Ist Polen (noch) ein christliches Land?

Von Dominika Kozłowska (Znak, Krakau)

Zusammenfassung
Das Bild der römisch-katholischen Kirche in Polen, wie wir es seit Jahrzehnten kennen, löst sich vor unseren Augen auf. Die größte Krise begann mit der Machtübernahme der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die sich die Verteidigung des Katholizismus auf ihre Fahnen geschrieben hat. In den letzten Jahren verlor die Institution Kirche stark an Ansehen und die Menschen wandten sich massenhaft von ihr ab. Von einer schleichenden Säkularisierung der polnischen Gesellschaft kann immer weniger die Rede sein, denn die Veränderungen vollziehen sich immer schneller. Die Krise der Kirche lässt sich in drei aufeinanderfolgenden Etappen darstellen, die mit den folgenden Themen korrespondieren: Haltung gegenüber Flüchtlingen [der Text entstand im Herbst 2021, Anm. d. Red.], Rechte der Frauen und Pädophilie im Klerus.

Erste Etappe. Das Jahr 2015 – die Haltung gegenüber Flüchtlingen

»Polen hat sich 2015 gegen die Flüchtlingswelle gewehrt und wird sich auch jetzt wehren. Wir werden verantwortungsvoll handeln, wir sind vorbereitet und werden Polen verteidigen«, sagte Piotr Gliński, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Kultur, nationales Erbe und Sport, im August 2021.

Das Wetter im August war in Polen nicht gut. Die kalten und regnerischen Tage erinnerten eher an Spätherbst denn an Hochsommer. Auch in Usnarz Górny, nahe der polnischen Grenze zu Belarus, regnet es am 30. August. Polnische Grenzsoldat:innen wärmen sich in trockenen Zelten. Die 32 Afghaninnen und Afghanen, die an der Grenze aufgehalten werden, sind durchnässt und krank. Frau Gul steht nicht auf. Sie hat hohes Fieber und eine flache Atmung. Nargies muss sich übergeben. Auch andere sind krank, einige von ihnen schwer. Der Bach, aus dem sie Wasser geschöpft haben, hat sich in einen schlammigen Matsch verwandelt. Jetzt haben sie keinen Zugang mehr zu Wasser. Das letzte Mal haben sie am Vortag etwas gegessen, trockenes Brot. Das hatten sie von den belarusischen Grenzwächtern bekommen, die ihnen durch einen engen Kordon den Rückweg abschneiden. Der polnische Grenzschutz verweigert den Afghan:innen rigoros medizinische Hilfe. All dies erfahren wir dank der Freiwilligen, Journalist:innen und mehrerer Geistlicher und Oppositionspolitiker:innen, die versuchen, den Flüchtlingen vor Ort zu helfen.

An den Hilfsmaßnahmen beteiligte Aktivist:innen bemühen sich auf verschiedene Weise, den Dingen eine positive Wendung zu geben. Einige, wie die Freiwilligen des Warschauer Klubs der Katholischen Intelligenz (Klub Inteligencji Katolickiej), sind nach Usnarz Górny gekommen und versuchen dort jeden Tag, die Flüchtlinge mit Medikamenten und Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem haben sie einen Appell an die polnische Bischofskonferenz gestartet, mit der Bitte, bei der Regierung zwecks Aufnahme einer Gruppe von Flüchtlingen aus Afghanistan zu vermitteln. Dabei berufen sie sich auf den bewegenden Appell, den der Rat für Migration, Tourismus und Wallfahrten der polnischen Bischofskonferenz verkündet hat. Andere unterstützen Organisationen, die Rechtshilfe leisten.

Das Drama dieser Flüchtlinge ist Thema in den Medien. Andere Dramen sind schwieriger publik zu machen. Seit einigen Wochen vollzieht der polnische Grenzschutz regelmäßig illegale Push-Backs, das heißt, er zwingt ausländische Männer und Frauen, die sich bereits in Polen aufhalten und internationalen Schutz suchen, zur Rückkehr nach Belarus. Auf der anderen Seite der Grenze tun die dortigen Grenzschützer dasselbe und treiben die Flüchtlinge, die sich dort befinden, in einen Zustand hoffnungslosen Ausharrens, eingezwängt zwischen den Sicherheitsorganen beider Länder.

Verschärft wird die Krise durch das schwierige politische Umfeld: das vorsätzliche Handeln des Regimes von Alexander Lukaschenko, das mit Hilfe von speziellen Reisebüros Flüchtlinge an die Grenzen zu Polen und Litauen transportiert und die Migrant:innen instrumentalisiert, um die Lage im Osten der Europäischen Union zu destabilisieren.

Im September wird die Arbeit der Freiwilligen und Journalist:innen durch die Verhängung des Ausnahmezustands seitens der polnischen Regierung in Teilen der Woiwodschaften Podlachien (województwo podlesie) und Lublin (woj. lubelskie) behindert. Von einem Tag auf den anderen wird die Öffentlichkeit von Informationen über die Aktivitäten der Behörden an der Ostgrenze abgeschnitten.

