Polen und Ukrainer verbindet seit Jahrhunderten eine nicht immer glückliche Geschichte. Große Teile der heutigen Ukraine gehörten zum Königreich Polen-Litauen. Im 17. Jahrhundert fiel der links des Dnjepr gelegene Teil der Ukraine einschließlich Kiews an Russland, die rechts des Dnjepr gelegenen ukrainischen Gebiete nach den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts an Habsburg. Mit dem Aufkommen nationalstaatlicher Bestrebungen im 19. Jahrhundert kam es zu Rivalitäten zwischen Ukrainern und Polen um dieses Gebiet. Dabei konnten sich die Polen 1918 militärisch durchsetzen.
In der Folge kam es bis nach dem Zweiten Weltkrieg zu teils gewalttätigen polnisch-ukrainischen Auseinandersetzungen. In der Zwischenkriegszeit versuchte die »Organisation Ukrainischer Nationalisten« (OUN), sich gegen die Polonisierung der von Ukrainern bewohnten Gebiete im Südosten des damaligen Polen zu wehren. Unter deutscher Besatzung zielte der bewaffnete Arm der OUN, die »Ukrainische Aufständische Armee« (ukrain. UPA) unter Stepan Bandera, darauf ab, aus den ukrainischen Gebieten, für die sie nach dem Krieg die Unabhängigkeit erwartete, die nicht ukrainische Bevölkerung zu vertreiben. Insbesondere in Wolhynien fielen 1943/44 Zehntausende Polen Massenmorden der UPA zum Opfer. Die polnische Heimatarmee (poln. AK) reagierte mit der Verteidigung der bedrohten Polen und griff ihrerseits zu Vergeltungsaktionen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Veränderung der Grenze zugunsten der Sowjetukraine wurden Zehntausende Ukrainer – sehr oft gegen ihren Willen – in die Sowjetunion »ausgesiedelt«. 1947 wurden in der »Aktion Weichsel« die vor allem noch im Südosten Polens lebenden Ukrainer, mehr als 100.000 Personen, die als Basis für die UPA galten, in die ländlichen Territorien der Oder-Neiße-Gebiete vertrieben, wo sie assimiliert werden sollten.
Alle die polnisch-ukrainischen Beziehungen belastenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts waren unter kommunistischer Herrschaft in beiden Gesellschaften tabu. Sie gelangten in die öffentlichen Medien erst, nachdem Polen 1989/90 seine Souveränität zurückgewonnen hatte und die Ukraine 1991 unabhängig wurde. In den Jahrzehnten zuvor hatte vor allem die in Paris erscheinende polnische Exilzeitschrift »Kultura« unter Jerzy Giedroyć und Juliusz Mieroszewski das Verhältnis Polens zu seinen östlichen Nachbarn (Litauen, Belarus und Ukraine) thematisiert, wobei auch die heiklen Punkte der Geschichte des 20. Jahrhunderts angesprochen wurden. Die Kernthese der »Kultura« lautete, gute Beziehungen zu diesen Nachbarn könne man nur erreichen, wenn Polen die (mit erheblichen Gebietsverlusten zugunsten dieser Nachbarn verbundenen) Nachkriegsgrenzen anerkenne, freilich unter der Voraussetzung, dass diese Staaten souverän seien. Solche souveränen Nachbarn im Osten seien der beste Schutz Polens vor imperialen Bestrebungen Russlands. Als die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erklärte, war Polen der erste Staat, der sie anerkannte.
Ereignisse aus der Zwischenkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit, die das polnisch-ukrainische Verhältnis belasten, wurden nun auch offiziell angesprochen. Es gab von beiden Seiten Versöhnungsgesten auf politischer Ebene und seitens der Kirchen, die jedoch keine solche Symbolkraft gewannen wie analoge Gesten im deutsch-polnischen Verhältnis. Bei der »orangenen Revolution« 2004 spielte Polens Präsident Aleksander Kwaśniewski eine wichtige Vermittlerrolle. Diese Demokratiebewegung wurde von einer breiten Öffentlichkeit in Polen ebenso unterstützt wie der »Majdan« 2014. Versuche der polnischen Regierung, bei ihren westlichen Partnern Zustimmung für eine Annäherung der Ukraine an die NATO und die EU zu gewinnen, blieben jedoch ohne größeren Erfolg.
