Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine für Polen

Von Piotr Arak (Polnisches Wirtschaftsinstitut, Warschau)

Zusammenfassung
Als Nachbarstaat erlebt Polen die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine besonders stark. Der bewaffnete Konflikt betrifft bereits jeden Polen, u. a. wegen der Anwesenheit der Flüchtlinge in unserem Land. Die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine, unterstützt von Belarus, hat außerdem Einfluss auf die globale und somit auch die polnische Wirtschaft. Folgen des Krieges zeigten sich bereits im Inflationsindex, der gesellschaftlichen Stimmung, auf dem Arbeitsmarkt sowie auch auf dem Gas- und Ölmarkt.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Polen

Infolge des russischen Krieges in der Ukraine kann das Wirtschaftswachstum in Polen in diesem Jahr mit ca. 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) niedriger ausfallen, insbesondere, wenn der Krieg eine deutliche Schwächung der Aktivitäten in der Eurozone nach sich zieht. Im Dezember 2021 sagte das Polnische Wirtschaftsinstitut (Polski Instytut EkonomicznyPIE) einen Anstieg des BIP auf 4,3 Prozent voraus. Aktuell ist eine vollständige und präzise Schätzung der ökonomischen und finanziellen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die polnische Wirtschaft nicht möglich. Wegen des noch andauernden Krieges wäre sie mit einem außerordentlich großen Risiko behaftet, hinzu käme außerdem die Unsicherheit hinsichtlich der Folgen der Zero-Covid-Politik Chinas und der scharfen pandemiebedingten Restriktionen, die derzeit immer mehr Industrieregionen der Volksrepublik China betreffen.

Laut Untersuchungen des PIE und der Bank für Landeswirtschaft (Bank Gospodarstwa KrajowegoBGK) im März 2022 ist der Krieg in der Ukraine für 42 Prozent der befragten Unternehmen eine Gefahr für ihre wirtschaftliche Tätigkeit. Die meisten Sorgen äußern mit 54 Prozent Unternehmen im Bereich Transport, Spedition, Logistik. Auch im Bausektor weisen 42 Prozent der Firmen auf eine große oder sehr große Gefahr für ihre Tätigkeit hin. Die Befürchtungen der polnischen Firmen waren bereits vor dem Beginn der russischen Invasion sichtbar, treten jetzt aber noch deutlicher zutage. Der Krieg in der Ukraine rief bei den Unternehmen außerdem eine große Unsicherheit in Bezug auf die wirtschaftliche Situation hervor – drei Viertel der Firmen sind der Meinung, dass dieser ein deutliches Hemmnis für die Geschäfte ist.

Die sichtbarste Folge des Krieges sind für die polnische Wirtschaft die teurer werdenden Energieträger, was sich als Preisanstieg an den Tankstellen bemerkbar macht. Wenn sich die hohen Rohstoffpreise für längere Zeit halten, wird die Kaufkraft der privaten Haushalte deutlich leiden, was einen Rückgang des Wirtschaftswachstums in diesem Jahr nach sich ziehen wird.

Auf der anderen Seite steht zu erwarten, dass der Zuzug von Flüchtlingen aus der Ukraine die Konsumausgaben vergrößert. Die Unterhaltskosten für eine Million Menschen in Polen würden sich im Jahr auf über 20 Mrd. Zloty belaufen, d. h. ca. ein Prozent des BIP. Die Ausgaben können allerdings einer Fluktuation unterliegen, denn ein Teil der Flüchtlinge zog weiter nach Westeuropa (u. a. nach Deutschland, Spanien und Italien) und ein Teil kehrte in die Ukraine zurück.

Die unmittelbaren Auswirkungen auf die polnische Wirtschaft infolge der reduzierten Ausfuhren in die Ukraine und nach Russland sollten schätzungsweise gemäßigt sein, denn der Anteil dieser Länder am polnischen Export ist nicht besonders hoch. 2021 betrug er lediglich zwei bis drei Prozent. Größere Störungen können sich aus möglichen Turbulenzen im Import ergeben, denn Polen bleibt stark von den Energierohstoffen aus Russland abhängig.

Günstig für das Wirtschaftswachstum in Polen kann sich die lockerere Fiskalpolitik im Zusammenhang mit dem Krieg auswirken. Die steigenden Ausgaben für die Flüchtlingshilfe und für Rüstung können der Wirtschaft einen positiven Impuls geben, wenn auch nicht so stark, dass der Einfluss der negativen Faktoren auf die wirtschaftliche Aktivität vollkommen ausgeglichen wird.

