Die deutsch-polnischen Beziehungen aus ungarischer Sicht

Von Daniel Hegedüs (German Marshall Fund of the United States, Berlin)

Aus Anlass des 30. Jahrestages des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages hat die Redaktion der Polen-Analysen um einen Kommentar zu den deutsch-polnischen Beziehungen aus ungarischer Sicht gebeten.


Die bilateralen Beziehungen anderer Länder genießen selten große Aufmerksamkeit, es sei denn, sie haben eine besondere sicherheitspolitische oder andere strategische Relevanz für den betreffenden Drittstaat. Die ungarische Wahrnehmung des deutsch-polnischen Verhältnisses ist keine Ausnahme von dieser Regel.

In Ermangelung einer strategischen Bedeutung prägten von der Wende bis ungefähr 2014/15 vor allem die historische Wahrnehmung, Erinnerungspolitik und public diplomacy den ungarischen Blick auf das deutsch-polnische Verhältnis. Auf diese ruhigen Zeiten von untergeordneter Bedeutung folgte Anfang 2014 – nach den Majdan-Protesten in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland – eine kurze Phase, in der Budapest an einer gegenüber Russland verständnisvollen deutschen Diplomatie und an Differenzen zwischen den deutschen und polnischen Positionen in der Krise interessiert war. Davon versprach es sich, dass seine zunehmende Isolation aufgrund seiner pro-russischen Haltung abgeschwächt würde.

Doch der Regierungsantritt der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) im Jahr 2015 und ihre strategische Allianz mit der illiberalen ungarischen Regierungspartei Fidesz veränderte die Einstellung Budapests erneut. Die Fidesz-Regierung betrachtet sowohl Deutschland als auch Polen als strategische Partner, die ihre Position in der Europäischen Union sichern und sie vor allem vor potentiellen EU-Sanktionen schützen. Spannungslose deutsch-polnische Beziehungen wurden deshalb als ein primäres Interesse der ungarischen Diplomatie erachtet, um so negative spill-over-Effekte auf die deutsch-ungarische und polnisch-ungarische Zusammenarbeit und potentielle Komplikationen so weit wie möglich vermeiden zu können.

Gleichgültigkeit und Wettbewerb (1989–2014)

Die ersten Jahre unmittelbar nach der demokratischen Wende von 1989/90 wurden in Ostmitteleuropa u. a. von zwei klaren außenpolitischen Dynamiken geprägt. Erstens: Die Bundesrepublik Deutschland wurde wegen ihrer geopolitischen Lage, ihrer Ostpolitik und der damit verbundenen außenpolitischen Interessen in den ehemals staatssozialistischen Ländern und insbesondere wegen ihres Potentials und ihrer Leistungen im Bereich Handel und Auslandsinvestitionen der wichtigste geoökonomische und diplomatische Partner der neuen Demokratien in Ostmitteleuropa. Zweitens: Die Länder der 1991 gegründeten Visegrád-Gruppe (V4) – vor allem Polen und Ungarn, später auch Tschechien – ließen sich untereinander auf einen friedlichen public diplomacy-Wettbewerb ein. Es ging hier unmittelbar um die Position des Vorreiters der Demokratisierung und Transformation, aber indirekt ebenso um Prestige, Aufmerksamkeit und ausländische Direktinvestitionen. Dies bedeutete nicht zuletzt einen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der deutschen Diplomatie und um die Entwicklung der Handelsbeziehungen mit Deutschland.

In diesem Wettbewerb genoss Ungarn kurzfristig strategische Vorteile, die aber längerfristig von den strukturellen Gegebenheiten der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Beziehungen relativiert und überholt wurden. Zunächst standen nach der ungarischen Grenzöffnung im Herbst 1989 und deren Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung die deutsch-ungarischen Beziehungen in den folgenden Jahren auf ihrem Höhepunkt. Hinzu kam, dass anti-deutsche Ressentiments, die aus historischen Gründen in der polnischen oder tschechischen Politik nicht unüblich sind, in Ungarn nicht vorhanden waren und deshalb auch keine Schatten auf die offiziellen Beziehungen und die public diplomacy warfen. Ganz im Gegenteil, die Minderheitenrechte und der Status der Ungarndeutschen wurden nach der Wende schnell verbessert und die deutsche Minderheit wurde offiziell als einer der wichtigen Kanäle der public diplomacy zwischen den beiden Ländern wahrgenommen. Als die ungarische Diplomatie ihren traditionell großen Wert auf den Schutz der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten legte, wurde Deutschland – nach ungarischer Auffassung das andere Opfer der Beneš-Dekrete – als potentieller strategischer Partner auch in diesem Bereich betrachtet. In der Folge bauten die ungarische Politik und Diplomatie enge Beziehungen zu CDU-Kreisen und Vertriebenenorganisationen auf, in der Hoffnung, dass diese Kanäle längerfristig Einfluss auf Entscheidungen in Bonn und Berlin werden ausüben können.

