Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Frau Vorsitzende,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
ich stehe heute vor Ihnen im Parlament, um unseren Standpunkt zu einigen grundlegenden Fragen darzulegen, die ich für die Zukunft der Europäischen Union für entscheidend halte. Nicht nur für die Zukunft Polens, sondern auch für die Zukunft unserer gesamten Union.
Erstens möchte ich auf die Krisen eingehen, mit denen Europa aktuell konfrontiert ist und mit denen wir uns befassen müssen.
Zweitens werde ich über Standards und Regeln sprechen, die immer und für alle gleich sein müssen – und darüber, dass dies zu oft nicht der Fall ist.
Drittens werde ich unsere Sicht auf die Grundsätze darlegen, laut derer kein öffentliches Verwaltungsorgan Maßnahmen tätigen darf, für die keine Rechtsgrundlage existiert.
Der vierte Punkt meiner Rede wird das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts betreffen – und die Frage, was dieses und andere ähnliche Urteile für die EU bedeuten. Und ich werde betonen, wie wichtig Vielfalt und gegenseitiger Respekt sind.
Im fünften Punkt werde ich unseren Standpunkt zum verfassungsrechtlichen Pluralismus erläutern.
Und anschließend möchte ich die gewaltigen Risiken für die gesamte Gesellschaft thematisieren, die sich aus der Anwendung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union ergeben und die sich in Polen bereits materialisieren.
Zum Schluss werde ich alle Schlussfolgerungen zusammenfassen und einen, wie ich glaube, hoffnungsvollen Blick in die Zukunft wagen.
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Nun möchte ich einige Worte über den Beitrag Polens zu unserem gemeinsamen Projekt sagen.
Die europäische Integration stellt für uns eine zivilisatorische und strategische Entscheidung dar. Wir sind in Europa, hier ist unser Platz und das wird sich auch nicht ändern. Wir möchten Europa wieder zu einer starken, ambitionierten mutigen Gemeinschaft machen. Deshalb beschränken wir uns nicht auf kurzfristige Vorteile, sondern sehen auch das, was wir Europa geben können.
Polen profitiert von der Integration vor allem durch den Handel im Rahmen des gemeinsamen Binnenmarktes. Technologietransfers und Direkttransfers spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Aber Polen ist der Union nicht mit leeren Händen beigetreten. Die wirtschaftliche Integration Polens erweiterte die Möglichkeiten für Firmen aus meinem Land, eröffnete aber auch deutschen, französischen oder niederländischen Unternehmen riesige Chancen. Unternehmer aus diesen Ländern profitieren in großem Umfang von der EU-Erweiterung.
Hier genügt es, den gewaltigen Abfluss von Dividenden, Zinseinnahmen und Gewinnen aus anderen Finanzinstrumenten aus den weniger wohlhabenden mitteleuropäischen Ländern in die reicheren Länder in Westeuropa zu betrachten. Wir hingegen wollen, dass es bei dieser Zusammenarbeit keine Verlierer gibt, sondern ausschließlich Gewinner.
Polen hat sich für einen ehrgeizigen Aufbaufonds stark gemacht, um die heutige Antwort auf die Herausforderungen der Transformation in den Bereichen Klima, Energie und Pandemiefolgen an die realen Bedürfnisse anzupassen. Um ein starkes Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, das Millionen von Kindern, Frauen und Männern Mut macht und sie der Globalisierung nicht hilflos ausliefert. In diesen Fragen stimmten wir mit dem Europäischen Parlament voll und ganz überein.
Polen unterstützt den europäischen Binnenmarkt tatkräftig. Wir wollen eine strategische Autonomie, die unsere 27 Länder stärkt.
Deshalb setzen sich Polen, Deutschland, Tschechien und andere mitteleuropäische Staaten für Lösungen ein, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft im Geiste der Verwirklichung der vier Grundfreiheiten stärken: Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit. Und zwar ohne die Unterstützung sogenannter Steuerparadiese, wie dies noch immer seitens einiger westeuropäischer Länder geschieht, und zwar zum Nachteil ihrer Nachbarn. Ja, meine verehrten Damen und Herren Abgeordnete: Steuerparadiese, die wir in der EU dulden, führen zur Aneignung von Geldern durch die Reichsten. Ist dies gerecht? Hilft dies, das Schicksal der Mittelklasse oder der ärmeren Schichten zu verbessern? Ist dies konform mit dem europäischen Wertekatalog? Ich habe große Zweifel.