Gleichzeitig kann der Krieg eine größere Chance sein, schneller einen Kompromiss mit den europäischen Institutionen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu erlangen. Die Inkraftsetzung des von der polnischen Regierung vorgelegten Landesaufbauplans (dessen Gelder zurzeit von der EU-Kommission eingefroren sind) wäre nicht nur für die Wirtschaft ein sehr positives Signal, sondern auch für die Finanzmärkte. Der reale Einfluss der im Rahmen des Landesaufbauplans verfügbaren finanziellen Mittel auf die Wirtschaft wird sich aufgrund des notwendigen administrativen Vorlaufes für die Polen zugewiesenen Allokationen erst Ende 2022/Anfang 2023 zeigen.

Die Inflation laut Verbraucherpreisindex (Consumer Price Index) wird im Jahresdurchschnitt 2022 schätzungsweise 10,8 Prozent betragen und wird ähnlich wie bei den Prognosen zum Wirtschaftswachstum stark von der geopolitischen Lage und den Rohstoffpreisen abhängen. Weizen, Mais und Raps erreichen derzeit (fast) Rekordpreise. Das ist kein Zufall, da Russland und die Ukraine führende Getreideexporteure sind. Es ist bereits davon auszugehen, dass die Welt in diesem Jahr nicht mit Getreidelieferungen aus der Ukraine rechnen kann, da sie die Ausfuhr von grundlegenden Ackernutzpflanzen verboten hat und der Betrieb des Hafens von Odessa durch die Kriegshandlungen gestört wird.

Die polnische Regierung spricht sich für die Aufrechterhaltung des sogenannten Antiinflationsschildes bis Ende 2022 aus. Es handelt sich hierbei um die Verringerung indirekter Verbrauchssteuern, etwa der Mehrwertsteuer für Benzin und Lebensmittel. Wenn diese Reduzierung Ende Juli 2022 aufgehoben werden würde, wie es ursprünglich vorgesehen war, wäre die Dynamik der Verbraucherpreise in diesem Jahr im Jahresdurchschnitt um ca. zwei Prozentpunkte höher.

Es steht zu erwarten, dass die Erhöhung des Zinssatzes fortgesetzt wird. Die Inflation wird in den nächsten Quartalen nicht zu dem erhabenen Ziel von 2,5 Prozent +/- ein Prozentpunkt zurückkehren. Berücksichtigt man, dass vor uns eine Dynamik beim Preisanstieg im zweistelligen Bereich liegt, ist anzunehmen, dass der Rat für Geldpolitik (Rada Polityki Pieniężnej) den Referenzzinssatz der Polnischen Nationalbank (Narodowy Bank PolskiNBP) noch auf mindestens 5,5 Prozent anhebt. Weniger wäre möglich, wenn die wirtschaftliche Aktivität deutlich schwächer wird. Aktuell geht man allerdings eher von einer gemäßigten Abschwächung aus.

Höhere Zinssätze sind notwendig, um die etwas ins Wanken geratene polnische Wirtschaft auszubalancieren, die Folgen werden jedoch weniger Konsum, etwas schwächere Investitionen und in der Folge ein langsameres Wirtschaftswachstum sein. Das im vierten Quartal 2021 festgestellte Wachstum des BIP von sieben Prozent bzw. von acht Prozent im ersten Quartal 2022 kann man für einige Zeit nicht mehr erwarten, denn die Wirtschaft wird infolge der Geldpolitik und der Probleme bei der Nachfrage abkühlen.

Nach dem Ausbruch des Krieges hat die polnische Währung deutlich an Wert verloren. Da der Zloty bereits davor schwach war, kam es zu neuen Rekorden auf dem polnischen Währungsmarkt: über fünf Zloty für einen Euro und fast ebenso viel für einen Schweizer Franken. Ein US-Dollar für 4,60 Zloty war seit mehr als 21 Jahren der höchste Wert für diese Währung. Berücksichtigt man, dass das polnische Finanzministerium plant, die EU-Finanzmittel auf dem Währungsmarkt umzutauschen, ist die Perspektive einer dauerhaften Schwächung des Zlotykurses jedoch gering; eine deutliche Stärkung der polnischen Währung wird dagegen sicherlich dann möglich, wenn sich die geopolitischen Spannungen verringern.

