Die Reform des Verteidigungsgesetzes und die öffentliche Meinung

Von Jens Boysen (Collegium Civitas, Warschau)

Zusammenfassung
In Polen wurde die vom russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin betriebene Revisionspolitik samt den damit verbundenen konkreten Bedrohungen besonders für den mittel- und osteuropäischen Raum seit vielen Jahren beobachtet, was eine Politik der militärischen und wirtschaftlichen Absicherung gegenüber Russland zur Folge hatte. In diesem Zusammenhang wurden wiederholt Reformen der Verteidigungspolitik und eine Modernisierung der Armee diskutiert. Diese Überlegungen wurden angesichts der akuten Gefahrenlage in der Ukraine Ende 2021 beschleunigt und führten im März 2022 zur Verabschiedung eines neuen »Gesetzes über die Verteidigung des Vaterlandes«. Es soll die personellen und materiellen Ressourcen der Armee effizienter nutzen und insbesondere durch ein komplexes Anreizsystem neue Soldaten gewinnen. Hauptziel ist eine gegenüber dem Ist-Zustand deutlich vergrößerte und modernere Streitmacht, die die nationale Sicherheit Polens im Zusammenwirken mit den NATO-Verbündeten auch im 21. Jahrhundert gewährleisten kann. Die Regierung kann sich dabei auf einen weitgehenden nationalen Konsens im Parlament und in der Bevölkerung stützen.

Militärpolitischer Hintergrund

Der am 24. Februar 2022 begonnene russische Angriff auf die Ukraine hat in Europa, insbesondere aber in den nahe dem Kriegsschauplatz gelegenen Staaten in Nord-, Ostmittel- und Südosteuropa die Bedrohungswahrnehmung massiv verschärft. In jedem dieser Länder verbindet sich dabei die spezifische historische Erfahrung aus dem Kalten Krieg als ehemalige Sowjetrepublik, ehemaliger sowjetischer Satellit oder nichtkommunistischer (und oft neutraler) Anrainerstaat mit den aktuellen Sicherheitsinteressen. Dadurch erklärt sich auch in hohem Maße, dass es neben den baltischen Staaten vor allem Polen war, das schon seit Jahren vor der jetzt eskalierten russischen Revisionspolitik gewarnt hatte: Nach dem Ende der als »Verrat von Jalta« bezeichneten Teilung Europas und seiner Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich verfolgte Polen nach 1990 neben seinen eigenen Beitrittsbestrebungen bezüglich EU und NATO durchgängig eine Politik der dauerhaften De-Imperialisierung Russlands. Damit knüpfte es implizit an das Konzept des Prometheismus aus der Zwischenkriegszeit an, dessen Ziel die weitgehende Schwächung der sowjetischen Position in Osteuropa gewesen war. Zentrales Element dieser Politik – in der auch Polens eigene hegemoniale Ziele zum Ausdruck kamen – waren möglichst enge Beziehungen zu den meisten anderen nach 1918 entstandenen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Im Innern wurde dies freilich seit 1926 vom Aufbau einer faktischen Militärdiktatur begleitet.

Während des Kalten Krieges war die polnische Militärpolitik vollständig der sowjetischen Planung untergeordnet. Nach der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 blieb Polen zunächst ohne Bündnis; seine Bestrebungen für eine Mitgliedschaft in der NATO erforderten wie in anderen postkommunistischen Ländern erhebliche Anpassungsleistungen nicht nur in organisatorisch-technischer, sondern auch in normativer Hinsicht, da das demokratische Verständnis zivil-militärischer Beziehungen den autoritär geprägten Armeeführungen erst vermittelt werden musste. 1999 konnte Polen dann gemeinsam mit Tschechien und Ungarn der Allianz beitreten. Die Mitgliedschaft wird seitdem, wie seit 2004 auch diejenige in der EU, von einer stabilen öffentlichen Zustimmung getragen. Wie angeführt, verfolgt Polen in diesem Zusammenhang eine Politik der Stärkung der postsowjetischen Staaten als einer antirussischen Barriere. Seit dem Übergang von Belarus unter Präsident Alexander Lukaschenko auf die Seite des neoimperialen Programms Putins lag der Schwerpunkt der polnischen Bemühungen auf der Ukraine als dem größten nichtrussischen Nachfolgestaat der Sowjetunion – ohne dessen Kontrolle Russland in Osteuropa keine imperiale Stellung einnehmen kann – sowie auf Georgien. Bereits 2006 votierte Polen erfolglos für einen NATO-Beitritt dieser beiden Länder, und seit dem russisch-georgischen Krieg 2008 warnte die polnische Diplomatie praktisch pausenlos die Verbündeten vor den weitergehenden Plänen Putins für eine Revision der postsowjetischen Ordnung, wie sie dann 2014 (Annexion der Krim und des Donbass durch Russland) partiell und jetzt 2022 vollständig sichtbar geworden sind.

Dabei standen und stehen die USA und die NATO stets eindeutig im Mittelpunkt des polnischen Sicherheitsdenkens, da nur sie als militärisch und politisch zuverlässige Sicherheitsgaranten erachtet werden. Davon ausgehend war in Polen die Vorstellung, die EU könne die NATO in dieser Hinsicht wesentlich ergänzen oder gar ersetzen (»strategische Autonomie«), niemals sonderlich populär. Zwar trägt Polen die relativ junge Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU mit, dies aber vor allem hinsichtlich einer besseren Zusammenarbeit bei der militärischen Forschung und Beschaffung. Alle strategischen Aspekte will man weiterhin nur in enger Abstimmung mit den USA behandelt sehen; auch diese Haltung sieht sich durch die aktuelle Reaktion des Westens auf die russische Aggression grundsätzlich bestätigt.

In der polnischen Gesellschaft setzte sich nach 1990 eine aus den vorangegangenen Regimen tradierte ›unpolitische‹ Wertschätzung für das Militär fort, die dessen autoritäre Vergangenheit und systemtragende Rolle im Kommunismus nicht thematisiert. Auch irgendeine Form von »Innerer Führung« wird, wie in den meisten Ländern, nicht für notwendig erachtet, da durch die Verfassung von 1997 die demokratische zivile Kontrolle über die Armee gesichert ist und tendenziell das Modell der »objektiven Kontrolle« (nach Samuel Huntington) Anwendung findet, das der Armee bei klarer Unterordnung unter die Regierung eine relativ hohe interne Autonomie einräumt. Überdies stärkt es die Position der Armee bzw. des Ministeriums für Nationale Verteidigung (Ministerstwo Obrony NarodowejMON), dass die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Dritten Republik zu den Politikfeldern mit dem höchsten Konsensgrad unter den ansonsten sehr debattenfreudigen Parteien und in der Bevölkerung allgemein zählt. Als notwendig erachtete sicherheitspolitische Maßnahmen werden in der Regel nur hinsichtlich technischer oder finanzieller Details, nicht aber im Grundsatz debattiert. So wurde unter anderem bereits im August 2015 – also noch unter der Vorgängerregierung aus Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) – der von der NATO empfohlene Anteil der Verteidigungsausgaben von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im novellierten »Gesetz über den Umbau und die Modernisierung der Streitkräfte« festgeschrieben. Hintergrund dieser weitgehenden Geschlossenheit sind einerseits das allgemein anerkannte Prinzip der Erhaltung der physischen und politischen Integrität und Souveränität der Nation als oberstes Ziel der Politik und andererseits ein – im politiktheoretischen Sinne – realistisches, d. h. ggf. auch auf Abschreckung setzendes Verständnis der internationalen Beziehungen, das sich im 21. Jahrhundert besonders durch das russische Vorgehen immer wieder bestätigt sah.

Trotz dieser positiven Grundeinstellung hatte aber die polnische Armee ähnlich wie in anderen Ländern nach der Suspendierung der Wehrpflicht im Jahre 2009 Mühe damit, genügend Personal für die Truppe zu finden. Die Risiken von Auslandseinsätzen, eine vergleichsweise geringe Bezahlung und attraktivere zivile Berufsalternativen ließen auch die patriotisch erzogenen Polen meistens andere Karrierewege einschlagen. Als ergänzende Maßnahme wurden daher 2010 die Nationalen Reservekräfte (Narodowe Siły RezerwoweNSR) gegründet. Sie bestehen aus Reservisten, die sich zur weiteren aktiven Zusammenarbeit mit der Armee verpflichtet haben und besonders dafür bereitstehen, im Bedarfsfall aktive Soldaten zu »spiegeln«, d. h. zeitweise zu ersetzen. 2017 wurden außerdem als fünfte reguläre Teilstreitkraft die Truppen der Territorialverteidigung (Wojska Obrony TerytorialnejWOT) aufgestellt, die sich aus regelmäßig wehrübenden Zivilisten zusammensetzen und im Kriegsfall die regulären Truppen unterstützen sollen.

Der Weg zur Reform des Verteidigungsgesetzes

Die Militärgesetzgebung Polens, deren Kern das mehrfach novellierte »Gesetz über die allgemeine Pflicht zur Verteidigung der Polnischen [Volks-]Republik« von 1967 war, wurde verstärkt nach der Regierungsübernahme durch die Koalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) Ende 2015 hinsichtlich ihrer Rolle für die Schlagkraft und Effizienz der Armee diskutiert. Hintergrund war die in Polen sehr ernst genommene russische Besetzung der Krim und des Donbass im Jahr zuvor. Eine Armeereform sollte das Gegenstück zu den von Polen betriebenen sicherheitspolitischen Initiativen bilden, die sich besonders während des Warschauer NATO-Gipfels im Juli 2016 in einer Stärkung der östlichen Flanke des Bündnisses durch Truppenstationierungen in den baltischen Staaten, Polen und Rumänien niederschlug. Zugleich unterstützte Polen die Ukraine politisch und suchte nach Wegen zu einer Reduzierung der eigenen und allgemein der europäischen Energieabhängigkeit von Russland. Dazu gehörte wesentlich die fortgesetzte Agitation gegen die deutsche Mitwirkung beim Bau der Erdgasleitung Nord Stream II.

Angesichts der wachsenden russischen Drohkulisse gegenüber der Ukraine – und ebenso der damals von Belarus betriebenen Destabilisierungsaktion an der polnischen Grenze – unternahm die polnische Regierung im Herbst 2021 konkrete Schritte hin zu der besagten Reformierung der Militärpolitik, die Polens Abwehrfähigkeit gegenüber einer eventuellen russischen Aggression stärken sollte. Als Kernmaßnahme präsentierten Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak und der für Sicherheitsfragen zuständige stellvertretende Ministerpräsident Jarosław Kaczyński am 26. Oktober 2021 den Entwurf eines neuen »Gesetzes über die Verteidigung des Vaterlandes«. Am 22. Februar 2022 nahm der Ministerrat, also das Regierungskabinett, den Entwurf an. Am 11. März 2022 wurde das Gesetz schließlich vom Sejm fast einstimmig – 450 Jastimmen ohne Gegenstimme, fünf Enthaltungen der Abgeordneten der Rechtspartei Konföderation (Konfederacja) – verabschiedet und trat am 23. April 2022 in Kraft. Seine konstitutionelle Grundlage bildet Artikel 85 der polnischen Verfassung von 1997, dessen erster Absatz jeden »polnischen Bürger« – womit grundsätzlich auch die weiblichen Staatsangehörigen gemeint sind – zur »Verteidigung des Vaterlandes« verpflichtet, was etwa im Vergleich zu Deutschland eine bedeutend weitere und stärkere Pflichtstellung der Bürger gegenüber dem Staat bedeutet, mit nur wenigen begründeten Ausnahmen. Das neue, 248 Seiten umfassende Gesetz verfolgt vor allem zwei Ziele: zum einen eine erhöhte Effizienz und Rechtssicherheit durch die Bündelung bzw. Ersetzung der bestehenden fragmentierten Militärgesetzgebung, deren ältester Bestandteil das Gesetz von 1967 war, und zum anderen die Schaffung eines den aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragenden Anreizsystems für die Gewinnung neuer Militärangehöriger. Dies soll ermöglichen, die Polnische Armee von derzeit ca. 110.000 regulären Soldaten und 32.000 WOT-Angehörigen auf eine Sollstärke von 300.000 Mann zu bringen (250.000 reguläre und 50.000 in den WOT-Truppen).

Für dieses ehrgeizige Ziel – das übertragen auf Deutschland einer Bundeswehr mit einer Stärke von fast 650.000 Mann entspräche – soll der schon jetzt beträchtliche Wehretat weiter erhöht werden, auf 2,2 Prozent des BIP noch im laufenden Jahr und ab 2023 auf mindestens drei Prozent des BIP. Dieser finanzielle Bedarf entsteht dadurch, dass neben deutlich höheren Bezügen für Berufssoldaten und freiwillig Wehrdienstleistende sowie verbesserten nichtfinanziellen Leistungen (etwa bei der Gesundheitsfürsorge) vor allem auch die Ausrüstung der Armee generell modernisiert werden soll, angefangen von der persönlichen Ausstattung der Soldaten bis hin zu schwerem Gerät. Der Planungsrahmen für die technische Modernisierung einschließlich der Beschaffungsplanung wird auf 15 Jahre ausgerichtet und soll alle vier Jahre aktualisiert werden.

Solche Maßnahmen sind in ähnlicher Form in den letzten Jahren auch von der Bundeswehr ergriffen worden, die seit 2011 mit den gleichen Personalproblemen zu kämpfen hat. Die allgemeine Wehrpflicht bleibt auch in Polen suspendiert, jedoch werden jetzt neben der klassischen Berufssoldatenlaufbahn verschiedene Möglichkeiten geschaffen, in der Armee mitzuwirken. Konkrete Beispiele für solche Analogien sind

ein freiwilliger Wehrdienst, der den Absolventen (und Absolventinnen), sofern sie sich dazu entschließen, bei der Truppe zu bleiben, alle militärischen Laufbahnen eröffnet. Er setzt sich im polnischen Fall aus 28 Tagen Grundausbildung und einer elfmonatigen Spezialausbildung zusammen;leichtere Aufstiegsmöglichkeiten von den Mannschafts- und Unteroffiziersgraden zu den Offiziersgraden;die Bildung einer vereidigten aktiven sowie einer nicht vereidigten passiven Reserve;der weitere Ausbau der Territorialstreitkräfte in ähnlicher Form wie bei den deutschen Landes- bzw. Heimatschutzregimentern;die Bildung von Truppen für die Verteidigung des Cyberraums (Wojska Obrony Cyberprzestrzeni) als neuer Teilstreitkraft.

Als Mittel zur Gewinnung hochqualifizierten Nachwuchses wird das Verteidigungsministerium Stipendien für Studenten und Studentinnen ziviler Hochschulen gewähren, die an den militärischen Hochschulen nicht vertretene Fächer studieren, welche aber gleichwohl für die Armee von Interesse sind (z. B. cyberrelevante Fähigkeiten). Interessierte Abiturienten schließen mit dem MON einen Vertrag, absolvieren wie die freiwillig Wehrdienstleistenden eine 28-tägige Grundausbildung und nehmen danach regelmäßig an Wehrübungen teil. Nach dem Studium werden sie dann zu Offizieren befördert und müssen fünf Jahre in der Armee dienen. Damit kehrt Polen weitgehend zu einem Schema zurück, das bereits während der Zweiten Republik bis 1939 und dann in der kommunistischen Volksrepublik praktiziert wurde. Als besonderer Anreiz zur Absolvierung des freiwilligen Wehrdienstes soll eine bevorzugte Übernahme in den zivilen Staatsdienst nach dem Ende der Dienstzeit dienen. Auf der anderen Seite sollen Berufssoldaten auch nach Ablauf ihrer in der Regel 25-jährigen Dienstzeit in den Streitkräften gehalten werden, um sich ihre Expertise zu sichern; auch hierzu werden finanzielle Anreize geschaffen. Zu einer erhöhten Effizienz und Übersicht soll eine bessere Koordinierung der Personalarbeit durch ein Zentrales Militärisches Rekrutierungszentrum (Centralne Wojskowe Centrum Rekrutacji) und dessen regionale Filialen anstelle der bisherigen Wehrersatzämter (Wojskowe Komendy Uzupełnień) beitragen.

Zur Entlastung des öffentlichen Haushalts hinsichtlich der erhöhten Militärausgaben wird bei der staatlichen Bank für Landeswirtschaft (Bank Gospodarstwa Krajowego) ein parlamentarisch kontrollierter »Fonds zur Unterstützung der Streitkräfte« aufgelegt, der unter anderem aus Schatzbriefen und Staatsanleihen gespeist werden soll. Als weitere Geldquelle werden Gewinne aus Verkäufen bzw. Konversionen militärischen Materials oder Liegenschaften für zivile Nutzungen genannt. Das Gesetz verpflichtet überdies die Regierung, binnen dreier Monate – d. h. bis Ende Juli 2022 – ein Maßnahmenpaket zur »Stärkung der Streitkräfte der Polnischen Republik für die Jahre 2023–2025« ins Parlament einzubringen. Die einzige relevante Kritik an dem neuen Gesetz besteht bislang übrigens in einem Antrag der Linkspartei (Lewica) – die wohlgemerkt dem Gesetz zugestimmt hat – auf seine Ergänzung um Regelungen für die Bestandsaufnahme von Schutzräumen (Bunkern) für die Bevölkerung bzw. deren Bereitstellung und die Organisation von Schulungen. Tatsächlich sind derartige Räume im Moment nur für geschätzt ca. drei Prozent der Bevölkerung vorhanden, da nach dem Ende des Kalten Krieges gesetzliche Pflichten zu ihrer Vorhaltung aufgehoben wurden (»Friedensdividende«) und bestehende Räume anderen Zwecken zugeführt wurden oder schlicht verfielen.

Einstellungen in der polnischen Öffentlichkeit zur Verteidigungspolitik im Schatten des Krieges in der Ukraine

Gewiss ist es zu früh, um einzuschätzen, ob bzw. in welchem Maße die Novellierung des Gesetzes und damit wichtiger Elemente der nationalen Verteidigungsorganisation die Bereitschaft der Polen zum Dienst in der Armee erhöhen kann. Als förderlich könnten sich neben den genannten direkten Anreizen und differenzierten Karrierepfaden (besonders für Reservisten) auch die Rückorientierung – wie in anderen europäischen NATO-Staaten – von internationalen Missionen auf die Landesverteidigung sowie die russische Bedrohung auswirken. So betrachteten gemäß einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom März 2022 85 Prozent der Polen Russland als Bedrohung und 65 Prozent hielten sogar den Einsatz russischer Atomwaffen gegen ihr Land für denkbar. Wie schon angedeutet, kann die für viele ihrer politischen Handlungen heftig kritisierte von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) geführte Regierung auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik auf eine praktisch lückenlose Rückendeckung auch durch die Opposition, die liberalen Medien und die Bevölkerung zählen. Wie gegenwärtig im ganzen Westen, so hat Putins Politik in Polen schon länger diese Art von Schulterschluss bzw. – partiellem – Burgfrieden gefördert. Dabei ist es gar nicht allzu lange her, dass die Opposition der als autoritär empfundenen Regierung eine eigene Form der »Putinisierung« des Landes unterstellt hat. Solche Stimmen sind im Augenblick verstummt, da sich die Regierung in ihrer Gegnerschaft zu Russland schwerlich von jemandem übertreffen lässt. Tatsächlich sind Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der in den ersten Wochen des Krieges praktisch pausenlos in den westlichen Hauptstädten unterwegs war, und seine Minister in dieser schweren Krise der europäischen Sicherheitsordnung trotz der enormen Anspannung regelrecht aufgeblüht und sehen sich als eine Art Kriegskabinett in Erfüllung einer geradezu historischen Mission – in dieser überhöhenden Sichtweise ihrem erklärten Feind Putin nicht ganz unähnlich. Die häufige Analogiebildung zum Jahr 1939 ist hier kein Zufall.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Hilfsleistungen Polens für die Ukraine und insbesondere die vielen von Polen aufgenommenen Flüchtlinge sowie sein Beitrag zu den westlichen Abwehrmaßnahmen sind vorbildlich und aller Ehren wert. Aber zugleich spürt man aus den Stellungnahmen der Regierungsvertreter eine kaum verhohlene Genugtuung darüber, dass sich ihre Warnungen vor Putins Revisionismus, die so lange auf die tauben Ohren der (meisten) Westeuropäer gestoßen sind, schlagartig als richtig erwiesen haben. Nicht zuletzt der – zumindest in den offiziellen Ankündigungen – drastische Kurswechsel Deutschlands, des aus polnischer Sicht notorischsten »Putinverstehers«, wird in Warschau als politisch-strategischer Sieg gewertet (freilich ignoriert man dabei, dass sich der deutsche generische Pazifismus und die Hintanstellung des Nationalen sowie der Glaube, sich nicht gegen Russland wenden zu dürfen, vor allem durch die jahrzehntelange wissenschaftlich und öffentlich betriebene Vergangenheitsbewältigung erklärt, die man aber unter anderem auch in Polen und gerade unter seiner gegenwärtigen Rechtsregierung politisch auszunutzen sucht). Angesichts der polnischen Hilfsbereitschaft ist die Ukraine mehr denn je auf diese strategische Beziehung angewiesen, die auch wesentlich für ihren EU-Beitritt sein wird. Dabei wird Polen womöglich eine ähnliche Mentorenrolle für sich anstreben, wie sie bis 2004 Deutschland gegenüber Polen einnahm. Schließlich deutet manches darauf hin, dass Polen durch die Krise in der Hierarchie der westlichen Nationen aufsteigt [vgl. Polen-Analysen 290]. Für die USA, auf die es bei der Unterstützung für die Ukraine entscheidend ankommt, ist es durch seine klare antirussische Positionierung, seine rückhaltlos proamerikanische Einstellung, seinen unverblümten Bellizismus und seine aktive Rolle bei der Gestaltung der europäischen bzw. westlichen Sanktionen und militärischen Verstärkungsmaßnahmen im Augenblick neben Großbritannien der wichtigste Partner. Hinzu kommen natürlich seine geographische Lage und Expertise für den postsowjetischen Raum. Inwieweit dieser Effekt den Krieg überdauern wird, bleibt freilich abzuwarten.

Betrachtet man wiederum die Ebene der einfachen Bürger und Wähler – und potenziellen neuen Soldaten –, so zeugte es sichtbar von großem Vertrauen in das Bündnis, aber auch von der empfundenen Nähe zum Geschehen im Nachbarland, dass sich einer drei Tage vor Kriegsbeginn, am 21. Februar, veröffentlichten Umfrage von United Surveys für das Portal Wirtualna Polska zufolge 59 Prozent der befragten Bürger im Ernstfall für eine Unterstützung der Ukraine durch NATO-Truppen aussprachen, während sich 31Prozent skeptisch zeigten. Nur wenige Tage zuvor, in einer Umfrage des Instituts IBRiS für Radio ZET vom 18./19. Februar, hatten allerdings 63,4 Prozent der Befragten Zweifel an der Verteidigungsbereitschaft der eigenen Armee geäußert; zugleich hatten 43,8 Prozent zur Verbesserung dieses empfundenen Zustands die Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht befürwortet, was 52,5 Prozent abgelehnt hatten. Im März 2022 veröffentlichte CBOS die Ergebnisse einer zwischen dem 28. Februar und dem 10. März durchgeführten Umfrage mit dem eindeutigen Titel »Wovon hängt die Sicherheit des Landes ab?« (s. Grafiken auf S. 9ff.). Daraus ergab sich, dass die Polen – mit relativ geringen Unterschieden zwischen den Anhängern verschiedener politischer Parteien – als wichtigste Faktoren für die nationale Sicherheit den Besitz einer starken, modernen Armee und die Zugehörigkeit zu einem Militärbündnis, also konkret zur NATO, ansehen. Dabei stieg der Anteil jener Befragten, die diese Positionen »dezidiert« vertraten, gegenüber der letzten analogen Umfrage vom Dezember 2013 deutlich von 39 Prozent bzw. 34 Prozent auf jeweils 71 Prozent an. Ebenfalls als sehr wichtig wurden enge wirtschaftliche und politische Beziehungen bzw. Verflechtungen mit anderen Ländern (59 Prozent, erstmals erhoben) und eine hochentwickelte Wirtschaft (58 Prozent, gegenüber 37 Prozent im Jahr 2013) genannt. Etwas schwächer fielen die Werte für gesellschaftspolitische Faktoren wie eine starke Demokratie und Zivilgesellschaft, sozialen Zusammenhalt oder das Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Regierung aus (zwischen 35 und 42 Prozent). Allerdings ist anzumerken, dass sich bei all diesen Faktoren bedeutend höhere Werte ergeben (zwischen 70 und 95 Prozent), wenn man die Antworten »dezidiert positiv« und »eher positiv« zusammenzählt. Als negativ, d. h. als potenzielles Risiko für die nationale Sicherheit, wurden hingegen »starke gesellschaftliche Konflikte« (81 Prozent »dezidiert« und »eher negativ«) sowie, in geringerem Maße, eine »multikulturelle, ethnisch diverse Gesellschaft« (45 Prozent »dezidiert« und »eher negativ«) eingeschätzt; diesen Punkt bewerteten aber immerhin 20 Prozent der Befragten positiv, während 19 Prozent ihm gar keine Bedeutung beimaßen.

Hinsichtlich der Frage der persönlichen Einsatzbereitschaft der Zivilisten im Verteidigungsfall kann man beispielhaft darauf verweisen, dass in einer am 1./2. April von IBRiS für die Tageszeitung Rzeczpospolita durchgeführten Umfrage 70,3 Prozent der Befragten die Idee befürworteten, dass alle Bürger zwischen 18 und 55 Jahren eine kurze militärische Schulung durchlaufen sollten. Parallel hierzu fragte IBRiS die Probanden auch nach ihrer Meinung zu einer Lockerung des – gesetzlich streng begrenzten – Zugangs zu Schusswaffen. Hier stimmten nur 29 Prozent zu, dagegen sprach sich eine klare Mehrheit von 65 Prozent gegen einen solchen Schritt aus; 50 Prozent fügten hinzu, eine solche Lockerung würde ihr Sicherheitsgefühl verringern (s. Grafiken auf S. 12). Gleichwohl zählt zu den auffälligsten Phänomenen der aktuellen Krise eine nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine sprunghaft gestiegene Nachfrage nach Schießtrainings, aber ebenso nach Zivilschutzübungen oder Erste-Hilfe-Kursen. Wie viele der Interessenten später womöglich in der Armee aktiv werden, kann niemand sagen. Jedenfalls ist die Kriegsfurcht im heutigen Polen Realität. Passend dazu hat das Regierungszentrum für Sicherheit (Rządowe Centrum BezpieczeństwaRCB), das im Allgemeinen Warnungen vor Naturkatastrophen herausgibt, vor Kurzem eine Broschüre mit dem Titel »Sei bereit!« herausgegeben, welche die Bürger darüber informiert, wie sie sich in einem Krisenfall und speziell im Krieg verhalten sollten. Ergänzend dazu finden sich auf der Website des RCB Videoclips, in denen konkrete Bedrohungssituationen wie z. B. Geiselnahmen durchgespielt werden. Wie notwendig dies werden könnte, sehen die Polen allabendlich in den Nachrichten aus der Ukraine.

Lesetipps / Bibliographie

Boysen, Jens: German ‘civilness’ and Russian ‘combativeness’ as factors of strategic orientation in the context of international security, in: Myśl Ekonomiczna i Polityczna [Warschau] 1(56)/2017, S. 221–240.

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Artikel

Der Umbau der polnischen Justiz

Von Marta Bucholc, Maciej Komornik
Die seit Ende 2015 in Polen amtierende nationalkonservative Regierungspartei PiS hat faktisch die Gewaltenteilung aufgehoben. Mit einer Welle neuer Gesetze hat sie erst das Verfassungsgericht ausgeschaltet und dann wider die Verfassung nahezu die gesamte Justiz unter die Kontrolle der Exekutive gestellt. Sie hat die Institutionen des Rechtsstaats diskreditiert, ihr nicht genehme Richter aller Instanzen und Gerichtszweige als Mitglieder eines post-kommunistischen Klüngels diffamiert und auf der Basis der neuen Gesetze die Unfolgsamen entlassen. Bei der Berufung der Nachfolger spielt die Regierungspartei erstmals seit 1989 wieder eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne der Ideologie der PiS ist an die Stelle pluralistischer Machtverteilung ein starker Staat getreten, der vorgibt, im Namen des Volks zu handeln.
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

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