Polens Rückkehr in die internationale Politik
Für die seit 2015 regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), und vor allem für ihren Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, ist Außenpolitik eher eine Funktion der Innenpolitik. Selbst eine gewisse außenpolitische Isolierung wird in Kauf genommen, wenn dadurch nicht die innenpolitische Machtposition der PiS gefährdet wird. So versuchte Kaczyński 2017 die Wiederwahl von Donald Tusk, den er offensichtlich als eine Art Todfeind betrachtet, zum Präsidenten des Europäischen Rates mit allen Mitteln zu verhindern. Die Wiederwahl von Tusk mit dem Ergebnis von 27 zu 1 – selbst Victor Orbáns Ungarn stimmte für Tusk – wurde von Kaczyński als »moralischer Sieg« gefeiert.
Gegenüber der EU hat die PiS ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits ist Polen der größte Nettoempfänger in der EU – im Jahr 2020 rund 13,2 Mrd. Euro. Andererseits sind die verschiedenen Flügel innerhalb des von der PiS geführten Regierungslagers Vereinigte Rechte (Zjednoczona Prawica) in der Regel darauf bedacht, die von ihnen bei vielen Gelegenheiten propagierte »Souveränität« Polens nicht durch Eingriffe der EU in innerpolnische Angelegenheiten einschränken zu lassen. Das gilt insbesondere für die Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska – SP) des Justizministers und Generalstaatsanwalts Zbigniew Ziobro. Er hat das Justizwesen in Polen so »umgebaut« und in seiner Doppelfunktion die Leitungspositionen rigoros mit ihm ergebenen Personen besetzt, dass von Gewaltenteilung nicht mehr gesprochen werden kann. Als Reaktion darauf hat die EU ab 2021 den »Rechtsstaatsmechanismus« eingeführt, nach dem Zahlungen an Mitgliedsstaaten ausgesetzt werden können, wenn diese gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Polen ist davon erstmals 2022 bei der Vergabe der EU-Mittel aus dem 750 Mrd. Euro umfassenden Wiederaufbaufonds betroffen, mit dem die Folgen der Corona-Pandemie überwunden werden sollen. Für Polen sind vorerst 36 Mrd. Euro eingefroren, die zumal angesichts der Folgen des Kriegs in der Ukraine dringend gebraucht würden.
In den Beziehungen zu den USA hatte die PiS lange auf US-Präsident Donald Trump gesetzt, auf die Stationierung weiterer amerikanischer Truppen gehofft und sogar angeboten, in Polen ein »Fort Trump« aufzubauen. Den Wahlsieg Joe Bidens erkannten Spitzenpolitiker der PiS erst sehr spät an. Die polnische Führung wurde danach monatelang von der US-Regierung weitgehend ignoriert. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die internationale Position Polens schlagartig verändert. Polen wurde, wie die Tageszeitung »Rzeczpospolita« formulierte, von einem zweitrangigen NATO-Mitglied zu einem der wichtigsten Verbündeten der USA »katapultiert«. Mit dem Krieg in der Ukraine ist Polen nun das Land an der Ostflanke der NATO geworden, das als Haupttransferzentrum für die Lieferung von Waffen der NATO an die Ukraine fungiert. US-Präsident Joe Biden entsandte zwei Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine seine Stellvertreterin Kamala Harris zu einem Besuch nach Warschau (Warszawa). Sie bekräftigte, dass für die USA Art. 5 des NATO-Vertrags, nach dem ein angegriffenes Mitglied den militärischen Beistand der gesamten Allianz erhalte, auch für Polen gelte. Das mit rund 10.000 Personen in Polen stationierte US-amerikanische Militär wurde um zwei weitere Patriot-Batterien verstärkt. Wohl noch nie war die NATO-Mitgliedschaft für Polen so wichtig wie in der gegenwärtigen Situation.
