Einführung
Als ich mich an diesen Artikel setzte, begann gerade die zweite Szene des neuesten Aktes im polnischen Justizdrama. In der ersten Szene des Aktes, am 7. Oktober 2021, hatte das Verfassungstribunal (Trybunał Konstytucyjny – TK) unter der Ersten Präsidentin Julia Przyłębska – das heißt die Attrappe eines echten, rechtsstaatlichen Verfassungsgerichtes – ein neues Urteil gesprochen. Das »Gericht des letzten Wortes« stellte fest, dass das EU-Recht im Widerspruch zur polnischen Verfassung steht, auch wenn eine Kollision zurzeit nicht stattfindet. Es stellte weiter fest, dass die polnischen Gesetze über den europäischen Verträgen stehen, obwohl die Verfassung der Republik Polen deutlich den Vorrang internationaler Verträge benennt, sollten sie sich im Konflikt mit den Gesetzesvorschriften befinden. Das Verfassungstribunal spricht sich außerdem das Recht zu, die Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg zu kontrollieren, auch wenn dies im Widerspruch nicht nur zu den EU-Verträgen, sondern auch zur polnischen Verfassung steht. Es kündigte Maßnahmen von Amts wegen an, um die Urteile des EuGH zu kontrollieren und sie aus dem Rechtsverkehr zu ziehen, obgleich es nur auf Antrag tätig werden kann und »die Urteile des EuGH aus dem Rechtsverkehr zu ziehen« – was immer das bedeuten mag – nicht in seinem Kompetenzbereich liegt. Kurz gesagt, es hat ein Urteil nicht auf der Basis des geltenden Rechtes, sondern auf Grundlage parteipolitischer und politischer Normen gesprochen. Zum Trost wies es darauf hin, dass solcherart Urteile vorher bereits in anderen Ländern gefällt wurden (u. a. in Deutschland und Frankreich) und dass bestimmte EU-Mitgliedsländer und ihre Verfassungsgerichte die Auffassung Polens teilen – was allerdings nicht wahr ist. Das Verfassungstribunal scheint in hervorragender Form zu sein, denn der Bruch der Verfassung, des EU-Rechtes und der internationalen Verpflichtungen gelingt ihm ohne Mühe.
Wie reagierte die polnische Gesellschaft darauf? Diese Antwort nun ist ernsthaft gemeint, denn schließlich berührt das Urteil des Verfassungstribunals auch eines der wichtigsten Persönlichkeitsrechte, das Recht auf ein faires, transparentes Gerichtsverfahren ohne unbegründete Verzögerungen. Der Hintergrund des ganzen Konfliktes ist, dass in den polnischen Gerichten Personen eingesetzt sind, welche die für Richter geltenden formalen Anforderungen nicht erfüllen. Auf dieses usurpatorisch-rechtlose Vorgehen des Verfassungstribunals reagierte die polnische Zivilgesellschaft am 10. Oktober 2021 mit Demonstrationen in den großen Städten. Die größte Demonstration mit 80.000 bis 100.000 Teilnehmern fand in Warschau statt. Sie protestierten gegen das Urteil des Verfassungstribunals und die Zerstörung der Judikative, gegen die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte sowie gegen den Prozess, Polen aus der Europäischen Union hinauszuführen. Die Demonstrationsteilnehmer unterstrichen mit skandierten, gesungenen oder geschriebenen Slogans, dass das zivilgesellschaftliche Polen nicht aus der EU austreten will und sich nicht mit dem Bruch der Verfassung und internationaler Verträge, darunter auch der europäischen Verträge, einverstanden erklärt. Die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union erkannten sie als wichtigstes internationales Bündnis mit Schlüsselbedeutung an. Polen ist und bleibt Teil der EU, es ist (weitestgehend) geistig in der Kultur und dem politischen Denken des Westens verwurzelt.