CBOS, das wichtigste polnische Meinungsforschungsinstitut, befragte die Polen erstmals im Jahr 2004 zu ihrer Einstellung gegenüber Flüchtlingen. Bei der nächsten Umfrage 2015 änderte sich deren Einstellung zu Flüchtlingen trotz des Abstandes von mehr als zehn Jahren kaum. Immer noch waren drei Viertel der Befragten (76 Prozent) der Meinung, Polen solle verfolgten Menschen Schutz bieten.

Im selben Jahr kam die rechtspopulistische PiS mit massiver Unterstützung der Kirche an die Macht. Seit ihrer Gründung vertieft diese Partei mit ihrem Handeln konsequent die Spaltung der Gesellschaft. 2015 mussten die Flüchtlinge dafür herhalten. In diesem Jahr sah sich die Europäische Union durch die Migrationswelle ihrer größten politischen Krise seit Jahrzehnten gegenüber. Der Vorschlag, die Mitgliedsstaaten sollten aus Solidarität Flüchtlinge aufnehmen, spaltete die polnische Gesellschaft in Befürworter:innen und Gegner:innen einer Hilfe für die Kriegsopfer aus Syrien, dem Irak oder der Ukraine. Die polnische Gesellschaft weist eine der höchsten Quoten gläubiger Menschen in Europa auf, und dennoch reichten wenige Monate einer anschwellenden Negativkampagne, um die Akzeptanz für eine gastfreundliche Aufnahme der Neuankömmlinge in Polen drastisch zu senken. Im Februar 2016 betrug dieser Wert gerade einmal 39 Prozent. Davon sprachen sich nur 4 Prozent für die Aufnahme von Flüchtlingen und deren Ansiedlung in Polen aus. 35 Prozent befürworteten eine vorübergehende Unterstützung, bis die Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten. Dagegen waren 57 Prozent der Meinung, Polen solle überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen. Auch die aktuelle Krise [im Jahr 2021, Anm. d. Red.] trägt nicht dazu bei, diese Relationen in der öffentlichen Meinung zu ändern. Die Umfrageergebnisse bleiben auf einem ähnlichen Niveau wie 2016. Binnen kurzer Zeit haben also einige Millionen Polinnen und Polen ihre Einstellung in einer so wichtigen Frage geändert.

Aus Sicht des Christentums gibt es kaum eine eindeutigere Prüfung für die Treue zum Evangelium als die Haltung gegenüber Mitmenschen, die uns um Hilfe bitten. Und doch ist der Katholizismus, den sich Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der Regierungspartei, auf die Fahnen geschrieben hat, kein ausreichender Grund, um die Grenzen für Fremde in Not zu öffnen. Er ist nicht einmal ein Hindernis für absichtliche Aktionen, die darauf abzielen, Flüchtlinge zu entmenschlichen und sie vor allem als Barbar:innen und potenzielle Terrorist:innen statt als Mitmenschen hinzustellen.

Die Bischöfe riefen zwar zur Aufnahme von Flüchtlingen auf und setzten sich sogar für die Einrichtung eines humanitären Korridors ein (Bischof Zadarko), doch ihr Appell blieb in der Öffentlichkeit ohne Resonanz. Sie hatten auch keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen der angeblich katholischen Politiker:innen. Dies zeigt die Schwäche der katholischen Kirche in Polen, die Illusion ihrer Macht, denn sie findet bei politischen Wahlen der Gläubigen kein Gehör und hat sich von der Regierungspartei instrumentalisieren lassen. Mit anderen Worten: Die Politiker:innen ergreifen »katholische« Maßnahmen rein selektiv, und zwar nur dann, wenn es ihnen passt (Verschärfung des Abtreibungsrechts), sonst nicht. Die Ansichten der Gläubigen sind wiederum in erster Linie vom politischen Diskurs geprägt, also von einem säkularen und nicht von einem spirituell-ethischen.

Die Frage, ob das Christentum in Polen angekommen ist, scheint heute nicht unbegründet. Natürlich wurde der Katholizismus in Polen in seiner institutionellen und rituellen Dimension übernommen. Aber wurde das Christentum als solches ebenso stark angenommen? Hier sind die Indikatoren subtiler. Statistiken, die belegen, wie viele Menschen die Sonntagsmesse besuchen, können diese Frage jedenfalls nicht beantworten. Für mich sind der Maßstab für eine Verinnerlichung des Christentums eher unsere alltäglichen Einstellungen, Verhaltensweisen und Entscheidungen. Und um diese steht es, statistisch gesehen, nicht gut. Nicht nur die Haltung gegenüber Flüchtlingen, sondern auch gegenüber den eigenen Landsleuten, die zum Beispiel nicht heteronormativer sexueller Orientierung sind, ist in Polen zutiefst unchristlich. Das gilt auch für die Einstellung zu Frauen, die in Polen immer noch nicht als mit Männern gleichberechtigt behandelt werden. Häusliche Gewalt, oder vielmehr ihre Prävention, steht auf der gesellschaftlichen Prioritätenliste ziemlich weit unten. Auch die Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen, Ausgegrenzten oder Angehörigen verschiedener anderer Minderheiten lässt zu wünschen übrig. Schließlich ist in der Gesellschaft ein geringes Maß an Vertrauen untereinander vorhanden. Die polnische Gesellschaft ist also nur scheinbar christlich.

