Die vollzogene Transformation. Polen nach dem Zusammenbruch der UdSSR vor 30 Jahren

Von Agnieszka Legucka (Polnisches Institut für Internationale Angelegenheiten, Warschau)

Zusammenfassung
In Polen beschränkt sich die Beurteilung des Zerfalls der Sowjetunion vor 30 Jahren nicht auf das Geschehen Ende des Jahres 1991, als die UdSSR aufhörte, als Subjekt des internationalen Rechtes zu existieren. Es lassen sich mindestens zwei Arten unterscheiden, wie der Zusammenbruch eingeordnet wird: erstens als Zusammenbruch des Kommunismus und zweitens mit Blick auf die innenpolitischen Folgen für Polen (Änderung des politischen und wirtschaftlichen Systems, Veränderungen im kulturellen Bereich) sowie für die Außenpolitik (eine neue Öffnung als vollständig souveräner Staat). Während der Zusammenbruch der Sowjetunion und seine Folgen in ersterem Fall positiv bewertet werden, wurden die Systemveränderungen in Polen in den letzten Jahren kontrovers diskutiert.

Die Beurteilung des Zusammenbruchs der Sowjetunion

Die Polen betrachten den Zusammenbruch des Kommunismus, der symbolisch mit der Auflösung der UdSSR endete, teilweise als ihren eigenen Erfolg und bewerten ihn eindeutig positiv. Sie identifizieren sich mit der Aussage des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera, dass wir »ein vom Osten entführter Teil des Westens« gewesen sind. Die polnische Gesellschaft ist überzeugt, dass die Polen eine große Rolle beim Zerfall des sowjetischen Systems gespielt haben. Gedacht wird hier an die Massenproteste der polnischen Bevölkerung, die oppositionellen Aktivitäten der Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarność (NSZZ Solidarność) oder den polnischen Papst Johannes Paul II., der die Überzeugung vertrat, dass Europa »mit beiden Lungenflügeln«, dem östlichen und dem westlichen, atmen müsse, um vollständig Europa zu sein. Die Polen sind davon überzeugt, dass die Verhängung des Kriegsrechts im Jahr 1981 und schließlich die friedliche Transformation, vorbereitet durch die Verhandlungen am Runden Tisch im Jahr 1989, Teil eines »Dominos« waren, das mit den sog. Vereinbarungen von Minsk und der Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 endete. Die Polen erkannten, dass die ungerechte Teilung Europas in einen sowjetischen und einen westlichen Block aufgehoben wurde und die Auflösung der 1945 in Potsdam und Jalta vereinbarten geopolitischen Ordnung neue Möglichkeiten für Polen eröffnete, das nun unabhängig von Moskau und vollständig souverän Entscheidungen im Namen seiner Bürger treffen konnte. Im Bewusstsein der Polen handelt es sich um einen Wendepunkt in der neuesten Geschichte ihres Landes, auf den sie stolz sein können: Im Rahmen des Projektes »Unabhängiges [Polen«, d.Übers.] im Jahr 2016 nannten die Befragten die Systemtransformation, die mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems assoziiert wird, an zweiter Stelle derjenigen Ereignisse in der Geschichte des polnischen Staates, die die Polen am meisten mit Stolz erfüllen.

Folgen für die Innenpolitik

Der Zerfall der UdSSR beschleunigte innere Prozesse in Polen, die zu politischen Systemveränderungen sowie einer wirtschaftlichen und sozialen Transformation führten. Die Einführung des demokratischen Systems fand nicht ohne die für Staaten in Transformationsphasen typischen Probleme statt, das sind die Zersplitterung der Parteienlandschaft und Chaos. Letztlich sind daraus die zwei aktuell stärksten Parteien bzw. Gruppierungen hervorgegangen, und zwar Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) und die Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO), deren Rivalität mit einer deutlichen gesellschaftlichen Polarisierung einhergeht. Die Einsetzung demokratischer Institutionen, die die Freiheit des Wortes, eine transparente Justiz und die Bekämpfung der Korruption garantieren, hatten viele positive Folgen für den Alltag der Polen. Obwohl in der letzten Zeit zunehmend Kritik aufkam, dass die Demokratie eingeschränkt werde, und es Kontroversen um die Rechtsstaatlichkeit in Polen gibt, schlägt keine politische Partei in Polen vor, das politische System zu ändern und von der Demokratie abzurücken. Vermutlich aus diesem Grunde ist Polen immer noch ein »free state«, so die Bewertung der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House. Laut »Democracy Index« sinkt indessen der Grad der polnischen Demokratie (2006: 7,30; 2020: 6,85). Das fügt sich einerseits in den globalen Trend ein, dass sich das Demokratieniveau weltweit verschlechtert, was mit der zunehmenden Attraktivität populistischer Politiker und der Schwächung der Bedeutung der Redefreiheit einhergeht (der »World Press Freedom Index« fiel im Jahr 2021 um drei Punkte im Vergleich zu 2019). Andererseits handelt es sich auch um eine Folge des wachsenden Ungleichgewichtes zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen in Polen und den Zweifeln an der liberalen Demokratie.

Wie lässt sich nun die Unterstützung der Polen für die Transformation erklären? Aus Umfragen, die das staatliche Meinungsforschungsinstitut CBOS (Centrum Badania Opinii Społecznej) im Mai 2019 durchgeführt hat, ergibt sich, dass 81 Prozent der Polen der Ansicht sind, dass es richtig war, das System zu ändern (siehe Grafik 2 auf S. 7). Davon ist die Mehrheit (52 Prozent) eindeutig überzeugt. Vier Prozent meinen, dass es sich nicht gelohnt hat, die Systemtransformation durchzuführen; 15 Prozent konnten es nicht beurteilen. Ähnlich war es schon in den Umfragen 2009 und 2010, als die Akzeptanz für die Systemveränderungen 82 bzw. 83 Prozent betrug. Nach den Daten von CBOS fiel die Zustimmung für die Systemtransformation in Polen nie unter 56 Prozent. Deren Folgen wurden am negativsten Mitte der 1990er Jahre beurteilt, als sich die Gesellschaft mit ökonomischen Problemen infolge einer Arbeitslosenquote auf Rekordniveau und großer Inflation konfrontiert sah, sowie in den Jahren 2001 bis 2003, als der Beitrittsprozess zur Europäischen Union mit wichtigen, aber gesellschaftlich kostspieligen Reformen erkauft wurde. Mit dem EU-Beitritt im Jahr 2004 kam es zu einem Anstieg der positiven Beurteilungen zum Thema Systemtransformation. Diese war nun abgeschlossen und für die Polen ergaben sich neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Im Jahr 2019 sagten 68 Prozent, dass die Veränderungen in Polen nach 1989 den Menschen mehr Vor- als Nachteile gebracht hätten, fünf Prozent waren gegenteiliger Meinung (siehe Grafik 3 auf S. 8). Unter denjenigen, die die Transformation positiv bewerten, sehen sechs Prozent ausschließlich Vorteile; bei denjenigen, die sie negativ beurteilen, nehmen nur 0,3 Prozent ausschließlich Nachteile wahr. Hier ist hervorzuheben, dass sich die von CBOS gestellte Frage »Hat es sich gelohnt, das System zu ändern?« nicht so sehr auf die Transformation als weit gefasstes Phänomen bezog, das die Schaffung neuer Regeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft umfasst sowie den politischen Institutionalisierungsprozess und das Streben nach liberaler Demokratie und Marktwirtschaft meint. Vielmehr zielte die Frage auf die Veränderung des kommunistischen Systems zu einem demokratischen System, ohne auf die sich daraus ergebenden Folgen explizit hinzuweisen. Bestimmte Aspekte der Transformation sowie ihre gesellschaftlichen Implikationen wurden von weiteren Fragen abgedeckt. Allerdings sollte das Bild der positiven Beurteilung über den Zusammenbruch des Kommunismus nicht mit der Bewertung der Systemtransformation in Polen verwechselt werden, denn dieses Bild gestaltet sich sehr viel differenzierter.

Folgen für die Außenpolitik

Mit dem Zerfall der UdSSR erlangte Polen vollständige Unabhängigkeit und Souveränität und konnte beginnen, seine nationalen Interessen auf der internationalen Bühne selbständig zu verfolgen. Die Polen sind sich bewusst, dass es ohne die Schwächung des östlichen Nachbarn nicht zur Loslösung aus der Abhängigkeit von Moskau gekommen wäre und – was damit einhergeht – nicht zum Beitritt zur NATO und EU. Die Veränderung der internationalen Situation, der Zusammenbruch der UdSSR, die Erweiterung der NATO und die Intensivierung der Integration der EU schufen für Polen gute Bedingungen. Die westliche Orientierung in der polnischen Außenpolitik war u. a. auf die Zusammenarbeit mit Deutschland als größtem Wirtschaftspartner und einflussreichstem Staat in der Europäischen Union ausgerichtet. Anfang der 1990er Jahre hatten die Polen Angst vor dem wiedervereinigten Deutschland, aber schon bald wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, einen Partner für den polnischen Weg zur europäischen Integration zu suchen. Sowohl unter dem Einfluss der wirtschaftlichen als auch der gesellschaftlichen Kontakte verbesserte sich über die Jahre das Bild der Deutschen in Polen. Im Jahr 1993 nahmen in einer CBOS-Umfrage 23 Prozent die Deutschen positiv wahr, im Jahr 2019 bereits 43 Prozent. In den letzten Jahren jedoch bewerten die Polen die Beziehungen zu den Deutschen als schlecht. Beeinflusst wird dies von gegensätzlichen Interessen der polnischen und der deutschen Regierung bei den Themen Nord Stream 2, Haltung zur europäischen Integration sowie in Sachen Rechtsstaatlichkeit.

In der Ostpolitik stützt sich die polnische Staatsräson auf drei fundamentale Interessen: Erstens die Achtung und Bewahrung der Souveränität und territorialen Integrität der östlichen Staaten, zweitens die Begrenzung der imperialen Politik Russlands und drittens die Demokratisierung und Europäisierung der östlichen Staaten. Der gemeinsame Nenner dieser Interessen ist, den Erhalt und die Entwicklung des polnischen Staates zu sichern. Gegenüber den Staaten der Östlichen Partnerschaft (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau, Ukraine) war das Hauptziel der polnischen Ostpolitik, die Stabilität, Souveränität und territoriale Integrität dieser Staaten angesichts des wachsenden Drucks und im nächsten Schritt der militärischen Aggression von Seiten Russlands zu unterstützen. Aus diesen Gründen legte die polnische Diplomatie im Rahmen ihrer EU-Mitgliedschaft zunächst den Schwerpunkt auf die Demokratisierung und Europäisierung der Staaten der Östlichen Partnerschaft. Sie war Befürworterin einer Öffnung der EU und zeigte sich überzeugt, dass nur die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft eine wirksame Methode ist, damit sich die Staaten in Richtung europäischer Standards reformieren. Dies sollte vor allem die Ukraine, Moldawien und Georgien in politische und wirtschaftliche Modernisierungsprozesse unter dem Schild der EU einbinden. Gleichzeitig sollte es dazu beitragen, dass die Zone in Europa, in der Stabilität herrscht, erweitert wird, sowie die Sicherheit Polens vergrößern. Da sich bei der EU-Erweiterung nach Osten bisher kein Erfolg abzeichnete und auch die Fortschritte bei den Reformen in den Staaten der Östlichen Partnerschaft nur mäßig sind, hat sich die polnische Diplomatie in den Jahren 2015 bis 2020 vor allem darauf konzentriert, die äußere Sicherheit in Hinblick auf Russland sicherzustellen und die Lage jenseits der polnischen Ostgrenze zu stabilisieren. Eine Priorität wurde die Stärkung der NATO-Ostflanke und die entschiedene Fürsprache für Sanktionen gegenüber Russland. Die Haltung zu Souveränität und territorialer Integrität wird von der Europäischen Union unterstützt. Als Reaktion auf die Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 durch Russland, die von Polen nicht anerkannt wurde und auf die die EU mit Sanktionen gegenüber den verantwortlichen Russen antwortete, verfolgt die EU ähnlich wie Polen die Politik, durch Aggression herbeigeführte Grenzveränderungen in Europa nicht anzuerkennen. Gleichzeitig veranlassten die aggressive Politik Russlands und sein Einsatz von Gewalt in den internationalen Beziehungen die polnische Regierung, den Kleinen Grenzverkehr zur russischen Oblast Kaliningrad im Jahr 2016 zu schließen, obgleich ihm die polnischen lokalen Behörden positiv gegenüber standen, da er ihnen seit dem Jahr 2012 ökonomische Vorteile einbrachte.

Die PiS-Regierung legte größeres Gewicht auf historische Fragen, im Falle der Ukraine insbesondere auf divergierende Bewertungen des Massakers von Wolhynien und der Tätigkeit der Ukrainischen Aufständischen Armee (1943/44) und bezogen auf Russland auf das Gedenken des Verbrechens von Katyn (1940). Polen kritisierte, dass der Oberste Rat der Ukraine im April 2015 das Gesetzespaket zur sog. Entkommunisierung verabschiedet hat, das vom Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken vorbereitet worden war. Eines der Gesetze erkennt die Mitglieder der Ukrainischen Aufständischen Armee als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine an und sieht vor, diejenigen juristisch zur Verantwortung zu ziehen, die die Unabhängigkeitskämpfer öffentlich herabwürdigen oder die Legalität ihrer Tätigkeiten in Frage stellen.

Der Zusammenbruch der UdSSR wurde nicht zur Grundlage für gutnachbarliche Beziehungen zwischen Polen und Russland. Die Polen hörten nicht auf, Russland als Bedrohung wahrzunehmen, was sich 2014 noch verstärkte. Polen machte auf das Ausbaupotential im Westlichen Militärbezirk Russlands und die fortschreitende Militarisierung der Oblast Kaliningrad aufmerksam, wo neue Waffensysteme stationiert werden, u. a. Mittelstreckenraketen, die mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet werden können. Polen erklärte, dass es die russische Vision einer politischen Ordnung in Europa nicht akzeptiert und der Einteilung des Kontinents in Einflusszonen nicht zustimmen wird. Über die Bedrohung von Seiten Russlands als Hauptgefahr für Polen kann man im »Verteidigungskonzept der Republik Polen« vom Mai 2017 lesen. Dort heißt es: »[…] wir sind überzeugt, dass Russland bis zum Jahr 2032 eine aggressive Außenpolitik betreiben […] und die Hauptursache für Instabilität in der Nachbarschaft der NATO-Ostflanke bleiben wird.« Diese Einschätzungen wurden in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« vom Mai 2020 wiederholt, in der unterstrichen wurde, dass »die Russische Föderation auch Aktivitäten unterhalb der Ebene des Krieges (hybride Aktivitäten) unternehmen wird, die das Risiko bergen, dass es zum Ausbruch eines Konfliktes kommt«. Ende 2019 vertrat der russische Präsident Wladimir Putin falsche Thesen über die Beteiligung Polens am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und bezichtigte die Polen der Zusammenarbeit mit Hitler. Dies war ein weiteres Kapitel im Streit über die Geschichte mit Polen. Gründe für dieses Vorgehen Russlands gab es einige: Erstens handelte es sich um eine Reaktion auf die von der polnischen Regierung betriebene Demontage von Denkmälern, der sog. Monumente der Dankbarkeit gegenüber der UdSSR auf polnischem Territorium. Zweitens war es eine Antwort auf die Resolution des Europäischen Parlamentes, das sich auf Antrag Polens im September 2019 über die Bedeutung des europäischen historischen Gedächtnisses abgestimmt und an den Hitler-Stalin-Pakt sowie an die aktuelle Infragestellung des Vertrages zwischen den Nationalsozialisten und den Kommunisten durch die russischen Machthaber erinnert hat.

Folgen für die Wirtschaft

Das Wohlstandsniveau gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf nach Kaufkraftparität ist in Polen heute fast fünf Mal so hoch wie vor 30 Jahren und die reale Kaufkraft des BIP pro Kopf hat sich verdreifacht. Aus dem Blickwinkel der statistischen Daten erwies sich die Transformation in Polen als wirtschaftlicher Erfolg, doch ihre sozialen und politischen Folgen sind vielschichtig. Im Vergleich zu allen anderen Ländern des sowjetischen Blocks entwickelte sich die polnische Wirtschaft nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus am schnellsten. Daher äußern sich die Polen mehrheitlich zufrieden über die wirtschaftliche Situation im Vergleich zur Zeit des Kommunismus. Gleichzeitig kam es mit dem zunehmenden Wohlstand der Polen zur ökonomischen Ausdifferenzierung. Am zufriedensten waren die gut gebildeten Bürger mit den Veränderungen, meistens Einwohner von Großstädten.