Die zweite Szene des aktuellen Justizdrama-Aktes begann am 27. Oktober 2021. An diesem Tag belegte der Gerichtshof der Europäischen Union Polen mit einer Strafe in Höhe von einer Million Euro täglich, weil es die Disziplinarkammer (Izba Dyscyplinarna) am Obersten Gericht (Sąd Najwyższy) nicht ausgesetzt hat. Entgegen ihrer Bezeichnung dient die Kammer, die die Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) einberufen hat, nicht der Disziplinierung, sondern der Einschüchterung von Richtern. Die Verpflichtung, sie aufzuheben, hatte der EuGH Polen bereits im Juli angetragen. Nur einen Tag nach der einstweiligen Verfügung verkündete der Gerichtshof, dass die Disziplinarkammer nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Das bedeutete nicht nur, dass ihre Tätigkeit ausgesetzt, sondern dass sie aufgelöst werden muss, des Weiteren dass eine neue Gesetzgebung notwendig ist, um ein neues, rechtsstaatliches Organ zu schaffen. Leider hat Polen nicht nur nichts unternommen, sondern hat die Disziplinarkammer auch ostentativ ihre Tätigkeit fortgesetzt. Zu der genannten Strafe von einer Million Euro kommen außerdem 500.000 Euro Zwangsgeld täglich, weil die Tätigkeit des Bergwerkes Turów (Südwestpolen) nicht ausgesetzt wurde, was Tschechien beantragt hatte. 1,5 Millionen Euro Strafe pro Tag ist eine Summe, die sich der durchschnittliche Pole nicht vorstellen kann und die zeigt, dass die Geduld der EU fast am Ende ist. Gleichzeitig ist sich ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft in Polen bewusst, dass die Zwangsgelder nicht unvermittelt verhängt wurden, sondern dass ihnen Berichte, Stellungnahmen, Appelle und Gutachten der EU vorangingen und die EU von ihren Mitgliedsstaaten unterstützt wurde und wird. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika unter ihrem Präsidenten Joe Biden signalisieren deutlich, dass sie die neue Qualität der polnischen Politik nicht gutheißen, die ein Abdriften vom demokratischen Pfad bedeutet. Aber reicht das, um die gegenwärtige Entwicklung zu bremsen und wie konnte es überhaupt dazu kommen? Auf die erste Frage gibt es zurzeit keine Antwort. Auf die zweite versuche ich zu antworten, indem ich die wichtigsten Etappen des Konfliktes nachzeichne.
Die Anfänge
Der Sieg der PiS bei den Wahlen im Jahr 2015 (Präsident und Parlament) wurde von einem beträchtlichen Teil der polnischen Gesellschaft begeistert aufgenommen. Nicht nur die Kernwählerschaft der PiS freute sich, sondern auch ein großer Teil der Gesellschaft, der vorher für die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) oder eine andere Partei gestimmt hatte, hatte sich nun umentschieden. Eine weitere Unterstützergruppe waren die Wechselwähler; diese Gruppe ist in Polen größer als in den westlichen Ländern. Die PiS zog die Wähler mit ihrer energiegeladenen Rhetorik an, mit dem Versprechen, sich in der Außenpolitik und in europäischen Fragen »von den Knien zu erheben«, und mit der Zusage von Sozialtransfers in einem Ausmaß, das es in Polen bisher noch nicht gegeben hatte. Letztere hat das Herz vieler Wähler geöffnet. Zweifel, ob Polen wirtschaftlich in der Lage ist, das Kindergeld-Vorzeigeprojekt »500+« ab dem zweiten Kind zu schultern, zerstreute die damalige Ministerpräsidentin Beata Szydło mit der Beteuerung, dass der Wirtschaftsplan der PiS hervorragend sei, und bekräftigte dies mit der Feststellung, »es reicht aus, nicht zu klauen«, womit sie suggerierte, dass Diebstahl eine Spezialität der PO-Vorgängerregierung war. Der Wahlkampfslogan der PiS »Polen im Ruin« wurde sehr populär, auch wenn nicht einmal die überzeugten PiS-Anhänger diesen Ruin so richtig erkennen konnten. Die Europäische Union wurde als »Brüsseler« Bürokratie dargestellt, das heißt weit weg, fremd und im Grunde ein entbehrliches Gebilde. Anti-EU-Auftritte wurden als Ausdruck des Patriotismus behandelt. Diese fragwürdige Botschaft wurde mit Erzählungen über die vermeintliche moralische Zersetzung des Westens und die Überlegenheit des polnischen Katholizismus gewürzt; dieser sei jedwedem anderen Katholizismus sowie anderen Bekenntnissen überlegen. Dass die polnische katholische Kirche Papst Franziskus gegenüber taub war und immer noch ist, ebenso wie gegenüber den Problemen der Gegenwart und dem Thema Pädophilie und sexuelle Belästigung, und dass sie stattdessen mehr damit beschäftigt war (und immer noch ist), irdische Güter anzuhäufen und Politik zu betreiben, blieb eine kleine Nuance.