Zweite Etappe. 2016 – Die Kirche verliert die Frauen

So viel wie die PiS und die Kirche hat bisher niemand zur Entwicklung der Frauenbewegung und zur Verbreitung des Bewusstseins für die Rechte der Frauen beigetragen. Im Oktober 2016 rief ein »Gesamtpolnischer Frauenstreik« (Ogólnopolski Strajk KobietOKS) als Reaktion auf die geplante Verschärfung des in Polen seit 1993 geltenden Abtreibungsgesetzes zu einem »schwarzen Protest« nach dem Vorbild des Streiks der isländischen Frauen von 1975 auf. Hunderttausende Frauen und Männer gingen in polnischen Städten auf die Straße, um gegen die Pläne der Regierung zu protestieren. Unter dem Eindruck der Massendemonstrationen nahm die Regierung von ihren Plänen Abstand. Bis auf weiteres.

Mit der Entscheidung vom Oktober 2020 beschloss das polnische Verfassungsgericht, dass die Bestimmung, die bei einer schweren und irreversiblen Behinderung des Fötus oder einer unheilbaren, für ihn lebensbedrohlichen Krankheit einen Schwangerschaftsabbruch erlaubt, nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sei. Diese Entscheidung wurde von einem Gremium gefällt, an dessen Unparteilichkeit und Unabhängigkeit berechtigte Zweifel bestehen. Diesem Gremium gehörten drei so genannte »Richter-Double« an, Personen also, die nicht zur Verhandlung von Rechtssachen befugt sind, und die Vorsitzende, Julia Przyłębska, wurde in einem von schweren Rechtsverstößen überschatteten Verfahren zur Präsidentin des Gerichts ernannt.

Bei den Frauenprotesten 2016 ging es zunächst vor allem um die Frage des Abtreibungsrechts, dessen Verschärfung sowohl von Anti-Abtreibungsorganisationen als auch von der Kirchenhierarchie gefordert wurde. Im Lauf der Zeit breiteten sich die Proteste auf weitere Themenkomplexe aus und führten in jüngster Zeit dazu, dass die Verbindungen zwischen Staat und Kirche und die Hegemonie der letzteren in Frage gestellt wurden. Daher rührte auch der ausgeprägt antiklerikale und zuweilen antireligiöse Charakter der Proteste im Herbst 2020. Die Wut auf die Kirche hängt aber nicht nur mit ihrer Einflussnahme auf das Abtreibungsrecht zusammen. Auch die Aufdeckung von Pädophilie und sexuellem Missbrauch durch einige Kirchenvertreter sowie die systematische Vertuschung durch die Kirchenführung nährt eine antiklerikale Stimmung. Ein weiteres Thema, das allgemeine Empörung hervorrief, war die Beteiligung von Bischöfen an der Kampagne gegen LGBT+-Personen.

Lange Zeit galt die Kirche als stabilisierendes Element der rechtlichen Regelungen in Polen zu Lebensschutz, Fortpflanzungsfragen oder Familienformen. Das hat jedoch damit zu tun, dass die in Polen geltenden Normen – im Vergleich zu denen in westeuropäischen Ländern – äußerst konservativ sind.

Bis 2015, als die PiS-Regierung an die Macht kam, gab es in Polen einen fragilen und stark kritisierten, aber dennoch realen Konsens in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Dieser Konsens, der sich in den 1990er Jahren herausgebildet hatte, galt auch unter der von der Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO) geführten Regierung, als die Kritik an der Kirche an Stärke zunahm. Zur Regierungszeit der PO wurden die oben genannten Themen jedoch so in die öffentliche Debatte eingeführt, dass die Stimme der Kirche (auch wenn sie von Politiker:innen geäußert wurde, die sich auf den Standpunkt der Bischöfe bezogen) bei den jeweiligen Entscheidungen letztlich den Ausschlag gab. So war es etwa bei dem Versuch, eine Diskussion über den rechtlichen Rahmen für Lebenspartnerschaften anzustoßen, der in einem Fiasko endete und zu einem höchst demagogischen Streit über »Gender-Ideologie« führte.

Der Abtreibungskompromiss wurde von der Kirche in gewisser Weise akzeptiert. Die Bischöfe betonten zwar, Ziel des Gesetzes solle der volle Schutz des gezeugten Lebens sein, doch erst in den letzten Jahren begannen sie, Initiativen zur Verschärfung der geltenden Bestimmungen ausdrücklich zu unterstützen. Es sei daran erinnert, dass die Kirchenführung nach 1997, als das Verfassungsgericht anerkannte, dass das menschliche Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis an rechtlich geschützt ist, keine weiteren Änderungen in Richtung einer restriktiveren Handhabung des Abtreibungsrechts anstrebte. Als die Partei Liga Polnischer Familien (Liga Polskich RodzinLPR) wiederum 2007 zusammen mit Sejm-Marschall Marek Jurek und einem Teil der PiS den Schutz des Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an in der Verfassung festschreiben wollte, schwieg der Episkopat, und einige Kirchenführer wie Erzbischof Tadeusz Gocłowski oder Erzbischof Józef Życiński machten deutlich, dass eine solche Änderung unklug wäre. Heute ist von dieser früheren – man könnte sagen: Zurückhaltung – nichts mehr zu spüren. Die Bischöfe haben sich nunmehr eindeutig auf die Seite der ultrakonservativen Alt-Right-Bewegungen [Kurzform von alternative right (alternative Rechte): Ideologien am Rand der politischen Rechten – ursprünglich in den USA –, die von weiß-christlichem Suprematismus geprägt sind (Anm. d. Red.)] gestellt.