Der Zuzug von Flüchtlingen, der schwächere Währungskurs und die zunehmende Rentabilität der polnischen Staatsanleihen bedeuten größere Ausgaben der Regierung, die von den laufenden Einnahmen nicht gedeckt sind. In der Folge sind ein wachsendes Defizit im öffentlichen Haushalt und ein Anstieg der Schulden absehbar. Glücklicherweise waren die polnische Verschuldung und das Defizit nach der Krise, welche die Corona-Pandemie hervorrief, auf einem Abwärtskurs. Eine Herausforderung für den öffentlichen Haushalt werden auch die angekündigten deutlichen Ausgabenerhöhungen für die Streitkräfte sein. Schon ab 2023 sollen drei Prozent des BIP dafür bereitgestellt werden.

Das Defizit des öffentlichen Haushaltes betrug in Polen im Jahr 2021 1,9 Prozent des BIP und die Verschuldung in Relation zum BIP 54 Prozent. Die Prognosen der Regierung gehen davon aus, dass das Defizit im Jahr 2022 4,3 Prozent betragen und anschließend eine Reduzierung auf 3,7 Prozent des BIP zu erwarten sein wird sowie eine Reduzierung der Verschuldung auf 51,5 Prozent in Relation zum BIP (2023). Für die Folgejahre wird eine weitere Reduzierung auf 2,5 Prozent des BIP bzw. 49,7 Prozent in Relation zum BIP prognostiziert (2025).

Polen hat mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen

Bis Ende April 2022 haben mehr als drei Millionen Menschen die polnische Grenze überquert. Sie müssen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden und Sozialhilfe erhalten. Es handelt sich hier um eine vollkommen andere Immigration aus der Ukraine als diejenige infolge des Krieges im Donbass seit 2014. Damals kamen vor allem Männer im arbeitsfähigen Alter nach Polen, die zu Hunderttausenden den polnischen Arbeitsmarkt verstärkten und die Leistungskraft unserer Wirtschaft steigerten.

Aktuell kommen Frauen und Kinder zu uns, die kurz- und mittelfristig vor allem Kosten verursachen. Ihnen müssen eine Unterkunft, Lebensmittel, Bildung und medizinische Versorgung gewährleistet werden. Ein Sondergesetz über die Hilfe für Ukrainer setzt die Kosten dafür auf 1,8 bis 3,5 Mrd. Zloty an. Tatsächlich werden die öffentlichen Ausgaben jedoch sicherlich deutlich höher liegen, die zu tragen die moralische Pflicht Polens gegenüber seinen Nachbarn darstellt. Auf mittlere Sicht wird ein Teil der Geflüchteten eine Arbeit aufnehmen und kann über den Verbleib in Polen selbständig entscheiden.

Gleichzeitig verlassen Ukrainer Polen, um in den Streitkräften der Ukraine für ihr Land zu kämpfen. Die Rede ist von Zehntausenden Personen, wobei die tatsächlichen Daten aufgrund der fluktuierenden Migrationsbewegung zwischen der Ukraine und Polen nicht bekannt sind.

Polen hat eine Menge neuer Konsumenten gewonnen, was mit Sicherheit die Umsätze der Handelsketten erhöht und zumindest auf kürzere Sicht den privaten Konsum und das BIP anschieben sowie die Steuereinnahmen erhöhen wird. Auf längere Sicht wird allerdings der größere Teil der Kosten für den Unterhalt der Geflüchteten vom öffentlichen Haushalt bestritten werden müssen.

Auch für den polnischen Arbeitsmarkt kann sich die Flüchtlingsbewegung als große Herausforderung erweisen. Den Angaben von Arbeitnehmern aus der Ukraine zufolge haben die Wirtschaftsmigranten, die vor dem Krieg nach Polen kamen, meistens Arbeit im Baugewerbe, in der Verarbeitungsindustrie, in Verwaltungstätigkeiten (Immobilien, Buchhaltung) und unterstützenden Geschäftsdienstleistungen sowie im Transport- und Lagersektor gefunden. Mehrheitlich haben sie in Polen Tätigkeiten unterhalb ihrer Qualifikation ausgeübt. Gegenwärtig werden vor allem Frauen nach einer Arbeit suchen. Aus einem ersten Überblick lässt sich schließen, dass unter den Geflüchteten Frauen mit Qualifikationen sind, die in Polen nachgefragt werden, z. B. Krankenschwestern, Lehrerinnen, Näherinnen, Köchinnen, Übersetzerinnen und Verwaltungsangestellte. Es ergeben sich daher relativ breit gefächerte Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden, zudem umso mehr als in der verarbeitenden Branche dank Automatisierung und neuer Technologien viele Tätigkeiten auch von Frauen ausgeübt werden können, die vorher nur für Männer vorgesehen waren. Aus Untersuchungen, die das PIE durchgeführt hat, ließen sich quantitative Angaben zu potentiellen Arbeitsplätzen machen, die im Jahr 2022 in Polen entstehen und von Geflüchteten besetzt werden können.