Allerdings waren aufmerksame Beobachter bereits von den ersten Taten der PiS nach ihrer Machtübernahme beunruhigt. Der neue, der PiS zugehörige Präsident Andrzej Duda sprach im Verlauf eines Korruptionsprozesses vier Angeklagte frei und überantwortete ihnen gleich nach dem umstrittenen Freispruch hohe und höchste Ämter in Ministerien – u. a. das des Ministers und Vizeministers für die Geheimdienste. Schockierend ist nicht allein die Tatsache, dass sie Ämter in so sensiblen Bereichen staatlichen Handelns übertragen bekamen, sondern auch, dass der Präsident sie gemäß dem in Polen geltenden Recht nicht begnadigen durfte. Der Grund: Nachdem das Gericht erster Instanz sie in seinem Urteil der Korruption für schuldig befunden hatte, legten sie beim Gericht zweiter Instanz Berufung ein. Sie waren im juristischen Sinne immer noch unschuldig, denn das Urteil der ersten Instanz war noch nicht rechtskräftig. Die Begnadigung formal unschuldiger Personen rief einen Schock hervor, den die Worte Dudas, er habe beschlossen, dem Gericht »auszuhelfen«, noch verstärkten. Dass das Gericht in Warschau den Prozess nicht fortsetzte, trotz des offenkundigen Mangels an Legalität und Gültigkeit dieser Begnadigungen, war ein erstes Symptom dafür, dass die Normen des allgemein geltenden Rechtes vor dem Willen der Exekutive zurückwichen. Der Freispruch von »Unschuldigen« war nur dank eines Verfassungsbruchs möglich. Das war der erste Vorbote der aufziehenden Veränderungen und ein Anzeichen des Wankelmutes mancher Richter.
Der nächste Schritt war, dass der Präsident drei legal gewählte Richter des Verfassungstribunals – sie waren noch vom Sejm der vorangegangenen Wahlperiode mit den Stimmen der PO gewählt worden – nicht vereidigte. An ihre Stelle berief Duda drei mit den Stimmen der PiS neu gewählte Richter, unter anderem Mariusz Muszyński, einen ehemaligen Botschaftsangehörigen, der als persona non grata aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden war. Trotz Muszyńskis beruflicher Qualifikation als habilitierter Rechtswissenschaftler waren hier zwei Fakten von Bedeutung. Erstens erlaubte seine Vergangenheit nicht, ihn als untadeligen Charakter zu bezeichnen, was jedoch eine Anforderung an die Ausübung des Richteramtes ist, und zweitens wurde er auf einen Posten berufen, der bereits besetzt war. Das hinderte den Präsidenten allerdings nicht daran, ihn zu vereidigen. Drei solche »Richter-Double« gehören zurzeit dem Verfassungstribunal an. Die Folge ist die formelle Ungültigkeit der Urteile, wenn sich mindestens ein »Double« unter den urteilsprechenden Richtern befindet. Außer dem offenkundigen Glaubwürdigkeitsverlust, was das rechtsstaatliche Handeln des Verfassungstribunals betrifft, gibt es weitere Konsequenzen. Erstens kam es zu einem drastischen Rückgang der Rechtsfälle, die an das Verfassungstribunal gerichtet wurden; zudem werden sie immer langsamer bearbeitet. Zweitens kam es dazu, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einem polnischen Staatsbürger Recht gab und ihm eine Entschädigung zuerkannte, weil dieser angezeigt hatte, dass seine Verfassungsklage von einem nicht rechtmäßig besetzten Richterkollegium geprüft worden war, da ihm ein »Richter-Double« angehörte.
Zusammengefasst: Bereits in der ersten Phase der PiS-Regierung wuchs das rechtliche Chaos und wurden nicht nur fundamentale Grundsätze wie das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates, das Prinzip des Handelns von staatlichen Organen auf der Grundlage und in den Grenzen des Rechtes, das Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter und das Prinzip der Achtung der Rechte und der Freiheiten des Menschen gebrochen, sondern auch das grundlegende Prinzip des Vertrauens des Bürgers in die staatlichen Gewalten. Das Letztgenannte, das auf der Rechtsprechung des Verfassungstribunals in den 1990er Jahren gründet, schied Polen symbolisch und praktisch von der Willkür und Mittelmäßigkeit der kommunistischen Herrschaft in Polen bis 1989.