Auffällig ist die aktive Rolle, die Präsident Andrzej Duda übernommen hat. Nach der Verfassung ist er zusammen mit dem Ministerpräsidenten und dem Außenminister für die polnische Außenpolitik verantwortlich. In seiner 2021 begonnenen zweiten Amtszeit scheint er deutlich unabhängiger gegenüber der PiS-Führung zu sein. Duda hatte sich bisher auf internationaler Ebene im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Seit dem Spätherbst 2021 scheint er in engem Kontakt mit der politischen Führung der USA zu stehen und mit den Amerikanern etliche Schritte abzustimmen. So legte er sein Veto gegen die »lex TVN« ein, mit welcher der in amerikanischem Besitz befindliche Fernsehsender »TVN« unter PiS-Kontrolle gebracht werden sollte.
Seit der russische Präsident Wladimir Putin den Druck auf die Ukraine erhöht hat, ist Duda auch international stärker aktiv geworden. Das Weimarer Dreieck (Deutschland, Frankreich, Polen), das etliche Jahre fast vergessen schien, wurde schon zum 30. Jahrestag seiner Gründung im August 2021 durch die drei Außenminister wiederbelebt. Als Russland die Spannungen um die Ukraine erhöhte, fand am 8. Februar 2022 erstmals wieder ein Treffen auf höchster Ebene in Berlin statt (die Präsidenten Andrzej Duda und Emmanuel Macron sowie Bundeskanzler Olaf Scholz). Als Russland immer mehr Truppen um die Ukraine zusammenzog, kam Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am 26. Februar zusammen mit dem litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda nach Berlin, um die Bundesregierung zu überzeugen, ihre Blockade von Waffenlieferungen an die Ukraine aufzugeben (s. Dokumentation S. 7f.). Dass Bundeskanzler Scholz kurz darauf in seiner Rede vor dem Bundestag vom 27. Februar eine Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und damit verbunden auch Waffenlieferungen an die Ukraine ankündigte, dürften sowohl Duda als auch Morawiecki auch als ihren persönlichen Erfolg betrachtet haben.
Keine Differenzen zwischen Regierung und Opposition in der Ukraine-Politik
Duda ist jetzt sichtlich bemüht, die Polarisierung der polnischen Politik zu überwinden. Gegen ein heftig umstrittenes Gesetz des Ministers für Bildung und Wissenschaft, Przemysław Czarnek (»lex Czarnek«), das national-klerikale Inhalte für den Geschichtsunterricht vorsah, legte er sein Veto mit der Begründung ein, es spalte die Gesellschaft weiter – jetzt aber sei gesellschaftlicher Konsens erforderlich.
Das Bemühen um die Geschlossenheit der politischen Lager in der Ukraine-Politik wurde in einer Sitzung der Nationalversammlung, einer sehr seltenen gemeinsamen Zusammenkunft von Sejm und Senat, am 11. März 2022 sichtbar. Eine solche Veranstaltung soll in der Regel die besondere Bedeutung eines Ereignisses unterstreichen. Formeller Anlass war der 23. Jahrestag des Beitritts Polens zur NATO. Präsident Duda unterstrich die Notwendigkeit nationaler Einheit in der Situation der aktuellen Bedrohung und nannte namentlich alle Politiker, die sich um Polens Aufnahme in die NATO verdient gemacht hätten, darunter auch den gelegentlich von PiS-Politikern als früheren kommunistischen Geheimdienstmitarbeiter bezeichneten ehemaligen Präsidenten Lech Wałęsa und dessen Nachfolger Aleksander Kwaśniewski, welcher der postkommunistischen Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) angehört hatte. Die Zugehörigkeit zu NATO und EU sei Teil der polnischen Staatsräson (2018 hatte Duda die EU einmal eine »imaginierte Gemeinschaft« genannt). Er sicherte der Ukraine umfassende polnische Unterstützung zu und erklärte, die Angriffe auf die Ukraine trügen Zeichen eines Völkermords.
Der Beifall, mit dem Dudas Rede von allen politischen Lagern bedacht wurde, zeigt, dass in der Ukraine-Politik die Gräben zwischen Regierungslager und Opposition weitgehend überbrückt sind. Über Video war zu dieser Sitzung der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugeschaltet, der die Polen als »Brüder und Schwestern« anredete und sich für die große Hilfe der Polen für die Ukrainer bedankte.
Während die Unterstützung für die Ukraine parteiübergreifend ist, bleiben die innenpolitischen Frontlinien jedoch weiterhin sichtbar. Justizminister Ziobro, der innerhalb der Vereinigten Rechten am stärksten auf die Unabhängigkeit Polens von EU-Instanzen pocht, richtete eine Anfrage an das polnische Verfassungstribunal, ob Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention mit der polnischen Verfassung vereinbar sei. Dieser Artikel erlaubt u. a. dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie nationalen Gerichten, den Status von Richtern eines Landes daraufhin zu überprüfen, ob sie unabhängig sind. Unter Vorsitz des früheren Staatsanwalts der Volksrepublik und mehrjährigen Sejm-Abgeordneten der PiS Stanisław Piotrowicz urteilte eine Kammer des Verfassungstribunals am 10. März 2022, dass diese Bestimmungen nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar seien. Der frühere Bürgerrechtsbeauftragte Artur Bodnar kommentierte dies mit den Worten, damit befinde sich das polnische Verfassungstribunal in einer Reihe mit dem russischen.
Bisher hatte vor allem die von Ziobro eingeführte Disziplinarkammer beim Obersten Gericht dazu geführt, dass der Rechtsstaatsmechanismus der EU angewendet wurde. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki war hier offenbar zu Kompromissen bereit, Ziobro strikt dagegen. Mit dem Urteil des Verfassungstribunals ist ein weiterer Punkt hinzugekommen, der das Geld aus dem Aufbaufonds der EU blockiert, das Morawiecki dringend für den polnischen Aufbauplan nach der Pandemie benötigt. Da Kaczyński zum Erhalt der PiS-Mehrheit im Sejm die Stimmen von Ziobros SP dringend benötigt, lässt er Ziobro vorerst gewähren.
Auswirkungen des Kriegs auf die Wirtschaft Polens
Die Wirtschaft Polens blickte Ende 2021 auf ein höchst erfolgreiches Jahr zurück. Mit 7,3 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts war sie stärker als vor der Pandemie. Die Spannungen um die Ukraine und dann der russische Angriff haben jedoch die Prognosen nach unten verändert. Die Polnische Nationalbank erwartete Anfang März 2022 mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit für 2022 ein Wirtschaftswachstum von 3,4 bis 5,3 Prozent, während sie dieses im November 2021 noch auf 3,8 bis 5,9 Prozent geschätzt hatte. Die Prognosen für die Inflation 2022 liegen zwischen 9,3 und 12,2 Prozent (Schätzung im November 2021: zwischen 5,1 und 6,5 Prozent). Bereits als Folge der Pandemie war die Inflation auf knapp 10 Prozent gestiegen, weshalb die Regierung einen »Antiinflationsschild« verkündete. Die Mehrwertsteuer wurde z. B. für Diesel und Benzin von 23 auf 8 Prozent gesenkt, für Lebensmittel von 8 auf 0 Prozent. Trotz dieser Maßnahmen haben sich gerade die Preise für Lebensmittel besonders stark erhöht, was insbesondere Geringverdienende trifft. Nach der durch den Krieg in der Ukraine noch verstärkten Teuerung wird der »Antiinflationsschild« länger als ursprünglich vorgesehen (Ende Juli 2022) in Kraft bleiben. Hinzu soll ein »Anti-Putinschild« kommen, der Firmen helfen soll, die durch die gegen Putin verhängten Sanktionen Verluste erlitten haben.