Der bei den Umfragen der beiden Meinungsforschungsinstitute CBOS und IBRiS festgestellte öffentliche Vertrauensverlust der Kirche legt nahe, dass diese in naher Zukunft gesellschaftlich und politisch nicht mehr die Rolle spielen wird wie in den ersten Jahrzehnten der Dritten Polnischen Republik, insbesondere bis 2005, das heißt bis zum Tod von Johannes Paul II. Die derzeitige Krise im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Geistliche, der Verwicklung einiger Bischöfe in Sexualdelikte oder der Deckung der Täter trägt zur Schwächung der verknöcherten Strukturen innerhalb des Klerus bei. In den Augen vieler Gläubigen haben die Bischöfe in Polen ihre Glaubwürdigkeit verloren, und die Kirche als Institution hat bewiesen, dass sie keine öffentliche Autorität mehr sein kann.

Dieser Vertrauensverlust hat auch tiefere Wurzeln und ist zu einem großen Teil auf den Weg zurückzuführen, den der polnische Episkopat nach 1989 eingeschlagen hat. Historisch gesehen nennen wir diesen Weg die Allianz von Thron und Altar, aber Zbigniew Nosowski, Chefredakteur der katholischen Zeitschrift Więź, hat ihn kürzlich noch treffender als »Konkubinat« bezeichnet. Auf jeden Fall war der Vertrauensverlust in die Kirche nach 1993 noch nie so groß wie heute.

Wichtig ist, dass sich die letzten Proteste zumindest teilweise auch gegen eine Kirche richteten, die sich angesichts des vom herrschenden Lager vom Zaum gebrochenen gesellschaftlichen Konflikts klar auf dessen Seite gestellt hat. Auch hat es die heutige Kirche in Polen versäumt, eine Beziehung zur jüngsten Generation aufzubauen, die Anfang der 1990er Jahre geboren wurde und erst vor kurzem ins Erwachsenenleben eingetreten ist. Für diese Generation ist die Kirche kein Bezugspunkt für die öffentliche Moral. Sie hat keine Erinnerung an die historischen Verdienste der Kirche zur Zeit der Entstehung der demokratischen Opposition in der kommunistischen Volksrepublik.

Die jüngere Generation, die sich so zahlreich an den letzten Streiks beteiligte, kennt den Kontext des früheren Gesellschaftsvertrags nicht, der aus den stürmischen Auseinandersetzungen der frühen 1990er Jahre resultiert. Der Abtreibungskompromiss wird heute zunehmend als ein Element des alten Konsenses wahrgenommen, an dem die katholische Kirche und ein großer Teil der früheren Oppositionskreise beteiligt waren. Während der »schwarzen Proteste« organisierte eine Gruppe von Warschauer Feministinnen eine Bischofskonferenz der Polinnen – ein Happening, das vor Kirchen stattfand und auf die Diskriminierung von Frauen in kirchlichen Einrichtungen und die Tatsache aufmerksam machte, dass es Männer sind, die mit Männern Frauenrechte verhandeln.

Für Katholikinnen und Katholiken ist die Stimme der Kirche in Fragen des Glaubens und der Moral wichtig, besonders wenn es die Stimme des Papstes ist, der ex cathedra spricht. Allerdings ist auch im Bereich des religiösen Glaubens das individuelle Gewissen die letzte Instanz, der ein Mensch folgen muss. Die Erfahrung zeigt, dass die Lehre der Kirche unzureichend sein kann, und aus ihrer Geschichte sind Fälle bekannt, in denen Personen rehabilitiert wurden, die zuvor mit den Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes in Konflikt geraten waren. Ich halte die Praxis, dass der Staat sich nach den Entscheidungen der römisch-katholischen Kirche richtet und auf deren Grundlage Gesetze erlässt, für falsch und schädlich für das bürgerliche Leben. Natürlich möchte ich weder Bischöfen noch anderen Geistlichen das Recht absprechen, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen, auch nicht, in einer besonderen und privilegierten Rolle aufzutreten, wie sie verschiedenen Autoritäten (sei es im Bereich der Wissenschaft, der Philosophie oder der Moral) zugesprochen wird. Vielmehr geht es mir darum, den Irrglauben zu korrigieren, ihre Stimme sei automatisch wichtiger als die Stimme von Menschen mit einer anderen moralischen Sensibilität. Zweifellos werden die sich verändernde Rolle der Kirche in Polen und die Krise ihrer Autorität Auswirkungen haben für die künftige Entwicklung der Abtreibungsdebatte.

Dritte Etappe. Das Jahr 2018 – Sexualdelikte von Geistlichen und das Schweigekartell

Auf dem Cover des kürzlich erschienenen Buches »Gott und die polnische Frage« (Bóg a sprawa polska) von Mirosława Grabowska, einer der bekanntesten polnischen Soziologinnen und Kirchenwissenschaftlerinnen, prangt ein charakteristisches Foto. Es zeigt Arbeiter in der Danziger Werft während des Streiks im August 1980. Die überwiegende Menge der Arbeiter kniet um ein freies Rechteck in der Mitte, in dem ein Tisch steht, der mit einem weißen Tischtuch bedeckt ist, daneben ein Priester, der einem der Arbeiter die Beichte abnimmt. Dieses Foto veranschaulicht perfekt den polnischen Volksglauben im gesellschaftlichen und politischen Kontext.