Entscheidende Veränderungen
Weitere Veränderungen betrafen die allgemeinen Gerichte. Die von der Regierung unter der Führung von Justizminister Zbigniew Ziobro lancierten Justizreformen wurden von Teilen der Öffentlichkeit und Politikern der Opposition schnell als »Deformen« bezeichnet. Zwei davon weisen besonders negative Aspekte auf: die Veränderungen beim Obersten Gericht und hier die Berufung einer Disziplinarkammer, quasi als Gericht über dem Gericht, und zweitens die Reform des Landesjustizrates (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS).
Der Landesjustizrat wurde 1989 in das staatliche System der Republik Polen eingeführt. Dieser Typus von nicht Recht sprechenden Organen, die aber dem Schutz der Rechtsprechung dienen, begannen in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entstehen. Aktuell treten sie in vielen europäischen Staaten auf, unter anderem in Italien, Frankreich, Portugal und der Slowakei. Die wesentliche Aufgabe des Landesjustizrates war es, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen. Der Rat setzt sich aus Parlamentariern, dem Justizminister, dem Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichtes (Naczelny Sąd Administracyjny), einer vom Staatspräsidenten bestimmten Person und schließlich 15 Richtern zusammen. Die PiS-Mehrheit im Sejm änderte das Gesetz über den Landesjustizrat. Die Amtszeit des Rates wurde verkürzt und neue Mitglieder berufen. Das war nicht verfassungskonform, vielmehr war es eine treue Kopie der Aktivitäten, die Ministerpräsident Viktor Orbán in Ungarn an den Tag legt. Nicht zuletzt hat PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński den Polen wiederholt versprochen, dass »ein zweites Budapest an der Weichsel« entstehen werde. Ein weiterer politischer Schachzug à la Orbán, der von der PiS aufgenommen wurde, war, Richter in den vorgezogenen Ruhestand zu schicken. Wegen Diskriminierung (Frauen sollten mit 60 Jahren, Männer mit 65 Jahren pensioniert werden) wurde dies von der EU teilweise blockiert. Die wichtigste Änderung beim Landesjustizrat – und gleichzeitig die direkte Kollision mit der Verfassung – war, dass die Richter nicht wie bisher von einem Richtergremium berufen wurden, sondern vom Sejm. Dem polnischen staatlichen System und dem Prinzip der Gewaltenteilung entsprechend, sind die Legislative, Exekutive und Judikative drei separate und unabhängige Gewalten. Ein kompliziertes Zusammenspiel von Einschränkungen und ausgleichenden Mechanismen gewährleistet den von Montesquieu gesetzten Standard. Die gegen die Verfassung verstoßende politische Wahl der Richter in den Landesjustizrat zerstörte den Standard. Zunächst fanden sich keine Willigen und es schien, als würden die Neuwahlen zum Landesjustizrat von der Richterschaft boykottiert. Allerdings meldeten sich im letzten Moment einige Waghalsige, die bereit waren, die Verfassung zu brechen. Ein Teil von ihnen war mit Justizminister Ziobro verbandelt, ein Teil wäre in normaler Situation nie in den Landesjustizrat berufen worden, beispielsweise wegen Disziplinarproblemen. Es gab keine Kandidaten aus den Berufungs-, Verwaltungs- und Militärgerichten sowie dem Obersten Gericht. Politisch opportune Richter der Gerichte der unteren Instanzen wurden allerdings berufen und sandten somit den anderen Richtern eine deutliche Botschaft: Es lohnt sich, den aktuellen Machthabern zu gefallen, auch wenn das mit einem Verfassungsbruch bezahlt werden muss. Von diesem Moment an ist in Polen das Rechtssystem durch einen spezifischen Dualismus gekennzeichnet. In dem einen Bereich sind die Verfassung der Republik Polen und das verfassungsgemäße Recht angesiedelt, das von der Mehrheit der Richter in Polen angewendet wird. Dem Grundsatz der Hierarchie der Rechtsnormen gemäß verweigern diese Richter, Gesetze anzuwenden, die mit der polnischen Verfassung und internationalen Verträgen nicht vereinbar sind. Den anderen Bereich des Rechtssystems bestimmen die Richter, die das neue Recht anwenden und die Vorschriften der Verfassung außer Acht lassen. Diese Gruppe erwarten Beförderungen, hohe finanzielle Zulagen und zusätzliche Posten. Die Gruppe der rechtschaffenen Richter wehrt sich dagegen, an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert zu werden, sowie gegen Disziplinarvorwürfe und Hassrede in den sozialen Medien. Das Privatleben eines Teils von ihnen wird in den regierungsnahen öffentlichen Medien kommentiert. Unlängst wurde die Existenz und Tätigkeit des neuen Landesjustizrates von einem internationalen Expertengremium klar kommentiert: Er wurde nach vorangegangener Aussetzung aus dem European Networks of Councils for the Judiciary (ENCJ) ausgeschlossen.