Die Wirtschaft Polens spürt in vielfacher Weise Auswirkungen des Kriegs im Nachbarland. Zahlreiche ukrainische Arbeiter haben polnische Firmen verlassen, um für ihre Heimat zu kämpfen. So fehlen etwa dem Bausektor oder dem Transportgewerbe Arbeitskräfte, die so schnell nicht zu ersetzen sind. Im Bausektor betrifft dies vor allem kleinere Subunternehmen, die einen relativ hohen Anteil ukrainischer Arbeitskräfte beschäftigen. Verteuert haben sich auch Baumaterialien. Etwa 20 Prozent des auf Baustellen verbrauchten Stahls kamen aus der Ukraine, Belarus und Russland. Der Immobiliensektor, der durch die Pandemie einen Nachfrageboom erfahren hatte, erlebt seit Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine einen tiefen Einbruch.
Rund zwei Wochen nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine reagierten Supermarktketten wie Lidl, Biedronka oder Żabka mit Angeboten an die unzähligen inzwischen eingetroffenen ukrainischen Frauen, sie im Verkauf oder auch in den Magazinen zu beschäftigen und auch polnischen Sprachunterricht zu vermitteln.
Wie kann die polnische Hilfe für die Ukraine organisiert werden?
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat eine geradezu unglaubliche, das ganze Land erfassende Welle der Hilfsbereitschaft in Polen ausgelöst. Die Emotionen, die der Überfall auf das Nachbarland freigesetzt hat, erinnern zum Teil an die Stimmung nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2005 oder nach dem Flugzeugabsturz der Präsidentenmaschine bei Smolensk 2010. Bisweilen wird das jetzige Ausmaß umfassender gesellschaftlicher Mobilisierung sogar mit dem Entstehen der Solidarność-Bewegung 1980 verglichen. Vermutlich gibt es in fast jedem größeren Ort ein Hilfskomitee, das die Versorgung der Flüchtlinge organisiert.
Nach Polen gelangen vor allem Frauen mit Kindern, in den ersten zwei Wochen des Kriegs waren es etwa 1,5 Millionen Menschen. Sie wurden vor allem von Privatpersonen aufgenommen sowie in provisorischen Unterkünften in Städten und Gemeinden untergebracht. Trotz des allgemeinen Stolzes über solche Ausmaße an Hilfsbereitschaft gibt es bisweilen auch in den Medien Fragen, ob es nicht effizienter wäre, statt Tausender individueller Fahrten an die Grenze Autobusse zu schicken, um die Ukrainer abzuholen, und statt einzelne Hilfspakete zu senden lieber Geld zu sammeln und Großeinkäufe für Sammeltransporte zu organisieren. Der Warschauer Stadtpräsident Rafał Trzaskowski teilte mit, dass die polnische Hauptstadt binnen weniger Tage einen Zuwachs ihrer Bevölkerung um 12 Prozent zu verkraften hatte. Mehr als die angekommenen 200.000 Flüchtlinge könne Warschau nicht aufnehmen. Dasselbe gilt für Krakau (Kraków). Sowohl von privaten Helfern als auch von Vertretern der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung wurde der Ruf nach organisierter staatlicher Hilfe lauter.
Am 8. März 2022 legte die Regierung im Sejm einen Gesetzentwurf zur Hilfe für Bürger der Ukraine vor. Zunächst rief ein PiS-Abgeordneter Empörung mit der Bemerkung hervor, es sei ein Verdienst der Regierung, dass es keine Flüchtlingslager gebe. Oppositionsabgeordnete verwiesen darauf, dass dies ausschließlich einem beispiellosen Engagement »von unten« zu verdanken sei. Unstrittig an dem vorgelegten Gesetzentwurf über die Hilfe für ukrainische Flüchtlinge war, dass alle ukrainischen Staatsbürger, die nach dem Einmarsch russischer Truppen in ihr Land legal, das heißt registriert von den polnischen Grenzorganen, nach Polen eingereist sind, Anspruch auf bestimmte Rechte haben. Hierzu zählt ein zunächst 18-monatiges Aufenthaltsrecht in Polen. Die Aufnahme von Arbeit und der Empfang staatlicher Hilfeleistungen sollen dadurch erleichtert werden, dass diesen Ukrainern eine polnische Nummer zur Identifizierung von Personen (PESEL) verliehen wird. Die Ukrainer bemühen sich um den Erhalt einer solchen PESEL-Nummer offensichtlich in so starkem Umfang, dass sich vor den zuständigen Ämtern lange Warteschlangen bilden. Zu den staatlichen Hilfeleistungen zählen auch medizinische Betreuung sowie das Kindergeld (»500plus«), d. h. 500 Zloty für jedes Kind, das die PiS ab 2016 schrittweise eingeführt hatte und dem sie ganz wesentlich ihren Wahlerfolg von 2019 verdankte. Ferner erhalten Polen, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, finanzielle Unterstützung.
Heftige Diskussionen lösten jedoch vorgesehene Bestimmungen aus, die mit der Hilfe für Ukrainer auch Regelungen verknüpften, die bereits im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung eingesetzt wurden. Dabei sollten Staatsbeamte und Politiker, die ihre Kompetenzen überschritten hatten (z. B. bei der Beschaffung von Medikamenten oder Masken), straffrei gestellt werden. Dies sollte auch in anderen Fällen gelten, die sich z. B. auf die Vergabe von Aufträgen für den Druck von Wahlzetteln beziehen ließen, die u. a. Ministerpräsident Morawiecki und Staatsminister Jacek Sasin für die für Mai 2020 vorgesehenen Präsidentschaftswahlen veranlasst hatten, die dann aber doch nicht zustande kamen. Nach langen Debatten nahm der Sejm das Gesetz auch mit diesen umstrittenen Zusätzen an. Im Senat wurden sie jedoch mit Mehrheit gestrichen. Bei der erforderlichen erneuten Abstimmung im Sejm am 12. März 2022 wurden diese Streichungen beibehalten, da sie auch von drei PiS-Abgeordneten unterstützt wurden (229 zu 227 Stimmen). Präsident Duda unterschrieb das Gesetz noch am selben Tag.
Vereinzelt wird darauf hingewiesen, dass sich diese Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine grundlegend von der Einstellung unterscheidet, die Immigranten entgegengebracht wurde und wird, die im vergangenen Winter über Belarus nach Polen einreisen wollten, aber abgewiesen wurden und zum Teil ohne Versorgung tagelang an der Grenze ausharrten, wobei eine Reihe von Todesfällen zu beklagen war. Bemerkenswert ist auch eine am 12. März veröffentlichte Umfrage, nach der 74 Prozent der repräsentativ befragten Bevölkerung dafür plädierten, dass die einzelnen Länder der EU nach einem Verteilerschlüssel nach Polen geflüchtete Ukrainer aufnehmen sollten. Nur sieben Prozent waren dagegen. Während der Flüchtlingskrise 2015 hatten die ostmitteleuropäischen Staaten es kategorisch abgelehnt, auch nur eine geringe Zahl von Immigranten aufzunehmen, deren riesige Zahl die Kapazitäten von Griechenland und Italien überforderte.
Folgen des Kriegs für das Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern
Auch nach 1989/91 blieb der Umgang mit der Geschichte, insbesondere mit den polnisch-ukrainischen Beziehungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs, eine latente Quelle von Spannungen, die je nach der aktuellen Lage im einen wie im anderen Land aufbrechen konnten. Es gab dabei immer wieder Reibungen, die sich insbesondere an der unterschiedlichen Beurteilung von Stepan Bandera entzündeten. Im Juli 2016 nahm das polnische Parlament fast einstimmig ein Gesetz an, das die Ermordung polnischer Zivilisten durch die UPA als Völkermord bezeichnete – gegen heftigen Protest aus der Ukraine. Dabei war kurz zuvor der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Rande des in Warschau stattfindenden NATO-Gipfels, an dem er als Gast teilnahm, vor einem Denkmal für die Wolhynien-Opfer niedergekniet.
Eine neue Etappe in diesem Konflikt wurde durch die Novellierung des polnischen Gesetzes über das Institut des Nationalen Gedenkens vom 26. Januar 2018 eingeleitet. Darin wurden mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren nicht nur Personen bedroht, die Polen beschuldigten, während des Zweiten Weltkriegs Verbrechen an Juden begangen zu haben, sondern auch Personen, die Verbrechen verharmlosten, die von ukrainischen Nationalisten zwischen 1925 und 1950 sowie von mit dem »Dritten Deutschen Reich« zusammenarbeitenden Verbänden begangen wurden. Diese Bestimmungen lösten nicht nur in Israel, sondern auch in der Ukraine Empörung aus. Sie wurden nach Protesten aus Israel und den USA zwar dahingehend geändert, dass keine Haftstrafe mehr droht. Die Proteste aus der Ukraine spielten dabei aber so gut wie keine Rolle.
Dieses Vorgehen von Regierungsseite in Polen wurde begleitet von der Zerstörung von Denkmälern für die UPA in Gemeinden der ukrainischen Minderheit in Polen durch polnische Nationalisten. Die Antwort von offizieller ukrainischer Seite bestand darin, dass polnischen Historikern, die die sterblichen Überreste ermordeter Polen in Wolhynien exhumieren wollten, die weitere Arbeit untersagt wurde. Dieses Verbot wurde inzwischen aufgehoben.
Vor diesem Hintergrund könnte die spontane, nahezu die gesamte Gesellschaft ergreifende Hilfsbereitschaft der Polen für die Flüchtlinge aus der Ukraine zu einem Neuanfang in den Beziehungen zwischen Polen und Ukrainern führen, zumal die Ukrainer diese Hilfe dankbar anerkennen. Viele der Flüchtlinge werden nach dem Ende der Kampfhandlungen in ihre Heimat zurückkehren. Polen benötigt jedoch aufgrund seiner demografischen Situation mittel- und langfristig den Zustrom von Arbeitsimmigranten, wenn die Dynamik seiner wirtschaftlichen Entwicklung gesichert werden soll. Aus keinem Land sind dabei – außer aus Belarus – Zuwanderer so willkommen wie aus der Ukraine.
Eine dauerhafte Einwanderung aus der Ukraine stellt die polnische Gesellschaft und Politik jedoch auch vor eine Reihe von Herausforderungen. Für Schulkinder aus der Ukraine müssen ebenso wie für Vorschulkinder entsprechende Integrationsprogramme entwickelt werden, was aus inhaltlichen wie personellen Gründen sicher eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Die polnische Gesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewohnt war, in einem ethnisch weitgehend homogenen Staat zu leben, müsste akzeptieren, dass in Polen auch eine wachsende nichtpolnische Minderheit mit entsprechenden Rechten lebt. In der Adelsrepublik (bis 1795) und in der Zweiten Republik der Zwischenkriegszeit war Polen von einer starken ethnischen Vielfalt geprägt. Sich daran zu erinnern, könnte auch eine Chance sein, nach dem Ende der gegenwärtigen Kampfhandlungen in der Ukraine auf der staatlichen wie auf der zivilgesellschaftlichen Ebene neue gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine aufzubauen.