Polen setzt sich zusammen mit dem Rest Mitteleuropas auch für eine ehrgeizige EU-Erweiterungspolitik ein, die Europa in der Westbalkanregion stärkt. Dies verstehen wir als geografische, historische und strategische Ergänzung der europäischen Integration. Wir sagen ja zu globalen Ambitionen der Union und sprechen uns für eine starke europäische Verteidigungspolitik aus, mit einer Struktur, die mit der NATO vollumfänglich kohärent ist.
Aktuell sind wir Zeugen eines organisierten Angriffs an der Ostgrenze der Union, der die Migration aus dem Nahen Osten zynisch zur Destabilisierung missbraucht. Und heute ist Polen der Sicherheitsgarant der EU, indem wir gemeinsam mit Litauen und Lettland einen Schutzschild zur Verteidigung der Grenze bilden. Und durch die Stärkung unseres Verteidigungspotenzials verbessern wir auch die Sicherheit der Union, im traditionellsten Sinne dieses Worts.
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Während heute in den Gründungsstaaten der Gemeinschaft das Vertrauen zur Union auf einen historischen Tiefpunkt gesunken ist (z.B. 36% in Frankreich), bleibt dieser Wert in Polen auf einem Höchststand. Über 85% der polnischen Bürger sagen klar: Polen ist EU-Mitglied und wird dies auch bleiben. Meine Regierung und die parlamentarische Mehrheit, die hinter uns steht, ist Teil dieser proeuropäischen Mehrheit in Polen.
Dies bedeutet nicht, dass in Polen keine Zweifel und Sorgen bezüglich der Änderungstrends in Europa existieren. Diese Sorgen gibt es, und sie sind leider auch begründet.
Ich habe eben davon gesprochen, wie viel Polen in die EU eingebracht hat. Aber leider hören wir noch immer von einer Einteilung in bessere und schlechtere Länder. Zu oft haben wir es mit einem Europa der doppelten Standards zu tun. Und jetzt möchte ich erläutern, warum wir mit diesem Modell abschließen müssen.
Heute erwarten alle Europäer nur eines von uns. Die Menschen wollen, dass wir den Herausforderungen die Stirn bieten, die für die aktuell kumulierten Krisen verantwortlich sind. Gemeinsam und nicht gegeneinander, ohne die zwanghafte Suche nach Schuldigen – oder eher jenen, die in Wirklichkeit zwar keine Schuld tragen, sich aber bequem beschuldigen lassen.
Leider stellen sich viele Bürger unseres Kontinents angesichts einiger Praktiken in den EU-Institutionen heute die Frage, ob vor dem Hintergrund extrem unterschiedlicher Urteile und Entscheidungen aus Brüssel und Luxembourg gegenüber verschiedenen Mitgliedsstaaten, die unter vergleichbaren Umständen fallen und damit die Gegensätze zwischen dem starken, alten und neuen Europa, starken und schwachen Ländern, reichen und weniger reichen Staaten de facto vertiefen, tatsächlich von Gleichberechtigung gesprochen werden kann.
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Die Spielregeln müssen für alle gleich sein. Zu ihrer Einhaltung sind wir alle verpflichtet – auch die Institutionen, die kraft dieser Verträge ins Leben gerufen wurden. Darauf beruht Rechtsstaatlichkeit.
Die Ausweitung von Kompetenzen oder die Methode der vollendeten Tatsachen ist unzulässig. Unzulässig ist auch, anderen eigene Entscheidungen ohne Rechtsgrundlage aufzuzwingen. Und umso mehr ist es unzulässig, zu diesem Zweck finanzielle Erpressung anzudrohen, Strafen ins Spiel zu bringen oder noch weitergehende Worte gegenüber einigen Mitgliedsstaaten zu verwenden.
Ich lehne eine Sprache ab, in der Drohungen, Warnungen und Erpressungen dominieren. Und ich bin nicht damit einverstanden, dass Politiker Polen erpressen oder einschüchtern. Dass Erpressungen zu einer politischen Methode gegenüber anderen EU-Mitgliedsstaaten werden. So funktioniert Demokratie nicht.