Doch Polen und Ungarn haben nicht nur beide um die Aufmerksamkeit und Anerkennung des Westens – und Deutschlands – gekämpft. Warschau enttäuschte Budapest auch mit seiner Haltung in der Minderheitenfrage, die Prag und Bratislava unterstützte und so die Minderheitenpolitik aus der Zusammenarbeit der V4 praktisch ausschloss.

In den Anfangsjahren, als die deutsch-ungarischen Beziehungen ihren Zenit erlebten, hatte das deutsch-polnische bilaterale Verhältnis für Budapest keine große Bedeutung. Doch längerfristig haben die deutsch-polnischen wie auch die deutsch-tschechischen Beziehungen in puncto Tiefe, Intensität und Bedeutung die deutsch-ungarischen Beziehungen weit überholt, was aus Budapest mit einem gewissen Neid beobachtet wurde. Der Nachbarstatus der beiden Länder, die Größe des polnischen Marktes und die Innovationskraft der tschechischen Wirtschaft waren Faktoren, gegen die Budapest kaum etwas als Gegengewicht ins Spiel bringen konnte. Des Weiteren hat sich Budapest durch die Minderheitenfrage und die Allianz mit den Vertriebenenorganisationen mit den Kräften der Vergangenheit in der deutschen Politik und nicht mit den Kräften der Zukunft verbündet, was ebenfalls zu einer voranschreitenden Marginalisierung und Unverständnis führte.

Während nach der EU-Erweiterungsrunde im Jahr 2004 die deutsch-ungarischen Beziehungen mit fehlenden Inhalten kämpften, entwickelte sich die strategische Relevanz der deutsch-polnischen Beziehungen ständig, was vor allem durch die Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck deutlich wurde. Zusammen mit der Tatsache, dass die Beziehungen zwischen den V4 und Deutschland ohne einen etablierten politischen Rahmen blieben, haben diese Entwicklungen maßgeblich zu dem Eindruck der ungarischen Diplomatie beigetragen, dass aus Berliner Perspektive die Bedeutung der deutsch-ungarischen Beziehungen hinter der deutsch-tschechischen und deutsch-polnischen Partnerschaft zurückbleibt.

Die Krimkrise und der Tiefpunkt der polnisch-ungarischen Beziehungen

Nach der langen Periode des weichen Wettbewerbs um Deutschlands Aufmerksamkeit und des strategischen Desinteresses am deutsch-polnischen Verhältnis setzte in der ungarischen Wahrnehmung Anfang 2014 ein signifikanter Wandel ein. Nach der russischen Intervention in der Ukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim erfuhren die polnisch-ungarischen Beziehungen eine Abkühlung, da die eher pro-russische Regierung in Budapest Warschaus Bedrohungswahrnehmung nicht teilte, eine gemeinsame Positionierung der V4-Länder in der Krise unmöglich machte und sich sowohl auf EU- als auch auf NATO-Ebene als russlandfreundlicher Akteur profilierte. In dieser Zeit bis September 2015 war es essentiell für die ungarische Regierung, dass Deutschland seine moderate pro-russische Haltung weiterhin beibehielt und Polens Einfluss auf die Reaktionen der NATO und der EU sowie auf die Krisendiplomatie begrenzt blieb. Die Hauptmotivation der ungarischen Regierung war, sowohl eine zunehmende Isolation in der EU wegen ihrer pro-russischen Haltung als auch die negativen Rückwirkungen der potentiellen harten Maßnahmen der NATO und der EU auf die russisch-ungarische Beziehungen zu vermeiden.

Deutsch-polnische Harmonie als strategisches Interesse Ungarns

Der Wahlerfolg von Jarosław Kaczyńskis PiS im September 2015 und die Regierungsbildung führten zu einer Kehrtwende in der Budapester Wahrnehmung der deutsch-polnischen Beziehungen. Ministerpräsident Viktor Orbán und der PiS-Vorsitzende Kaczyński, der seit langer Zeit das Projekt »Budapest an der Weichsel« verfolgte, konnten die Unterschiede in ihrer Russlandpolitik zur Seite legen und verbündeten sich in einer strategischen Allianz illiberaler Akteure.