Der Anteil der Frauen unter den neuen Arbeitnehmern wurde auf der Grundlage der Feminisierungsindizes in einzelnen Wirtschaftsbereichen geschätzt. Aus den Schätzungen ergibt sich, dass polnische Unternehmen Anfang März 2022 planten, in den kommenden drei Monaten ca. 253.000 Frauen einzustellen. Drei Viertel dieser Stellen sind in der Gastronomie und im Hotelgewerbe, im Bereich Handel und anderen Dienstleistungen angesiedelt, d. h. in Sektoren, die Arbeitnehmer suchen und die eher auf Frauen ausgerichtet sind.

Die Öffnung des Zugangs zum Arbeitsmarkt und die Vereinfachung des Prozedere, ein legales Arbeitsverhältnis in Polen aufzunehmen, sowie die Aktivitäten der Arbeitsämter werden es ermöglichen, den Geflüchteten eine Arbeit anzubieten sowie die Stellenangebote der Arbeitgeber maximal auszuschöpfen. Der Zusammenführung der Geflüchteten und der Bedarfe der Arbeitgeber könnte eine Datenbank dienen, die Unternehmen der betreffenden Woiwodschaften mit den Angaben zu den Kompetenzen der jeweiligen ukrainischen Arbeitnehmer verknüpft. Dabei wäre die gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge in Polen von großer Bedeutung, um eine Flüchtlingskrise zu vermeiden und den Ukrainern zu ermöglichen, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen. Eine Herausforderung bliebe der Zugang der ukrainischen Kinder zu Bildung und Kindertagestätten, denn Letzteres war bereits vor dem Zustrom der Geflüchteten in großen Städten problematisch.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass häufig Arbeitnehmer gesucht werden, die sich auf Polnisch zumindest verständigen können; in Einzelfällen kann auch Englisch ausreichen. Hieraus ergibt sich der Bedarf, Kurse für den grundlegenden Erwerb der polnischen Sprache einzurichten, vor allem für Frauen, die die Möglichkeit haben, im Gesundheitssektor, im Schulwesen und anderen Bereichen mit direktem Kundenkontakt zu arbeiten.

Voraussichtlich werden auch branchenbezogene Schulungen notwendig sein, deren Kosten die Arbeitgeber, insbesondere die kleinen Unternehmen, wohl nicht selbstständig werden tragen können. Hier könnten z. B. Arbeitgeberverbände und öffentliche Institutionen mit speziellen, angepassten Fortbildungsprojekten helfen.

Zwei Drittel der Polen engagieren sich in der Hilfe für Ukrainer

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine rief in Polen eine Welle der Solidarität hervor. Polen und die Ukraine haben eine schwierige gemeinsame Geschichte, in der es an Kriegen und Verbrechen nicht fehlt. Insbesondere schmerzt die Polen die nicht verheilte Wunde des Massakers von Wolhynien, das 1943/44 von der ukrainischen Aufständischenarmee (ukrainisch: UPA) an der polnischen Zivilbevölkerung verübt wurde. Heute aber haben die Polen die Geschichte hintangestellt, ihre Häuser geöffnet und helfen den ukrainischen Geflüchteten.

Befragungen aus der Zeit vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine zeigen, dass die Ukrainer für die Polen eine der unbeliebtesten Nationen sind. Das polnische Meinungsforschungsinstitut CBOS untersucht seit Jahren das Verhältnis der Polen zu anderen Nationen: Die Sympathie für die Ukrainer war geringer als die für die Mehrheit der europäischen Nationen. Im Vergleich zu den anderen Nachbarn Polens platzierten sie sich zwischen den Russen, denen am wenigsten Sympathie entgegengebracht wird, und den Belarussen. Jedoch hat sich seit den 1990er Jahren das Verhältnis der Polen zu den Ukrainern im Allgemeinen verbessert. Aus Untersuchungen von CBOS noch vor dem Krieg ergibt sich, dass 41 Prozent der Befragten ein positives Verhältnis zu Ukrainern haben und 25 Prozent eine negative Einstellung. Sympathie gegenüber den Russen äußerten 29 Prozent und Antipathie 38 Prozent.

Mitte März 2022 führte CBOS Befragungen zum Thema Hilfe durch, welche die Polen ihren Nachbarn zuteilwerden ließen. 68 Prozent der Bürger halfen den ukrainischen Flüchtlingen mit Sachleistungen oder finanziell. Die deutliche Mehrheit der Polen, 88 Prozent, gab an, dass sie die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine aufmerksam verfolgt. Über die Hälfte der Befragten – 57 Prozent – erklärte in der Befragung, russische Produkte zu boykottieren.

Weniger Befragte gaben an, Maßnahmen zu ergreifen, um sich und die eigene Familie vor eventuellen negativen Folgen des Krieges zu schützen. In dieser Gruppe sagten elf Prozent, sie würden Bargeld horten, acht Prozent legten Vorräte an Lebensmitteln und anderen wichtigen Dingen an, vier Prozent sorgten für einen Benzinvorrat. Darüber hinaus plante oder erwog ein Teil der Befragten, an einen sichereren Ort zu wechseln, wobei mehr Personen (acht Prozent) in Betracht zogen, das Land zu verlassen, als innerhalb Polens woanders hinzugehen (vier Prozent).

Auch der polnische Staat reagierte mit Hilfsmaßnahmen. Sieben Mrd. Zloty (1,5 Mrd. Euro) betrug der geschätzte Wert der Militärhilfe Polens für die Ukraine. Im März bot die Polnische Nationalbank der Zentralbank der Ukraine einen Währungsswap [Vertrag, um zwei Währungen zu einem vereinbarten Zeitpunkt in der Zukunft zu einem festgelegten Wechselkurs zu tauschen, Anm. d. Red.] im Wert von 963 Mio. Euro an. Einschließlich des Wertes der humanitären Hilfe beläuft sich die polnische Hilfe für die Ukraine bereits jetzt auf mehr als 2,5 Mrd. Euro. Diese Summe berücksichtigt allerdings nicht die Hilfe für Flüchtlinge, welche die polnische Regierung auf zusätzliche 2,1 Mrd. Euro (zehn Mrd. Zloty) bis Jahresende schätzt – finanzielle Leistungen für Flüchtlinge, Kostenersatz für diejenigen, die Geflüchtete aufnehmen, und zusätzliche Mittel für die Kommunalverwaltungen zwecks Ertüchtigung von Schulen.

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Hilfe ist die finanzielle Unterstützung für polnische Familien, die Geflüchteten eine Wohnung oder Unterkunft zur Verfügung stellen. Laut Schätzungen der Regierung, die sich auf Angaben der Kommunalverwaltungen stützen, nutzen diese Hilfe ca. 600.000 Personen. Nimmt man die Höhe der Geldleistungen, die für die Unterkunft und die Verpflegung der ukrainischen Bürger (40 Zloty pro Tag) eingesetzt werden, beläuft sich der Wert dieser Hilfe auf ca. 720 Mio. Zloty.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Auszahlung von Familienleistungen nur an den Erhalt einer PESEL-Nummer geknüpft ist – eine solche Nummer nutzt der polnische Staatsbürger für den Kontakt mit Behörden – und diese den ukrainischen Staatsbürger nach Ablauf von zwei Jahren praktisch rechtlich mit den Polen gleichstellt. Die Leistungen für Personen, die Geflüchtete unterstützen, werden aufgrund des weiter andauernden Krieges verlängert (von bisher 60 Tagen auf 120 Tage). Die ärmsten Geflüchteten können Sozialhilfe zu den gleichen Bedingungen wie die Polen bekommen, d. h. nicht nur das allgemeine Kindergeld »500 +« für jedes Kind, sondern auch andere Betreuungsleistungen. Darüber hinaus erhielt jeder Ukrainer ein Begrüßungsgeld in Höhe von 300 Zloty und die ukrainische Hrywna, die Probleme beim Währungstausch bereitete, kann in den staatlichen Banken PKO BP und Pekao SA unter der Koordination der NBP zu einem festgelegten Kurs (0,14 Zloty pro Hrywna; max. 10.000 Hrywna pro Person) getauscht werden.

Abgesehen von der privaten Aufnahme Geflüchteter haben die Polen den Kriegsflüchtlingen Transportmöglichkeiten aus der Ukraine angeboten und für die in der Ukraine Verbliebenen gespendet. Tausende Freiwillige organisierten und organisieren Anlaufstellen für Geflüchtete, verteilen Sachspenden, informieren und geben Rechtsauskünfte, bieten psychologische Unterstützung und sprachliche Hilfe an. Knapp zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges hatten sich allein in Warschau mehr als 6.000 Freiwillige gemeldet, um den Flüchtlingen aus der Ukraine Hilfe zu leisten. Demnach kann man schätzen, dass es im ganzen Land mindestens mehrere Zehntausend sind. Die Polen übergaben auch Sachspenden, u. a. Medikamente, Kleidung, Lebensmittel, Hygieneartikel und Verbandszeug. Das Ausmaß des Engagements sowie die Verteilung der Sachspenden lassen sich nicht als realer finanzieller Wert beziffern.

Zur Verfügung stehen nur Daten eines Teils der Internetspendensammlungen, denn es werden nicht von allen Organisatoren Auskünfte über die gesammelten Summen veröffentlicht. Die größten Sammlungen, die von bekannten gemeinnützigen Organisationen betrieben wurden, erbrachten mehr als 100 Mio. Zloty (darunter Fundacja Siepomaga knapp 50 Mio Zloty, Polska Akcja Humanitarna ca. 30 Mio Zloty, Fundacja Pomagam.pl knapp 11,5 Mio Zloty). Caritas Polska sammelte mehr als 100 Mio. Zloty (neben Sachspenden im geschätzten Wert von 136 Mio. Zloty). Das ist allerdings nur ein Bruchteil der tatsächlich geleisteten Hilfe – da viele Spendensammlungen in Betrieben, Schulen usw. durchgeführt und ihre Ergebnisse nicht veröffentlicht werden, lässt sich weder eine endgültige Auflistung noch ein Schätzwert einer repräsentativen Probe erstellen.

Hinzu kommt die Hilfe von Privatunternehmen, darunter die größten Handelsketten, Banken, Mobilfunkanbieter, Bauunternehmer. Der Wert der Unterstützung vonseiten der größten Firmen oder Branchenverbände überstieg nicht selten eine Mio. Zloty. Auch hier veröffentlichen viele Unternehmen die Daten über ihre Spenden nicht, was eine auch nur annähernde Schätzung der Spendenwerte erschwert.

Polen auf dem Weg zur Unabhängigkeit von russischer Energie

Als Reaktion auf die russische Militäraggression gegenüber der Ukraine wollen viele westliche Staaten von Energielieferungen aus Russland unabhängig werden, da Russland mit dem Verkaufserlös seine militärische Ausrüstung finanzieren kann. Für Polen enden demnächst die langfristigen Verträge über russische Gas- und Öllieferungen. Im April 2022 hat Russland selbst die Gaslieferungen nach Polen eingestellt und ist damit dem Vertragsende zuvorgekommen. Polen war jedoch darauf vorbereitet. Die Gasspeicher in Polen sind zu 76 Prozent gefüllt, während der EU-Durchschnitt bei 32 Prozent liegt.

Ende 2019 betrug die Erdgasförderung in Polen knapp fünf Mrd. m3, was ca. ein Viertel des heimischen Bedarfs bediente, der im Jahr 2019 bei 20 Mrd. m3 lag.

Der Prozess, dass sich Polen unabhängiger von russischem Gas macht, dauert seit langem. In den Jahren 2015 bis 2019 fiel der Anteil des importierten russischen Gases um ca. 17 Prozentpunkte. Polen führte ca. 17,5 Mio. m3, wovon zehn Mio. m3 aus Russland kamen, das sind 55 Prozent des Gesamtimports.

Trotz der Tatsache, dass über die Hälfte des polnischen Gasimports aus Russland kommt, ist die Ersetzung des russischen Rohstoffes dank der fortschreitenden Diversifizierung der Lieferwege möglich. Für das Jahr 2022 ist der Beginn des Transports von Gas aus dem Norwegischen Kontinentalschelf über die Gaspipeline Baltic Pipe geplant, deren Kapazität jährlich zehn Mrd. m3 beträgt, sowie die Inbetriebnahme der Gaspipeline Polen-Litauen (GIPL), die Gaslieferungen vom Gasterminal in Klaipeda ermöglicht. Das erlaubt, einen Teil der russischen Gaslieferungen zu ersetzen. Geplant ist außerdem, 2022/23 die Kapazität des LNG-Terminals in Swinemünde (Świnoujście) auf 6,2 Mrd. m3 zu erhöhen und ab Anfang 2024 auf ca. 8,3 Mrd. m3 jährlich. Diese Erweiterung ermöglicht größere Liefermengen von LNG beispielsweise aus den USA und Katar nach Polen. Im Jahr 2019 importierte Polen ca. 3,5 Mio. m3 LNG, u. a. aus den USA 950.000 m3 und aus Katar 2,3 Mio. m3.

Was die Einfuhr russischen Erdöls nach Polen betrifft, teilte die polnische Regierung mit, dass zur Jahreswende 2022/23 die befristeten Lieferverträge auslaufen und sie nicht plane, neue abzuschließen. Ebenfalls verzichtet Polen auf russische Kohleimporte.

Wesentlich ist, dass ganz Europa von russischen Energielieferungen loskommt. Der Gasimport aus Russland in die Europäische Union macht ca. 45 Prozent des Gesamtimports aus und bedient 40 Prozent des Bedarfs. Ähnlich wie im Falle des Erdöls stehen die Länder Ostmitteleuropas in einer größeren Abhängigkeit von den Gaslieferungen aus Russland. Nominal sind jedoch die größten Gasimporteure Deutschland, Italien, Ungarn und die Niederlande.

Im März 2022 schlug die Europäische Kommission einen vorläufigen Plan vor, wie die EU bis 2030 von russischen fossilen Energieträgern unabhängig werden kann, und forderte die Beschränkung des Gasimports aus Russland im Jahr 2022 um 65 Prozent. Die Berechnungen des PIE ergeben, dass dank der Lieferdiversifizierungen, der Ersetzung von Gas durch erneuerbare Energien, Atomkraft und Kohle sowie infolge der Ausnutzung von Sparpotentialen (u. a. eine zwei Grad geringere Kühleinstellung bei Klimaanlagen im Sommer) und entsprechende Maßnahmen auf der Nachfrageseite, um den Verbrauch der Industrie zu drosseln, eine Beschränkung des Gasimports um 91 Prozent EU-weit möglich wäre.

Darüber hinaus erfordert die dauerhafte Diversifizierung von Öllieferungen keine bedeutenden Infrastrukturinvestitionen. Schon heute findet der größte Teil des Imports in die Europäische Union auf dem Seeweg statt. 2021 wurde nicht einmal die Hälfte der Kapazitäten des polnischen NAFTOPORT (Danzig/Gdańsk) ausgenutzt. Eine Erhöhung der Erdölförderung in Südamerika würde erlauben, knapp eine Mio. Barrel täglich zu bekommen, d. h. ca. 40 Prozent des aus Russland importierten Öls. Bei günstigen Verhandlungen mit den OPEC-Staaten, u. a. Saudi Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Iran, könnte Europa den Kauf russischen Öls einstellen und Russland damit die Mittel nehmen, Aggressionen gegen seine Nachbarn zu finanzieren.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Zum Weiterlesen

Artikel

Der Umbau der polnischen Justiz

Von Marta Bucholc, Maciej Komornik
Die seit Ende 2015 in Polen amtierende nationalkonservative Regierungspartei PiS hat faktisch die Gewaltenteilung aufgehoben. Mit einer Welle neuer Gesetze hat sie erst das Verfassungsgericht ausgeschaltet und dann wider die Verfassung nahezu die gesamte Justiz unter die Kontrolle der Exekutive gestellt. Sie hat die Institutionen des Rechtsstaats diskreditiert, ihr nicht genehme Richter aller Instanzen und Gerichtszweige als Mitglieder eines post-kommunistischen Klüngels diffamiert und auf der Basis der neuen Gesetze die Unfolgsamen entlassen. Bei der Berufung der Nachfolger spielt die Regierungspartei erstmals seit 1989 wieder eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne der Ideologie der PiS ist an die Stelle pluralistischer Machtverteilung ein starker Staat getreten, der vorgibt, im Namen des Volks zu handeln.
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS