinträchtigt.
Weiterhin gehören zu den schwerwiegenden strukturellen Problemen, dass die Verantwortlichkeiten aufgesplittert sind, sowie der chronische Mangel an demokratischen Verwaltungsstrukturen. In gewissem Sinne besteht die Ursünde des polnischen Gesundheitsystems darin, dass es sich im Bereich der Verträge zwischen Leistungserbringern und dem Kostenträger auf die Idee der Selbstregulierung des Marktes stützt. Daraus ergab sich eine vollkommen egozentrische Rivalität aller Beteiligten angesichts der beschränkten Ressourcen bei chronischem Mangel an Koordination und konstruktiver Kooperation. Die von mir als »struktureller Egoismus« bezeichnete Situation beruht darauf, dass das System auf Prinzipien gründet, die ein egoistisches Verhalten erzwingen und dies als vernünftig ausgeben.
Viele der angesprochenen Probleme ergeben sich aus den Grundsätzen der Gesundheitsreform des Jahres 1999. Seit dieser Zeit bemüht sich Polen, diese Mängel zu korrigieren und gleichzitig das zu bewahren, was sich als positiv erwies. Wichtig ist die zunehmende Dezentraliserung, die von der zentralen Rolle des Kostenträgers im Bereich der Mittelverteilung begleitet wird. Die starke Dezentralisierung der Leistungserbringer machte Maßnahmen wie die Schaffung von Krankenhausnetzwerken, die Koordination von Investitionen und die Erstellung von Landkarten gesundheitlicher Bedarfe erforderlich. Aktuell kommt das polnische Gesundheitssystem sehr schlecht mit der dritten Welle der Corona-Pandemie zurecht und es steht zu erwarten, dass die Pandemie einen wichtigen Impuls für Reformen und wesentliche Veränderungen in den kommenden Jahren geben wird.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate
Der Autor dankt Dr. Katarzyna Dubas-Jakóbczyk für Hinweise beim Verfassen des Textes.