Die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtes
Außer dem Signal, dass die Machthaber diejenigen Richter belohnen, die zum Verfassungsbruch bereit sind, gab es noch eine weitere Botschaft: Richter, die die Verfassung achten, haben Sanktionen und Schikanen zu erwarten – ebenso wie Richter, die gegen die eingeführten Änderungen protestieren. Einer der Richter des aktuellen Verfassungstribunals, Stanisław Piotrowicz, ehemaliger Staatsanwalt der Volksrepublik Polen und Sejmabgeordneter für die PiS (2015 bis 2019), hat die Erwartungen der Legislative und Exekutive an die polnischen Richter präzise formuliert. Im Zusammenhang mit einem Entwurf des Gesetzes über den Landesjustizrat sagte er 2017 vor dem Sejm, die Reform diene nicht nur strukturellen, sondern auch personellen Veränderungen, denn es solle zu einer »qualitativen Veränderung bei den Richtern« kommen, die sich durch eine »dienstbare Mentalität« legitimieren sollen. Für die Garantie der »dienstbaren Mentalität der Richter«, die das verfassungsmäßige Erfordernis der Unabhängigkeit ersetzen sollte, sollte die neu berufene Disziplinarkammer des Obersten Gerichtes sorgen.
Die Konstruktion der Disziplinarkammer, die theoretisch in das Oberste Gericht eingegliedert ist, praktisch aber ein übergeordnetes Gericht darstellt, ist für die polnische Judikative ohne Beispiel. Die Richter der Kammer erhalten ein im Vergleich zu den anderen Richtern des Obersten Gerichtes 40 Prozent höheres Gehalt. Sie unterstehen nicht der Aufsicht des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichtes und werden alle vom neuen Landesjustizrat berufen. Ihnen werden Disziplinarangelegenheiten angetragen, die nicht nur Richter, sondern auch Staatsanwälte, Rechtsanwälte oder Rechtsberater betreffen. Rasch ergriff die Disziplinarkammer Maßnahmen gegen widerständige Richter und Staatsanwälte, die sich dem Verfassungsbruch widersetzten. Die Tätigkeit der Disziplinarkammer allein brachte allerdings nicht die erwünschten Folgen. Die Regierung entschied sich daher für einen weiteren Schritt.
Das »Maulkorbgesetz«
Anfang 2020 trat ein neues Gesetz in Kraft, das ein für alle Mal den Richtern die Unabhängigkeit nehmen und sie zum Schweigen bringen sollte. Die Absichten des Gesetzgebers waren so offensichtlich, dass es umgehend als »Maulkorbgesetz« bezeichnet wurde. Auf seiner Grundlage wurden neue Vorschriften eingeführt, welche die Durchführung eines Disziplinarverfahrens gegenüber Richtern anordnen, die
die Arbeit der Justizorgane erschweren oder unmöglich machen,die Wirksamkeit der Ernennung von Richtern oder die Vollmacht der Organe der Republik Polen infrage stellen,in einer Weise öffentlich tätig sind, die sich nicht mit dem Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter vereinbaren lässt.
Offenkundig zielte das Gesetz auf Richter, die sich der Zerstörung der Judikative und des Rechtsstaates widersetzten. Einerseits geboten die neuen Vorschriften (unter Androhung von Disziplinarmaßnahmen, die den Ausschluss aus dem Richterstand zur Folge haben können), die unter Verfassungsbruch berufenen Richter als rechtsstaatlich legitimiert anzuerkennen und die nicht verfassungsgemäß besetzten Organe als rechtmäßig. Andererseits wurden die Vorschriften so weit gefasst und so uneindeutig formuliert, dass es offenkundig war, dass sie zur Einschüchterung eines jeden Richters unter beliebigem Vorwand dienen können. Das Berufsleben jedes polnischen Richters ist mit einem beständigen Konflikt verbunden: Entweder wird er in einem nicht korrekt besetzten Richtergremium Urteile sprechen – womit er einen Verfassungsbruch begeht – oder er lehnt es in dieser Situation ab, Recht zu sprechen, was zur Folge hat, dass ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wird, dies wiederum mit der Folge, ihn von der Rechtsprechung abzuziehen und ihn in nicht ferner Zukunft womöglich aus dem Richterstand auszuschließen. Dem polnischen Richter wird hiermit gestattet, zwischen Pest und Cholera zu wählen.
Der zivilgesellschaftliche Aspekt
Am 7. Mai 2021 sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Schlüsselurteil in einer Angelegenheit des polnischen Unternehmens Xero Flor, das Rollrasen herstellt. Das Unternehmen hatte vom Staat eine Entschädigung für die Zerstörung seines Anbaus durch Wildschweine gefordert. Allerdings wurden die 100 Prozent Entschädigung auf 75 Prozent mittels einer Verfügung (also eines Rechtsaktes unterhalb der Gesetzesebene) reduziert. Nach verlorenem Prozess und Ausschöpfung des Gerichtsweges zog Xero Flor vor das Verfassungstribunal. Da dieses keine Verletzung der Bürgerrechte sah, ging die Angelegenheit weiter an die letztmögliche Instanz, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dieser gab dem Unternehmen nicht nur Recht, sondern befand auch, dass es zu einer zweifachen Rechtsverletzung gekommen war. Erstens hätte Xero Flor 100 Prozent Entschädigung erhalten müssen. Zweitens wurde das Recht auf einen fairen Gerichtsprozess verletzt, da sich unter den verhandelnden Richtern des Verfassungstribunals ein »Richter-Double« befand, das Richtergremium also unkorrekt besetzt war. Die Antwort des polnischen Justizministers ließ nicht lange auf sich warten: Er wandte sich an das Verfassungstribunal, um die Vereinbarkeit von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention mit der polnischen Verfassung prüfen zu lassen. Ein tragisch-komischer Aspekt bei dieser ganzen Angelegenheit ist nicht nur die Übereinstimmung des Art. 6 mit Art. 45 der polnischen Verfassung (das Recht auf ein rasches, faires und transparentes Verfahren durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht), sondern auch, dass das Muster für die Verfassung hier Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention war.
Ähnlichkeiten und Unterschiede
Eine beliebte rhetorische Phrase der PiS-Politiker und von Justizminister Ziobro ist bei der Verteidigung der Pseudo-Reformen die Versicherung, dass sie im Wesentlichen dem System entsprechen, das in den westeuropäischen Staaten gilt. Hier werden meistens Frankreich, Deutschland, Spanien und Portugal angeführt. Das Land, das in dieser Reihe am häufigsten genannt wird, ist die Bundesrepublik Deutschland.
Das System der Richterberufung in Polen und in der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen, ist kompliziert und eine eher halsbrecherische Angelegenheit. Wesentliche Unterschiede treten schon auf der Ebene der akademischen Ausbildung auf. In Polen endet die universitäre Ausbildung mit dem Magisterexamen und nicht mit zwei Staatsexamen wie in Deutschland, die vollständige Unabhängigkeit garantieren. Bevor verglichen wird, muss auch berücksichtigt werden, dass Polen ein zentralistischer Staat ist und nicht ein föderativer wie Deutschland. Generell lässt sich sagen, dass das deutsche System der Richterberufung aus vielen Schritten besteht, u. a. Begutachtungen durch verschiedene Gremien (zum Beispiel Repräsentationen der Bundesländer), für die es keine Entsprechung im polnischen Rechtssystem gibt. In Polen sieht der Weg kürzer aus. Bewerbungen für das Richteramt, also von Personen, die das Referendariat absolviert und das Examen abgelegt haben, werden vom Landesjustizrat geprüft und begutachtet. Danach werden die Kandidaten dem Präsidenten der Republik Polen vorgestellt, der die Richter auf unbefristete Zeit (auf Lebenszeit) beruft. Ein wesentlicher, von der PiS-Regierung eingeführter Aspekt ist die politische Instrumentalisierung der Richter, die in den Landesjustizrat gehen. Diese sind sich dessen bewusst, dass ihre Zugehörigkeit zu diesem wichtigen Organ nur aufgrund des Verfassungsbruchs möglich ist, und sie passen auf, dass eigenständige und verfassungstreue Richter nicht aufsteigen. Diesen erlaubt ihre Verfassungstreue nicht, den Landesjustizrat zu akzeptieren, dem Richter angehören, welche die Verfassung brechen. Das zieht weitere