Die Reformen zur Überführung der Planwirtschaft in eine freie Marktwirtschaft wurden im Rahmen der sog. Schocktherapie und nach dem Plan des damaligen Finanzministers Leszek Balcerowicz durchgeführt. Die grundsätzlichen Probleme, mit denen sich Polen zu Beginn der Transformation konfrontiert sah, waren die Hyperinflation, das ineffiziente politisch instrumentalisierte Produktionssystem sowie die Dominanz der staatlichen Produktion. Mit Hilfe von Privatisierungen gelang es, die staatlichen Betriebe zu ersetzen. In den Jahren 1990 bis 2004 belief sich der Gesamtwert des in Polen in Form von Direktinvestitionen angelegten ausländischen Kapitals auf 84,5 Mrd. US-Dollar. Nur ein Teil davon war für den Kauf der existierenden Unternehmen bestimmt. Auf dem Höhepunkt erreichte der Anteil des ausländischen Kapitals bei den Einnahmen aus der Privatisierung 82 Prozent; im Jahr 2004 ist er auf neun Prozent gesunken. Der Prozess der Eigentumsumwandlung, der die Kommerzialisierung in Gang setzte, betraf zwischen 1990 und 2004 6.002 staatliche Unternehmen, d. h. 71 Prozent ihres Bestands im Jahr 1990. Eine der sozialen Folgen der Privatisierung war der Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Untersuchungen zeigen, dass die Polen immer noch den Eindruck haben, dass das Lebensniveau in Polen niedriger ist als in den westlichen Ländern. Auch negative Erinnerungen aus den 1990er Jahren werden sich in das Gedächtnis der über 44-Jährigen eingeprägt haben. So zeigten sich die Einwohner kleinerer Städte und Dörfer und die geringer Gebildeten in Umfragen am wenigsten zufrieden. Die Erfahrung der schwierigen Transformationsphase legte sich bei einem Teil der polnischen Gesellschaft auf die politische Stimmung.

Die Kultur 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR

Das erste Jahrzehnt der Transformation war schwierig für die Kulturschaffenden, denn die Regierungen reduzierten die finanziellen Mittel für diesen Bereich. Maßnahmen, die bei der Dezentralisierung und Entpolitisierung der Kultur helfen und diese mit den Erfordernissen des Marktes kompatibel machen sollten, machten es notwendig, Kompetenzen und Pflichten von der Zentralebene auf die regionale und lokale Ebene zu verlagern, so dass den Woiwoden und Stadtpräsidenten Aufgaben im kulturellen Bereich übertragen wurden. Im März 2000 wurde in Warschau das Adam Mickiewicz-Institut eröffnet, das erste staatliche Institut, das die polnische Kultur im Ausland verbreitet und fördert. Die entscheidende positive Rolle für die öffentlichen Kulturinstitutionen spielte jedoch die Europäische Union. Mit Hilfe finanzstarker Strukturfonds konnten viele Renovierungen durchgeführt und neue Objekte gebaut werden. So entstanden das Museum des Zweiten Weltkrieges (Muzeum II Wojny Światowej) in Danzig (Gdańsk), das Nationale Musikforum (Narodowe Forum Muzyki) in Breslau (Wrocław), das Museum für Zeitgenössische Kunst (Muzeum Sztuki Współczesnej) in Krakau (Kraków), das Zentrum für Begegnungen der Kulturen (Centrum Spotkania Kultur) in Lublin oder die Stettiner Philharmonie (Filharmonia Szczecińska). Zusätzlich wurde das kulturelle Leben mehrerer Städte durch die Bewerbung für die Europäische Kulturhauptstadt angefacht. In der Überzeugung, dass die Kultur für den Aufbau der nationalen Identität von großer Bedeutung ist, hat die PiS-Regierung die Aufwendungen für den kulturellen Bereich um 34 Prozent erhöht. Trotz einer gewissen Kommerzialisierung überwiegt auch nach 30 Jahren die öffentliche Finanzierung der Kultur durch den Staatshaushalt und die Selbstverwaltungsbehörden die privaten Mittel. Im Jahr 2019 betrugen die öffentlichen Ausgaben für die Kultur 0,5 Prozent des BIP. Gleichzeitig nimmt die Bedeutung zusätzlicher öffentlicher Finanzierungsmittel zu, beispielsweise Gelder der Europäischen Union, Einnahmen der staatlichen Lotterie o. ä.