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Sehr verehrte Abgeordnete. Nun einige Worte zum Thema Rechtsstaatlichkeit.
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EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht – bis zur Gesetzesebene und in den Bereichen, in denen der EU entsprechende Kompetenzen übertragen wurden. Dieser Grundsatz gilt in allen EU-Ländern. Die Verfassung aber bleibt das ranghöchste Recht.
Wenn die kraft der EU-Verträge berufenen Institutionen ihre Kompetenzen überschreiten, müssen die Mitgliedsstaaten Instrumente haben, um reagieren zu können.
Die Union ist eine große Errungenschaft der Länder Europas. Sie ist ein starker wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Bund. Sie ist die stärkste und am besten entwickelte internationale Organisation in der Geschichte. Aber die Europäische Union ist kein Staat. Staaten sind dagegen die 27 Mitgliedsländer der Union! Und diese Staaten bleiben der europäische Souverän – als »Herren der Verträge«. Und die Staaten sind es auch, die über den Umfang der an die Europäische Union übertragenen Kompetenzen entscheiden.
In den Verträgen haben wir der Union sehr weitreichende Kompetenzen verliehen. Aber wir haben ihr nicht alle Aufgaben übertragen. Viele Rechtsbereiche bleiben in der Kompetenz der Nationalstaaten.
Wir haben keine Zweifel bezüglich des Vorrangs des europäischen Rechts vor nationalen Gesetzen in allen Bereichen, in denen die Mitgliedsstaaten der Union entsprechende Kompetenzen übertragen haben.
Allerdings stellt das polnische Verfassungsgericht ähnlich wie Gerichtshöfe in vielen anderen Ländern die Frage, ob das Monopol des Europäischen Gerichtshofs zur Festlegung der tatsächlichen Grenzen dieser Kompetenzübertragung die richtige Lösung ist. Da dieser Bereich das Verfassungsrecht berührt, muss es jemanden geben, der die Verfassungsgemäßheit derartiger eventueller neuer Kompetenzen überprüft, insbesondere in einer Situation, in der der Europäische Gerichtshof immer weitreichendere Kompetenzen der EU-Institutionen aus den Verträgen ableitet.
Ansonsten wäre es sinnlos gewesen, Artikel 4 in den Vertrag über die Europäische Union aufzunehmen, der von der Anerkennung der politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedsstaaten durch die Union spricht. Es wäre auch sinnlos gewesen, Artikel 5 in den Vertrag aufzunehmen, laut dem die Union nur im Rahmen der ihr übertragenen und zuerkannten Kompetenzen tätig werden darf. Beide Artikel wären sinnesleer, ja, sinnesleer!, wenn außer dem Europäischen Gerichtshof niemand das Recht hätte, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bedingungen der nationalen Rechtsordnung das Wort zu ergreifen.
Mir ist bewusst, dass das kürzlich ergangene Urteil des polnischen Verfassungsgerichts Gegenstand eines grundlegenden Missverständnisses geworden ist. Wenn ich hören würde, dass das Verfassungsgericht eines anderen Landes die EU-Verträge für ungültig erklärt, wäre ich ebenfalls verwundert. Aber vor allem würde ich versuchen in Erfahrung zu bringen, was genau im Urteil des Gerichts steht.
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Der Begriff verfassungsrechtlicher Pluralismus bedeutet, dass es zwischen uns und unseren Justizsystemen Raum für Dialog gibt. Dieser Dialog erfolgt auch mittels Richterentscheidungen. Wie sonst sollten sich Gerichte verständigen, wenn nicht durch ihre Entscheidungen? Es darf jedoch keine Zustimmung zur Erteilung von Anweisungen und Befehlen an einzelne Länder geben. Das ist nicht das Wesen der Europäischen Union.
Wir haben vieles gemeinsam und möchten noch mehr gemeinsam haben – aber es gibt auch Unterschiede zwischen uns. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir uns mit der Existenz dieser Unterschiede abfinden, sie akzeptieren und einander respektieren.