Für die ungarische Regierung entwickelten sich die deutsch-ungarischen und polnisch-ungarischen Verhältnisse zu den wichtigsten bilateralen Beziehungen des Landes. Die wertebasierte, illiberale Allianz mit Polen garantierte, dass Artikel 7 des EU-Vertrages nie richtig angewendet wurde und die EU unfähig bleibt, die Autokratisierung in beiden Ländern politisch zu sanktionieren. Doch neben dieser letzten Verteidigungslinie gewährleistete die deutsch-ungarische Partnerschaft auch eine subtile Absicherung ungarischer Interessen in der EU. Um die hohe Profitabilität des Wirtschaftsstandorts Ungarn für die deutsche Autoindustrie nicht zu gefährden und ungewöhnliche und unbequeme politische Konflikte mit einem ostmitteleuropäischen Partner zu vermeiden, drückte die Bundesrepublik Deutschland angesichts der Autokratisierung Ungarns gern beide Augen zu. Im Ergebnis hielten die deutsche Diplomatie und Politik die Europäische Kommission von einer härteren Vorgehensweise gegenüber Ungarn ab, schmiedeten Kompromisse im Europäischen Rat, welche die ungarische Regierung begünstigten, und trugen maßgeblich dazu bei, dass Fidesz bis 2021 Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) bleiben konnte.

In diesem Zusammenhang entwickelte Budapest auch die Haltung, dass potentielle Konflikte in den deutsch-polnischen Beziehungen unerwünschte negative Auswirkungen auf Ungarns bilaterale Beziehungen mit diesen Ländern haben könnten. Dementsprechend positionierte sich die ungarische Diplomatie sehr subtil und zurückhaltend in Fragen mit entsprechendem Konfliktpotential, um weder Berlin noch Warschau zu irritieren. Bei Warschaus Reparationsforderungen gegenüber Deutschland blieb Ungarn weitgehend still. In Sachen Nord Stream 2 positioniert sich die ungarische Regierung – auch wegen ihrer eigenen Verbindungen zu Russland – näher zur deutschen Seite. Die ungarische Regierung hob wiederholt hervor, wie Nord Stream 2 zur Versorgungssicherheit in Ostmitteleuropa beitragen kann, doch immer mit der Betonung, dass Budapest den Kern der polnischen Kritik am Gaspipeline-Projekt versteht.

Potentielle Machtwechsel sowohl in Deutschland als auch in Polen und der Regierungsantritt von Parteien, die härter gegen Autokratisierungstendenzen in der EU vorgehen wollen, können auch zu einem baldigen Ende der aktuellen ungarischen Wahrnehmung der deutsch-polnischen Beziehungen führen. Doch solange das Orbán-Regime und seine autoritären Strukturen in Ungarn herrschen, wird die ungarische Außenpolitik die Beziehungen zwischen den beiden zurzeit wichtigsten Verbündeten Ungarns – Deutschland und Polen – immer durch die Linse der Regimestabilität und potentieller europäischer Sanktionsmechanismen betrachten.

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Analyse

Von der Grenze der Versöhnung zur Grenze als Ressource. 30 Jahre deutsch-polnische grenzüberschreitende Zusammenarbeit – Versuch einer Bilanz

Von Elżbieta Opiłowska
Die im Jahr 1945 auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens festgelegte deutsch-polnische Grenze trennte mehrere Jahrzehnte lang die im Grenzgebiet lebenden Deutschen und Polen. Obgleich in der Zeit des Kommunismus grenzübergreifende Kontakte zwischen den lokalen Behörden, den Betrieben, Schulen und anderen Institutionen entwickelt wurden, trug diese Phase nur wenig zur deutsch-polnischen Versöhnung bei und wurde von der kommunistischen Propaganda von sozialistischer Völkerfreundschaft und Frieden dominiert. Erst der Zusammenbruch des kommunistischen Systems, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrages sowie des Nachbarschaftsvertrages schufen eine solide Grundlage für den Aufbau grenzüberschreitender Beziehungen. Das Ziel dieser Analyse ist es, die Entwicklung der grenznahen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen in den letzten 30 Jahren nachzuzeichnen sowie den Einfluss dreier Kategorien zu untersuchen – des historischen Erbes, der Asymmetrie und der Interdependenz. Der Text stützt sich auf die Analyse von Experteninterviews, deutsche und polnische Dokumente sowie Literatur zum Thema. (…)
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