Systemtransformation – die aktuelle Debatte

In Polen findet in den letzten Jahren eine Diskussion über die Bewertung der Systemtransformation statt. Obgleich die deutliche Mehrheit der Polen eine positive Bilanz über die Veränderungen zog, kamen nach der Wirtschaftskrise 2008/09 Stimmen auf, dass Polen die Zeit nach dem Zusammenbruch der UdSSR nicht angemessen genutzt habe. Seit 2013 ließ sich eine zunehmende Kritik am Systemwechsel feststellen. 2013 überwog die Auffassung (59 Prozent), dass man mehr hätte erreichen können und dass die Chance, die die Systemveränderungen geboten haben, nicht ausreichend genutzt wurde. Im politischen Diskurs traten zwei einander entgegen gesetzte Narrationen über die Ereignisse auf. Die eine lautete, dass der Runde Tisch der Sieg der demokratischen Kräfte (der Solidarność und Lech Wałęsas) über die Kommunisten und die Transformation ein politischer und wirtschaftlicher Erfolg war und zur Erlangung des wichtigsten Ziels geführt hat, nämlich Polen in den euroatlantischen Strukturen (EU und NATO) zu verwurzeln. In der Gegennarration überwiegen die kritischen Meinungen zur Transformation. Manche Politiker – vor allem aus der PiS – meinen, dass die Verhandlungen am Runden Tisch das Ergebnis eines Kompromisses zwischen einem Teil der Solidarność-Angehörigen und den Kommunisten waren, wofür die fehlende »Durchleuchtung« der kommunistischen Vergangenheit (die sog. Lustration) sowie die fehlende Abrechnung mit der Vergangenheit sprächen. Lech Wałęsa wurde der Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Geheimdienst der Volksrepublik angeklagt und die demokratischen Kräfte übergaben die Regierungsverantwortung den Postkommunisten, als die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy DemokratycznejSLD) die Parlamentswahlen 1997 gewonnen hatte, weil es so am Runden Tisch verabredet worden sei. In den Äußerungen der Politiker überwogen kritische Meinungen zum Verlauf der Transformation, insbesondere zu ihren Kosten (im Allgemeinen bezieht sich das den Balcerowicz-Plan), sowie zu den Haupakteuren (Streit um Lech Wałęsa). Obgleich diese Narration nur geringfügig die Einstellungen der öffentlichen Meinung beeinflusst, je nach individueller Situation und den Transformationserfahrungen desjenigen, der sich in Umfragen dazu äußert, kann sie in der Zukunft die dominierende Erzählung werden.

Schlussfolgerungen

Der Zusammenbruch der UdSSR wird in Polen eindeutig positiv beurteilt. Die Systemtransformation ist eine der wichtigsten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die sich in das kollektive Gedächtnis der Polen eingeschrieben haben. Sie wird von den Polen aber vor allem als Zerfall des Kommunismus verstanden. Die Polen betrachten den Moment als Wendepunkt für die innenpolitische und außenpolitische Lage des Staates, als Beginn der Demokratisierung des öffentlichen Lebens, Beendigung der Korruption, Entwicklung der Zivilgesellschaft, Eintritt des polnischen Staates in die Strukturen internationaler Organisationen wie der NATO und der Europäischen Union. All dies hat den Alltag der Polen positiv beeinflusst. Dass es richtig war, die Transformation zu vollziehen, ruft in der polnischen Gesellschaft aktuell keinen Widerspruch hervor. Die deutliche Mehrheit der Polen steht den Veränderungen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre positiv gegenüber. Indessen fängt es an, dass in Polen die Folgen der Transformation unterschiedlich interpretiert werden. Die Systemveränderungen und deren Bewertungen spalten die Polen. Die oben angeführten Untersuchungen zeigen, dass diese Prozesse gegensätzliche Meinungen in der polnischen Gesellschaft hervorrufen sowie Gegenstand des Streites im öffentlichen Diskurs über die Transformation sind. Dies trägt zur wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung und zum Wettbewerb der Narrationen bei, ob Polen die letzten 30 Jahre der Transformation genutzt hat bzw. ungenutzt ließ.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Lesetipps / Bibliographie

  • Stanisław Gomułka, Poland’s economic and social transformation 1989–2014 and contemporary challenges, Central Bank Review, Volume 16, Issue 1, March 2016, p. 19–23.
  • Bartosz Rydliński, Economic Crisis as a Factor of the Neoliberal Policy in Poland, Prakseologia nr 159/2017, p. 39–62.

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