Obwohl im Editorial des Buches nicht verraten wird, wer der Beichtvater ist, ist diese Person in Polen zu bekannt, um anonym zu bleiben. Es geht um den Prälaten Henryk Jankowski, einst ein legendärer Priester der Solidarność, heute jemand, der posthum pädophiler Handlungen beschuldigt wird.

Das heute nicht mehr existierende Denkmal für Pater Henryk Jankowski wurde auf Initiative eines Komitees errichtet, dem viele ehemalige Aktivisten der legendären Solidarność angehörten. Am 31. August 2012, dem Jahrestag der Unterzeichnung der Augustabkommen von 1980, die einen großen Sieg für die demokratische Opposition darstellten, weihte Erzbischof Sławoj Leszek Głódź, der Metropolit von Danzig (Gdańsk), das Denkmal ein. Die Veranstaltung war pompös, was perfekt zum luxuriösen Lebensstil des Erzbischofs passte. Es nahmen Vertreter:innen der staatlichen Behörden, der Stadtverwaltung und der Geistlichkeit an der Veranstaltung teil. Auch der Platz, auf dem man das Denkmal errichtete, wurde nach Pater Henryk Jankowski benannt.

Im Dezember 2018 veröffentlichte Duży Format, eine Wochenbeilage der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, eine Reportage mit dem Titel »Das Geheimnis der Heiligen Birgitta. Warum ließ die Kirche zu, dass Pater Jankowski jahrelang Kinder missbrauchte?« (Sekret Świętej Brygidy. Dlaczego Kościół przez lata pozwalał księdzu Jankowskiemu wykorzystywać dzieci?) von der inzwischen verstorbenen, sehr geschätzten Journalistin Bożena Aksamit. Nach der Veröffentlichung forderten viele bekannte Persönlichkeiten die Entfernung des Danziger Denkmals aus dem öffentlichen Raum. Kurz darauf, im Februar 2019, wurde das Denkmal gegen drei Uhr morgens von drei Männern umgestürzt. Die Aktion wurde von dem Journalisten Tomasz Sekielski dokumentiert, der durch zwei Filme bekannt wurde, in denen er den sexuellen Missbrauch durch Geistliche und das Schweigekartell ihrer Vorgesetzten aufdeckte. Sie legten ein Messdienergewand und Kinderunterwäsche auf die vom Sockel gelöste Statue. Dann warteten die Männer, die von den Medien als »Täter zivilen Ungehorsams« bezeichnet wurden, auf das Eintreffen der Polizei. Obwohl die gesamte Aktion darauf abzielte, die Statue zu entfernen und nicht zu zerstören (sie blieb unbeschädigt), werden die Männer bis zum heutigen Tag strafrechtlich verfolgt.

Der »Denkmalsturz« begann jedoch schon früher

Anfang des Jahres 2018 lockte der Spielfilm »Klerus« (Kler) des renommierten polnischen Regisseurs Wojciech Smarzowski zur Premiere fünf Millionen Zuschauer in die Kinos. Der Film erzählt das Leben dreier katholischer Priester, Kollegen aus dem Priesterseminar. Pater Lisowski ist Angestellter der Kurie in einer großen Stadt. Er träumt davon, in den Vatikan zu ziehen, wird aber von Erzbischof Mordowicz daran gehindert, der seinen politischen Einfluss nutzt, um das größte Gotteshaus Polens zu bauen. Pater Trybus ist ein Dorfpfarrer, der mit dem Alkohol und einer zunehmend komplizierten Beziehung zu einer Frau zu kämpfen hat. Schließlich, und das ist vielleicht der wichtigste Punkt, verliert Pater Kukuła unter dem Eindruck der Ereignisse in seiner Gemeinde das Vertrauen der Gläubigen. Nebenbei geht es um die Sünden der Kirche, vor allem um Pädophilie und das Decken der Täter. Die im Film präsentierten Fragmente von Zeugenaussagen pädophiler Priester stammen aus dem 2013 erschienenen Buch des Journalisten Ekke Overbeek (Overbeek, Ekke: Fürchtet euch. Jetzt sprechen die Pädophilie-Opfer in der polnischen Kirche (Lękajcie się. Ofiary pedofilii w polskim Kościele mówią), Warszawa 2013).

Im Mai 2019 hatte der Dokumentarfilm »Erzähl es bloß niemandem« (Tylko nie mów nikomu) der Brüder Tomasz und Marek Sekielski auf youtube Premiere und wurde von über 20 Millionen Internetnutzer:innen gesehen. Zwei Jahre später wurde ein zweiter Teil des insgesamt als Trilogie geplanten Filmprojekts uraufgeführt – »Versteckspiel« (Zabawa w chowanego) [Beide Filme sind mit deutschen Untertiteln verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=BrUvQ3W3nV4 und https://www.youtube.com/watch?v=T0ym5kPf3Vc (21.11.2021) (Anm. d. Red.)]. Daraufhin kam es zu einem massiven Erdbeben.

Die Brüder Sekielski deckten auf, dass die Diözese Kalisz nach Bekanntwerden eines von einem Priester begangenen Sexualdelikts 15 Jahre lang keine kirchenrechtliche Untersuchung gegen den Geistlichen einleitete, der wegen Missbrauchs und Belästigung von achtjährigen Kindern rechtskräftig verurteilt worden war. Der Film zeigt, wie Bischof Edward Janiak die Eltern eines jungen Mannes behandelte, der in seiner Kindheit von einem Priester dieser Diözese sexuell missbraucht worden war.

Unmittelbar nach der Ausstrahlung des Films übermittelte der Primas von Polen dem Vatikan über die Apostolische Nuntiatur die Mitteilung, der Bischof von Kalisz könne eine Handlung begangen haben, die im Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus Vos estis lux mundi beschrieben wird als »Handlungen oder Unterlassungen, die darauf abzielen, zivile oder kirchenrechtliche Untersuchungen zu stören oder zu vermeiden«. In diesem Fall geht es darum, dass mindestens zwei Jahre lang versäumt wurde, ein kirchenrechtliches Verfahren einzuleiten, obwohl zuverlässige Informationen über den sexuellen Missbrauch eines Minderjährigen vorlagen.

Auch Priester aus Kalisz revoltierten. Wenige Tage nach der Premiere des Films weigerte sich der Priesterrat der Diözese Kalisz, ein Unterstützungsschreiben für Bischof Janiak zu unterzeichnen, dem die Deckung und Vertuschung von Pädophilie vorgeworfen wurde. Nach einer hitzigen Diskussion einigte sich der Priesterrat – anstelle des langen, dreiseitigen Unterstützungsbriefs – auf ein anderes Schreiben. Dabei handelt es sich um einen kurzen Brief an Papst Franziskus mit der Bitte um Klärung der Vorwürfe gegen den Bischof und der Zusicherung, dass man für die Situation in der Diözese beten würde.

Dies ist in der polnischen Kirche eine noch nie dagewesene Situation. In der Vergangenheit konnten Bischöfe, die des Missbrauchs oder bestimmter Versäumnisse beschuldigt wurden – wie Erzbischof Paetz oder Erzbischof Głódź –, erfolgreich die Unterstützung des Klerus für sich organisieren. Für sie war es damals nicht wichtig, ob diese Unterstützung echt oder erzwungen war. Was zählte, war das dem Vatikan vorgelegte Dokument mit den Unterschriften, nicht die tatsächlichen Meinungen der Priester.

Bald stellte sich heraus, dass Bischof Edward Janiak, der mutmaßlich Sexualstraftäter gedeckt hatte, in einem von Priestern dem damaligen Nuntius Erzbischof Józef Kowalczyk übergebenen Brief selbst beschuldigt wurde, sich unangemessen gegenüber Klerikern verhalten zu haben, als er noch Weihbischof in Breslau (Wrocław) war. Der Nuntius hatte diesen Brief jedoch, wie herauskam, nie an den Vatikan weitergeleitet.

Kurz nach den Ereignissen in Kalisz wurde eine kirchenrechtliche Untersuchung über die Versäumnisse von Erzbischof Sławoj Leszek Głódź eingeleitet, und dem Breslauer Kardinal Henryk Gulbinowicz wurden – nach einer Untersuchung durch den Heiligen Stuhl – das Recht auf die bischöflichen Insignien sowie auf Trauerfeier und Begräbnis in der Kathedrale entzogen. Zur selben Zeit, als der Vatikan seinen Bericht über den ehemaligen Erzbischof von Washington, Theodore McCarrick – den ersten Kardinal der katholischen Kirche, der wegen im Priesteramt begangener sexueller Übergriffe sein Amt verlor –, veröffentlichte, wurde in Polen die Reportage Don Stanislao gezeigt. Hauptfigur war Kardinal Stanisław Dziwisz, langjähriger Sekretär Johannes Pauls II. und nach dessen Tod Erzbischof von Krakau (Kraków). Die Ausstrahlung des Films löste in Polen eine Lawine von Fragen aus über die Beteiligung des Kardinals an der Vertuschung von Sexualdelikten während seiner Tätigkeit für den polnischen Papst und über Versäumnisse in der Erzdiözese.

Viele Jahrzehnte lang herrschte in der polnischen Kirche ein Kartell des Schweigens. An den Vatikan übermittelte Informationen wurden blockiert. Personen, von deren Straftaten man wusste, wurden von Ort zu Ort versetzt, oft sogar befördert. Und wenn im Vatikan selbst etwas nicht mehr verborgen werden konnte, wurden die Täter – wie im Fall Paetz – nach Polen überstellt. Diese schufen dann vor Ort neue Strukturen, die Übergriffe begünstigten. Und dieses Kartell bestand jahrelang.

Im Fall von Kardinal Gulbinowicz lassen sich erste Informationen über dessen ungebührliches Verhalten in den Unterlagen des kommunistischen Geheimdienstes finden. Vieles deutet aber darauf hin, dass auch einige Vertreter der Kirche davon wussten, zumindest diejenigen, die dem Kardinal in seiner Zeit als Dozent und Rektor (1968–1970) des Priesterseminars in Allenstein (Olsztyn) nahestanden. Aus dieser Zeit stammt auch seine Freundschaft mit dem damaligen Seminaristen und späteren Apostolischen Nuntius in Polen Józef Kowalczyk, der die Aktionen derjenigen blockierte, die den Fall von Erzbischof Paetz publik machen wollten. Ähnlich handelte der Nuntius im Fall von Bischof Janiak.