Die Union wird nicht deshalb zerfallen, weil unsere Rechtssysteme unterschiedlich sind. Wir funktionieren bereits seit 70 Jahren auf diese Weise. Vielleicht werden wir in Zukunft Änderungen vornehmen, die unsere Gesetzgebung noch weiter angleichen. Aber dafür sind Entscheidungen der souveränen Mitgliedsstaaten erforderlich.
Heute können wir zwischen zwei Standpunkten wählen: entweder nehmen wir alle über das Recht und die Verträge hinausgehenden Versuche zur Beschränkung der Souveränität der Staaten Europas (darunter auch Polens) hin und lassen die schleichende Kompetenzerweiterung von Organen wie dem Europäischen Gerichtshof gewähren, d.h. eine »stille Revolution«, die nicht auf Grundlage demokratischer Entscheidungen, sondern mit Hilfe von Gerichtsurteilen erfolgt – oder wir sagen: »Nein, meine Lieben«! Wenn Ihr aus Europa einen supranationalen Superstaat machen wollt, dann holt gefälligst zuerst die Zustimmung aller Länder und Gesellschaften Europas ein.
Ich wiederhole es noch einmal: das oberste Recht der Republik Polen ist die Verfassung. Sie hat Vorrang vor anderen Rechtsquellen. Von diesem Grundsatz kann kein polnisches Gericht, kein polnisches Parlament und keine polnische Regierung abweichen.
An dieser Stelle ist aber auch zu betonen, dass das polnische Verfassungsgericht nie festgestellt hat – auch nicht im kürzlich ergangenen Urteil – dass die Vorschriften des Vertrags über die Europäische Union als Ganzes gegen die polnische Verfassung verstoßen. Ganz im Gegenteil! Polen hält sich vollumfänglich an die Verträge.
Und genau deshalb hat das polnische Verfassungsgericht geurteilt, dass eine sehr konkrete Auslegung einiger Vorschriften des Vertrags verfassungswidrig ist, die sich aus der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt.
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Mit Sicherheit lohnt sich eine Debatte darüber, ob die Union verändert werden sollte. Sollte der EU-Haushalt nicht größer ausfallen? Sollen wir nicht mehr in die gemeinsame Sicherheit investieren? Sollten die Verteidigungsausgaben nicht von den Haushaltsdefizitmechanismen ausgenommen werden? Polen schlägt eben dies vor! Sollten wir unsere Fähigkeit zur Abwehr von hybriden Gefahren und Cyber-Attacken nicht verbessern? Sollen wir Investitionen in strategische Wirtschaftsbranchen nicht besser kontrollieren? Wie lässt sich die Energie- und Klimatransformation gerecht und effektiv finanzieren? Wie kann unser Entscheidungsprozess nicht effektiver werden? Was tun, damit sich unsere Bürger in der Union nicht immer stärker entfremdet fühlen?
Ich stelle diese Fragen, weil ich überzeugt bin, dass die Antworten über die Zukunft der Union entscheiden.
Über all dies sollten wir debattieren.
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Verehrtes Parlament! Ich will ein starkes und großes Europa. Ein Europa, das um Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft. Ein Europa, das fähig ist, autoritären Regimen die Stirn zu bieten. Ein Europa, das auf die neusten wirtschaftlichen Rezepte setzt. Ein Europa, dass die Kultur und Tradition zu schätzen weiß, aus der es entstanden ist. Ein Europa, das die Herausforderungen der Zukunft erkennt und an den besten Lösungen für die gesamte Welt arbeitet.
Das ist eine große Aufgabe für uns. Für uns alle, liebe Freunde. Nur so finden die Bürger die Hoffnung auf eine bessere Welt von morgen wieder. Nur so finden sie den Willen wieder, aktiv zu werden und zu kämpfen. Dies ist eine schwierige Aufgabe. Aber lassen Sie sie uns angehen. Lassen Sie sie uns gemeinsam angehen. Lang lebe Polen, lang lebe eine Europäische Union der souveränen Nationalstaaten, lang lebe Europa, der großartigste Ort der Welt!
Vielen Dank.
Quelle: https://www.gov.pl/web/primeminister/rede-von-premierminister-mateusz-morawiecki-vor-dem-europischen-parlament (deutsche Übersetzung; abgerufen am 10.02.2022).