Implikationen nach sich, beispielsweise wird infrage gestellt, dass die Berufung der auf diese Weise bestimmten Richter durch den Präsidenten den Berufungsprozess legalisiert. Die These, dass die präsidiale Berufung die Illegalität der Tätigkeiten des Landesjustizrates aufhebt, ist nicht nur eine stark lancierte politische These, sondern nach Auffassung der PiS auch ein Dogma, das nicht zur Diskussion steht. Die Infragestellung dieser These sei ein Angriff auf das präsidiale Vorrecht und die polnische Souveränität. Verfolgt man die These weiter, es sei legal und rechtsstaatlich, dass der Präsident Personen ins Richteramt beruft, die die verfassungsmäßigen Anforderungen nicht erfüllen, müsste man konsequenterweise anerkennen, dass dem Präsidenten irgendwelche Super-Befugnisse zustehen, die in der Verfassung nicht aufgeführt werden. Der Präsident selbst wäre dann ein Organ, das nicht in der Konstruktion des demokratischen Staates mit Kabinettsystem verankert wäre. Der Präsident der Republik Polen ist jedoch ein Element der ausführenden Gewalt, die im Rahmen des Prinzips der Dreiteilung der Gewalten realisiert wird. Ganz sicher ist er kein übergeordnetes Organ, das mit »Supermacht« ausgestattet ist, die in der Verfassung unbekannt ist und das Konzept der Gesetzlichkeit der Tätigkeiten der Machtorgane und das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates zerstört.
Die deutliche Mehrheit der polnischen Richter bleibt der Verfassung treu und lehnt es daher ab, mit den vom neuen Landesjustizrat befürworteten Richtern gemeinsam eine Verhandlung zu führen. Damit scheiterten die Erwartungen der PiS, dass alle die nicht verfassungsgemäßen, »politisch« berufenen Richter vergessen und diese bei schweigender Akzeptanz der anderen Richter still und heimlich in der Judikative aufgehen. Der Konflikt bleibt bestehen.
Neueste Ankündigungen
Wie bereits erwähnt, wurde die Entscheidung der Richterin Rosario Silva de Lapuerta am Europäischen Gerichtshof vom Juli 2021, dass die Tätigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichtes einzustellen sei, bis heute nicht in Polen umgesetzt. Zwar kündigte die Erste Präsidentin des Obersten Gerichtes, Małgorzata Manowska, nach zunächst hochmütigen Aussagen, dass die Disziplinarkammer weiterarbeiten werde, deren Einstellung an, aber es passierte nichts dergleichen. Die Polen auferlegte Strafe wird von der Regierung auf widersprüchliche Weise kommentiert. Zwar werden Ankündigungen gemacht, die Kammer aufzulösen, aber es werden auch Appelle wiederholt, sich damit nicht zu beeilen bzw. das Bestehen der Kammer zu verteidigen. Auf das Urteil des EuGH, dass die Disziplinarkammer kein Gericht im Sinne des EU-Rechtes sei, reagierte das Verfassungstribunal, indem es die Grundlagen der EU-Verträge infrage stellte. Die Verschärfung des Konfliktes mit der EU nach dem unglücklichen Urteil des Verfassungstribunals veranlasste den PiS-Chef und Vizeministerpräsidenten Jarosław Kaczyński zu der Ankündigung, die Disziplinarkammer vollständig aufzulösen. Das bedeutet aber nicht unbedingt eine Verbesserung der Situation. In einem aktuellen Interview mit dem Sender »Radio RMF 24.pl« kündigte Kaczyński revolutionäre Veränderungen in der Justiz an. Unter anderem sollen Gerichte der untersten Stufe und die Berufungsgerichte (oberste Stufe, ohne Oberstes Gericht) aufgelöst und durch Bezirksgerichte und vollkommen neue Regionalgerichte ersetzt werden. Die Regionalgerichte sollen den Großteil der Kompetenzen des Obersten Gerichtes übernehmen, dessen Anzahl an Richtern deutlich (auf knapp 20) reduziert werden soll. Dem Obersten Gericht bliebe die rätselhafte Aufgabe, die »Rechtsprechung zu ordnen«. Die Grundlagen dieser Reformen sind allerdings nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie werden also nicht dazu dienen, den Konflikt zu beenden und die Angelegenheiten tatsächlich zu ordnen.