Ein paar Jahre später wurde der junge Priester Sławoj Leszek Głódź persönlicher Sekretär des damaligen Erzbischofs Gulbinowicz in Białystok. Schon in Breslau waren die engsten Mitarbeiter des Kardinals der verurteilte spätere Bischof Jan Tyrawa (einer der unrühmlichen Protagonisten des Films der Brüder Sekielski, der einen pädophilen Priester von Breslau nach Bydgoszcz holte und diesen in einer Schule arbeiten ließ) sowie der bereits erwähnte Bischof Janiak. Kardinal Gulbinowicz führte mehrere Jahrzehnte lang, von 1976 bis 2004, die Erzdiözese Breslau. Er war eine allseits geachtete Persönlichkeit und eine wichtige Figur der demokratischen Opposition in der Zeit der Volksrepublik Polen.

Eine identische Konstellation herrschte in der Erzdiözese Posen (Poznań) unter Erzbischof Juliusz Paetz. Vieles deutet darauf hin, dass dies auch auf die Diözese Łomża zutrifft, als der spätere Metropolit von Posen Stanisław Gądecki dort Bischof war. Die Günstlinge des Erzbischofs wurden zum Studium nach Rom geschickt, bekamen bessere Pfarreien und hatten bessere Aufstiegschancen. Als die Sache ans Licht kam, sammelten die Weihbischöfe, darunter auch Erzbischof Marek Jędraszewski, gegenwärtig Metropolit von Krakau, aktiv Unterschriften unter Unterstützungsschreiben für Paetz. Heute schweigt Erzbischof Jędraszewski über seinen Vorgänger Kardinal Dziwisz.

Man kann jedoch noch weiter zurückgehen, bis ins Jahr 2001. Damals erfuhr die polnische Öffentlichkeit von dem Priester Michał Moskwa, einem Pfarrer aus Tylawa, der beschuldigt wurde, Mädchen aus seiner Gemeinde belästigt zu haben. Die Staatsanwaltschaft in Krosno unter Leitung von Stanisław Piotrowicz, später Mitglied der PiS und heute Richter am Verfassungsgericht, stellte den Fall mit der Begründung ein, es sei keine Straftat begangen worden. Erst nach Presseberichten ordnete die Staatsanwaltschaft eine zweite Untersuchung an, diesmal durch die Staatsanwaltschaft in Jasło. 2004 kam es schließlich zu einer Verurteilung. Der damalige Erzbischof von Przemyśl, Józef Michalik, erlaubte dem Priester jedoch, noch ein Jahr in derselben Gemeinde weiterzuarbeiten. Nach diesen aufsehenerregenden Vorkommnissen dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis der polnische Episkopat erste Leitlinien dafür aufstellte, wie beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch zu verfahren sei und wie dieser verhindert werden könne. Zuvor hatten die Bischöfe argumentiert, das Problem des Missbrauchs in Polen sei nicht so gravierend wie im Westen, und die aufgedeckten Fälle zielten in erster Linie darauf ab, den guten Ruf der Kirche zu schädigen.

Obwohl der Episkopat die Leitlinien 2012 verabschiedete, zeigen die polnischen Erfahrungen, dass das Kirchenrecht so lange stumpf bleibt, bis der Druck der Medien so stark wird, dass man es nicht mehr bei PR-Reaktionen belassen kann. Einer der größten Erfolge im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch durch Geistliche ist daher, dass dieses Problem endlich von Priestern und katholischen Laien, die nicht mit liberalen oder linken Ansichten assoziiert werden, wahrgenommen und erkannt wurde.

Nicht in unserem Namen

Im Jahr 2020 riefen aus der Kirche Ausgetretene eine Online-Plattform ins Leben, auf der Menschen, die den Kirchenaustritt beschlossen haben, ihre Entscheidung öffentlich machen. Nach vollzogenem Austritt kann jeder auf diesem »Apostasie-Zähler« seine persönlichen Daten eintragen. Seit Bestehen des Zählers haben fast 3.000 Personen erklärt, dass sie aus der Kirche ausgetreten sind.

Viele Menschen, die die Kirche verlassen haben, teilen in den sozialen Medien die Gründe für ihre Entscheidung mit. Ihre Aussagen markieren sie oft mit dem Hashtag »Ich trete auch aus« (#teżodchodzę). Meist wird ein Austritt begründet mit den Angriffen der katholischen Kirche auf Frauen und LGBT+-Personen, der Straffreiheit von Kriminellen in Soutanen, mit geistlichen Führern, die kirchliche Pädophilie decken, dem Strom öffentlicher Gelder auf Kirchenkonten und den unethischen Verstrickungen zwischen der Staatsmacht und den Bischöfen.

Den Trend zum Austritt bestätigen auch kirchliche Daten. Erhebungen von Kirchenämtern der Erzdiözese Warschau (Warszawa) zeigen beispielsweise, dass in ihren Pfarreien von Anfang Januar bis Ende November 2020 445 Kirchenaustritte registriert wurden. Im gesamten Jahr 2019 waren es 220. In der Diözese Warschau-Praga traten im selben Jahr 132 Menschen aus der Kirche aus. Im Vergleich dazu betrugen die Zahlen 85 für das Jahr 2019, 39 für 2018 und 48 für 2017.

Obwohl die Kirche als Institution dank ihrer engen Verbindung zur polnischen Regierungspartei nach wie vor stark ist und zahlreiche Privilegien genießt (Steuerbefreiungen, Religionsunterricht in der Schule, Einfluss auf die Gestaltung von Gesetzen, wie z. B. die jüngsten Änderungen des Abtreibungsgesetzes, die zu einem fast vollständigen Verbot der Abtreibung in Polen führen), hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Klerus in den letzten Jahren stark abgenommen. Dennoch sehen die Bischöfe ihr Heil in der Stärkung des Bündnisses zwischen Thron und Altar, auch wenn allein in den letzten zehn Jahren die Anzahl der polnischen Katholik:innen, die die Sonntagsmesse besuchen, um zweieinhalb Millionen Menschen zurückgegangen ist. In einem Land, das nur halb so viele Einwohner:innen hat wie Deutschland, bedeutet ein solcher Rückgang den Beginn einer Abwärtsspirale. Die Kirche hat bereits mit einer massiven Krise bei Berufungen von Priestern zu kämpfen, deren Zahl sich in den letzten zwei Jahrzehnten um 60 Prozent vermindert hat. Obwohl sich über 90 Prozent der Polinnen und Polen immer noch als gläubig bezeichnen, besuchten vor der Pandemie (2019) nur knapp 37 Prozent von ihnen die Sonntagsmesse. Auch die Anzahl derjenigen, die Zustimmung zur Lehre der Kirche im Bereich der Sexualethik äußern, geht zurück.

Besonders stark sind die Veränderungen bei jungen Menschen, deren Religionsausübung in den letzten 30 Jahren um die Hälfte zurückgegangen ist. Von den Studierenden betrachten sich derzeit nur 30 Prozent als praktizierende Gläubige. 50 Prozent von ihnen geben sogar an, dass die Kirche für sie keine Autorität ist. Auch in den anderen gesellschaftlichen Gruppen nehmen positive Meinungen über die Kirche spürbar ab. Während sich jahrelang etwa 55–60 Prozent der Befragten positiv über die Kirche äußerten, taten dies im Dezember 2020 nur noch etwa 40 Prozent. Diese Angaben finden sich im jüngsten Bericht der Katholischen Presseagentur, »Kirche in Polen« (Kościół w Polsce), von 2021 (siehe Dokumentation auf Seite 9).

Wir wissen mehr über den polnischen Katholizismus vor der Corona-Pandemie. In welcher Realität wir heute leben, ist schwieriger auszumachen. Der polnische Katholizismus war traditionell massentauglich und konzentrierte sich auf öffentliche Formen des religiösen Kults. Die Religiosität war stark zentralisiert und hierarchisch, außerdem waren das Katholische und das Polnisch-Nationale stark miteinander verflochten. Die Corona-Pandemie hat die gesellschaftlichen Gepflogenheiten auch in religiöser Hinsicht dramatisch verändert. Doch nicht nur dadurch hat sich in den letzten zwei Jahren der Status der Institution Kirche verändert. Erheblichen Anteil haben auch die ungesühnten Sünden der Kirche, die von den Amtsträgern beharrlich unter den Teppich gekehrt werden: sexueller Missbrauch, Machtmissbrauch durch Bischöfe und Kirchenobere (Mobbing), der obszöne Reichtum und verschwenderische Lebensstil mancher Kirchenführer, das Verschweigen von Sexualstraftaten sowie die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes.

Die Zukunft der polnischen Kirche liegt mit Sicherheit bei den Laien, die sich zunehmend dazu entschließen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Eine dieser Initiativen ist der Kongress der Katholikinnen und Katholiken. Das ist eine Gruppe von Laien und Geistlichen, die in mehreren thematischen Sektionen zusammenarbeiten und sich bemühen, gemeinsam Lösungen für die Kirche in Polen zu finden. Besonderen Raum nimmt das Problem der Macht ein, besser gesagt, der Dominanz der Macht, wie sie in der Kirche von den Klerikern ausgeübt wird – eine für die Kirche schädliche Vorherrschaft der Kirchenführer gegenüber der geringen Durchschlagskraft von Millionen Laien, die aufgrund des universalen Priestertums der Gläubigen das Recht haben, über Gegenwart und Zukunft der Kirche mitzuentscheiden. An der Arbeit des Kongresses kann sich jeder beteiligen, der die Freiheit des anderen respektiert und anerkennt, dass die Gebote der Liebe ausnahmslos für alle Menschen gelten. Das lässt mit Hoffnung in die Zukunft blicken.

Übersetzung aus dem Polnischen: Uli Heiße

Lesetipps / Bibliographie

Dieser Text ist im Herbst 2021 entstanden und erscheint in »Jahrbuch Polen 2022: Widersprüche«, herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut, Wiesbaden: Harrasowitz Verlag 2022. Das Jahrbuch kann bestellt werden unter der E-Mail-Adresse verlag@harrassowitz.de

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