Unabhängige Beobachter stimmen in ihren neuesten Diagnosen überein: Nach fünf Jahren Justizreform hat sich das Chaos in den Gerichten nur verschlimmert. Die Gerichtsverfahren verlängern sich zunehmend und die Verhandlungsführung durch Richter mit unklarem Status ist eine Grundrechtsverletzung, und zwar des Rechtes auf einen fairen Gerichtsprozess. Die angekündigten Änderungen werden nicht dazu dienen, die Arbeit der Gerichte effektiver zu machen. Ihr Ziel ist es, rechtschaffene Richter abzuziehen, insbesondere die in der ersten Reihe, und die übrigen einzuschüchtern.
Fazit
Wenn regierungskritische Politiker, Wissenschaftler und Beobachter des gesellschaftlichen Lebens in Polen über den Beginn des Konfliktes der Judikative mit der Exekutive und der Legislative sprechen, nennen sie das Jahr 2015 und die Entscheidung des Präsidenten Andrzej Duda, drei legal gewählte Richter nicht zu vereidigen und an ihre Stelle drei illegal gewählte »Richter-Double« zu setzen. Jedoch sollte die Entstehung des Konfliktes früher datiert werden, denn in die Wahlen von 2015 ging die PiS mit dem Entwurf für eine neue Verfassung. Obwohl also die Verfassung von 1997 nur die Möglichkeit vorsieht, Veränderungen am geltenden Grundgesetz vorzunehmen, wagte es die PiS, einen völlig neuen Entwurf zu erstellen.
In diesem gab es keine Dreiteilung der Gewalten und die gesamte Macht sollte beim Präsidenten liegen, der weder einer politischen Verantwortung unterlag noch einer konstitutionell-rechtlichen. Über den polnischen Präsidenten, der bei sich den größten Teil der Macht konzentrieren sollte, sollten nur Gott und die Geschichte richten. Diese archaische Konstruktion passt eher ins 19. Jahrhundert als in das gegenwärtige Polen, jedoch stellen sich so Kaczyńskis Träume vom politischen System in Polen dar. Meine Hoffnung ist, dass sie sich nie erfüllen werden, denn sie sind die Vision eines autoritären Staates, weit entfernt vom Konzept des demokratischen Rechtsstaates, der die Rechte des Menschen und aller Minderheiten achtet, wie es in der polnischen Verfassung steht. Wie sehen also die Zukunftsprognosen aus? Sie sind leider nicht sonderlich optimistisch. Der Konflikt wird weitergehen. Wir wissen bereits, dass die PiS sogar um den Preis des EU-Austritts bereit wäre, ihre Macht zu sichern. Die Reaktionen des polnischen Ministerpräsidenten und des Justizministers (bzw. der gesamten Regierungsmannschaft) auf die Entscheidung des EuGH, Polen im Zusammenhang mit der Disziplinarkammer mit Zwangsgeld zu belegen, müssen als inadäquat für dieses Problem bewertet werden. Die Aussagen von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem kürzlich veröffentlichten Interview in der »Financial Times«, die Verknüpfung der Rechtsstaatlichkeit mit der Auszahlung von EU-Geldern und deren gegenwärtiger Blockade setze »Polen die Pistole auf die Brust« und sei »der dritte Weltkrieg«, wurden in Polen ungläubig aufgenommen. Der hysterische Ton der Äußerungen Morawieckis ist der unglückliche Versuch, die Schwäche des Regierungshandelns zu maskieren und Ausdruck mangelnder Argumente im Konflikt mit der Europäischen Union. Sicherlich sprechen dieser Art Äußerungen einen Teil der polnischen Wähler an, der Rest der Gesellschaft nimmt sie jedoch distanziert auf. Die PiS verliert allmählich an Unterstützung, und ich hoffe, dass sich daraus ein dauerhafter Trend entwickelt, denn jeder weitere Tag entblößt die Beschränktheit der Argumentation des Ministerpräsidenten und seine leere Emotionalität. Daher fasst die PiS die Appelle der Europäischen Union, den polnischen Gerichten Unabhängigkeit zu garantieren, auch als Angriff auf die polnische Souveränität auf und übertönt sie mit der abstrusen Rede, dass das polnische Gerichtswesen sich nicht von dem westlicher Staaten unterscheide und dass es vielmehr darum gehe, dass die EU die Polen nicht mag.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate