Diana Ignatkowa (geb. 2002): Zwischen Euphorie und tiefer Trauer

Diana ist 20 Jahre alt und Studentin der Kunsthochschule in Minsk. Nach der gefälschten Wahl in Belarus hat sie sich in der Protestbewegung engagiert, sie hat Internetseiten der Studentischen Opposition verwaltet und gehörte zu den Gründern der belarussischen Student Art Association (SOI). Sie ist noch nie im Leben geflogen. Zum ersten Mal war sie über den Wolken, als sie ihre Heimat verlassen musste. Am 21. März 2021 bestieg sie ein Flugzeug Richtung Warschau. Im Gepäck hatte sie nur das Notwendigste für sich selbst, sowie Bilder und Musikinstrumente ihrer Freunde. Dafür musste ihr warmer Wintermantel zu Hause bleiben. Der Mantel, der ihr beim Verhör gute Dienste geleistet hatte …

[…]

Ihre Geschichte erzählt mir die Studentin der Malerei im Café des Warschauer Theaters Teatr Nowy in Mokotów.

[…]

»Am 6. März bin ich von Minsk nach Hause gefahren. Dort habe ich mich von meiner Mutter verabschiedet und die Sachen für meine Ausreise vorbereitet. Es waren sehr traurige Tage, denn meine Mutter und ich wussten nicht, wann wir uns wiedersehen würden. Mein Freund, Kostja, der mit mir zusammen verhaftet und dann verhört worden war, hat mich angerufen, und wir haben beschlossen, zusammen zu fliegen. Wir hatten Flugtickets für den 21. März 2021. Ich habe 15 Bilder für eine Ausstellung mitgenommen, und als weitere Extra-Gepäckstücke hatten wir noch Musikinstrumente dabei. Kostja ist Musiker, er hat seine Trompete mitgenommen und für eine Freundin das Cello. Da war es gut, dass wir zusammen geflogen sind.

Die 15 Bilder waren eigentlich für eine Ausstellung von Studierenden in Minsk bestimmt, die in Zusammenarbeit mit der Kunst- und der Musikhochschule stattfinden sollte, doch dazu kam es nicht.

Wir hatten allerdings weder das Geld für die Flugtickets, ein Ticket kostete zwischen 200 und 250 Euro, noch um das Extra-Gepäck zu bezahlen. Den dafür nötigen Betrag ließ uns eine Professorin meiner Universität zukommen, eine wunderbare Frau, Autorin von Theaterstücken, Romanen und Gedichten. Ich weiß noch nicht mal, ob sie über mich persönlich Bescheid wusste oder ob es ihr um die Ausstellung der Bilder der Studierenden gegangen war, jedenfalls hat sie uns ausreichend Geld geschickt.

Es war zu dem Zeitpunkt so, dass Studierende aus unserem Kreis, ebenso wie andere Kunstschaffende, Autorinnen und Autoren verhaftet wurden, sie saßen fest, wurden verhört, und die geplante Ausstellung in Minsk konnte nicht stattfinden. Die Studierenden waren durch ihre Bilder in Gefahr geraten, denn ihre Werke waren politischer Natur und hatten etwas mit der Protestbewegung zu tun, sie spiegelten die revolutionäre Stimmung dieser Tage.

Aber die Bilder waren in der Welt, also musste die Ausstellung auch stattfinden, egal wo. Da es in Minsk nicht möglich war, sollte es in Warschau sein. Zehn Bilder hatten bereits andere mitgenommen, bevor auch ich Belarus verlassen habe, die restlichen habe ich eingepackt. Die Rahmen konnten wir natürlich nicht mitnehmen, wir haben die Leinwände zusammengerollt, um die Bilder so transportieren zu können. In Warschau mussten die Bilder wieder aufgespannt werden. Vom polnischen Kulturrat haben wir dafür finanzielle Unterstützung erhalten. Auch wenn wir anfangs keine Perspektive in Warschau hatten, kein Geld, keinen Raum, glaubten wir an diese Ausstellung, die wir unbedingt auf die Beine stellen wollten.«

Im Oktober 2021 war es dann so weit und die Ausstellung wurde in Warschau gezeigt. Die Bilder sind ausdrucksstark und von künstlerisch hohem Wert. Die Ausstellung wurde auf Instagram dokumentiert.

Die Student Art Association hat eine Webseite, auf der regelmäßig Informationen zu bevorstehenden Ereignissen und Stipendien verbreitet werden. Auch Diana ist wieder dabei und kümmert sich um die verschiedenen Social-Media-Kanäle.

»Hier in Polen habe ich viele Möglichkeiten, um für meine belarussischen Kollegen und Kolleginnen etwas zu tun. Wir können weiterhin den politischen Protest gegen die Zustände in Belarus mit der Kunst verbinden. Ohne technische Ausstattung und finanzielle Mittel kann man jedoch wenig ausrichten.

Nach der Verhaftung musste ich mir ein neues Handy kaufen. Mein altes Handy habe ich zwar zurückbekommen, aber wenn man vom KGB verhört wurde, benutzt man danach sein Handy nicht mehr, es ist zu riskant. Freunde haben mir dann zu einem neuen Handy verholfen. In Belarus gibt es Initiativen, die die Handys übernehmen, wenn man aus der Haft entlassen wird, und man bekommt Geld für ein neues Telefon. Aber man braucht natürlich auch eine neue SIM-Karte, alles muss neu eingerichtet werden.«

Ich frage sie, wie sie sich mittlerweile in Warschau eingelebt hat.

»Ich fühle mich sehr gut hier. Aber der Anfang war nicht leicht. Als ich nach Warschau kam, hatte ich 200 Euro in der Tasche und sonst nichts. Doch es gibt BY_help, ein Hilfsforum für politisch Verfolgte. Dort kann man die Geschichten von Verfolgten lesen und die Menschen finanziell unterstützen. Ich habe meine Geschichte dort auch gepostet, und ein paar Besucher der Webseite haben Geld für mich gespendet. Ich bin so innerhalb eines Monats auf tausend Zloty gekommen.

Diese Webseite ist sehr wichtig für Menschen, die verhaftet und zur Zahlung hoher Geldstrafen verurteilt wurden, denn meist haben sie kein Geld, um die Zahlungen an den Staat zu leisten.

Die tausend Zloty haben mir geholfen, den ersten Monat in Polen zu überleben.

Wie ich bereits erzählt habe, war ich von der französischen Kultur sehr beeindruckt, und Polen ist gewissermaßen mein kleines Frankreich geworden. Ich weiß, dass Polen und Frankreich in der Vergangenheit viel verbunden hat, in Warschau ist das noch zu sehen. Ich kann nicht erklären, warum, aber ich fühle mich gut hier, obwohl ich noch nicht weiß, ob ich in Warschau bleibe, andere polnische Städte interessieren mich auch.

In Polen war ich zuvor noch nie gewesen. Als ich mich um ein humanitäres Visum bemühte, entschied ich mich für Polen, weil hier die meisten Menschen leben, die ich kenne. Ich bekam das Visum an einem Tag, am nächsten musste ich schon fliehen. Es ging alles sehr schnell.«

Diana nimmt auch in Warschau an Protestaktionen teil. Eine der bekanntesten Aktionen war der Hungerstreik vor der Vertretung der Europäischen Kommission in Warschau im Mai 2021 nach der Entführung der Ryanair-Maschine mit dem Aktivisten Roman Protassewitsch am Bord. Die Protestierenden haben eine Liste mit wirtschaftlichen Kooperationen zwischen Belarus und einzelnen EU-Staaten vorgelegt und eine Verschärfung der Wirtschaftssanktionen verlangt. Diana Ignatkowa war dabei.

»Wir schliefen in Zelten und haben gefastet, um das EU-Parlament zu Sanktionen gegen Lukaschenko zu bewegen. Es war ein unglaubliches Gefühl, mitten in der Stadt in einem Zelt zu liegen und dem Leben der Stadt zuzuhören … Dann gab es die Schreiaktion der Aktivistin Jana Shostak, ein anderes Mal gingen die polnischen Frauen auf die Straße und demonstrierten. In dieser Zeit habe ich die polnischen Frauenproteste kennengelernt.

Ich selbst habe fünf Tage gehungert, andere haben es acht Tage lang geschafft.«

Diana erzählt mir, dass sie Polnisch lernen möchte, sie hat sich zu diesem Zweck ein Buch gekauft und zeigt es mir.

»Mit diesem Buch, mit Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz. Das Buch war bei uns Schullektüre, auf Belarussisch. Ehrlich gesagt, ich habe es damals nicht gelesen und jetzt habe ich es gekauft, um mit Adam Mickiewicz Polnisch zu lernen.«

Ich bin überrascht, denn die altertümliche, reiche Sprache des großen polnischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert ist nicht das Polnisch, das heute gesprochen wird. Aber der revolutionäre Geist Adam Mickiewicz’, der in Nowogródek, im heutigen Belarus, geboren wurde, in Vilnius studierte und von dort nach Zentralrussland verbannt wurde, scheint auch heute noch viele mitteleuropäische Literaturliebhaber und Revolutionsromantiker anzusprechen.

»Ich habe noch ein Buch gefunden, das für mich wichtig ist, Sieben Tierdialoge von Colette. Der Name der Autorin spielt in meinem Leben eine besondere Rolle. Als ich in unterschiedlichen Funktionen an der Universität tätig war, habe ich mir einen Nicknamen gegeben. Und das war Colette.

Und als während des Verhörs mein Telegram-Konto durchsucht wurde, stießen die KGB-Männer auf diesen Namen von mir, der Verwalterin der Konten. Als es dann darum ging, dass ich mit ihnen zusammenarbeiten sollte, haben sie nach einem Nicknamen für mich als Mitarbeiterin gesucht. Da habe ich wieder Colette vorgeschlagen. In diesem Moment musste ich laut lachen. Meine Nerven lagen in diesem Moment blank, und ich konnte das Lachen nicht unterdrücken, alles erschien so irreal, und das Lachen war ein Ventil für diesen furchtbaren Druck, unter dem ich während des Verhörs gestanden hatte.

Dieser Druck hat sich in meinen Körper eingespeichert, in Erinnerungen festgefressen. Immer wieder, fast zwanghaft, habe ich dieses Verhör, jedes Wort, das bei dem Verhör gefallen ist, analysiert. Die Monate nach der Wahl waren ein einziges Wechselbad der Gefühle. Mal war ich im siebten Himmel vor Glück über uns alle, über die neue Freiheit und die Solidarität des Volkes, dann wieder stürzte ich in ein tiefes Loch der Verzweiflung angesichts der Gewalt und Lügen des Regimes. Ich pendelte zwischen Euphorie und tiefer Trauer.

Hier, in Polen, habe ich eine Therapie angefangen. Die Therapeutin nahm erstaunt zur Kenntnis, dass ich ihr die schrecklichsten Geschichten mit einem Lächeln erzählte. Sie hat mir dann erklärt, dass das Lächeln die Funktion hat, Emotionen zurückzuhalten, und solange ich mit einem fröhlichen Gesicht von meinen Erlebnissen erzähle, würde ich zu ihnen keinen Zugang finden. Das hat mich nachdenklich gemacht …

Deshalb führe ich jetzt Tagebuch. Ich schreibe nicht über die Vergangenheit, sondern über meinen Alltag, über das, was ich jetzt erlebe. Mein Kopf ist voll, es tut gut, die Gedanken zu ordnen. Außerdem mache ich einen Polnisch-Kurs und allmählich kann ich auch polnisch lesen.

In den Tiergeschichten von Colette, die ich mithilfe eines Wörterbuchs in polnischer Sprache gelesen habe, entdeckte ich ihren Hang zum einfachen Leben in einer für sie sehr angespannten Zeit, in der sie sich von ihrem Mann scheiden ließ. Er hat Bücher von ihr, die berühmten Claudine-Romane, unter seinem Namen veröffentlicht. Die Scheidung war furchtbar. Die Einfachheit der Tiergeschichten hat Colette in dieser stürmischen Phase ihres Lebens beruhigt.

Auch ich sehne mich oft nach Einfachheit, nach stillen Momenten, in denen mein Geist zur Ruhe kommt. Das Tagebuchschreiben hilft mir dabei, denn jeden Tag gibt es neue Erkenntnisse und Reflexionen, die festgehalten werden wollen. Es gibt Tage, an denen ich unglaublich dankbar bin, dass ich lebe und neue Freunde gefunden habe, und dann gibt es Tage, an denen ich nah am Verzweifeln bin über meine Lage und die Zustände in meinem Land.«

Als ich mit Diana nach dem Schreiben des Beitrags über sie drei Monate nach unserem Treffen in Warschau telefoniere, unterhalten wir uns nicht mehr auf Russisch, sondern auf Polnisch. Diana hat inzwischen sogar schon als Statistin beim Film gearbeitet. Aber für mich ist sie ein Star und keine Statistin.

Quelle: Diana Ignatkowa: Zwischen Euphorie und tiefer Trauer. In: Dorota Danielewicz: Der weiße Gesang. Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution. München: Europa-Verlag 2022. Abdruck der Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Lesetipps / Bibliographie

Dorota Danielewicz: Der weiße Gesang. Die mutigen Frauen der belarussischen Revolution. München: Europa-Verlag 2022.

https://www.europa-verlag.com/Buecher/6609/DerweieGesang.html

Zum Weiterlesen

Analyse

Polen als Land der politischen Immigration aus Belarus: zwischen schwieriger Geschichte, technokratischer Einstellung und großer Politik

Von Marta Jaroszewicz
Seit vielen Jahren ist Polen ein wichtiger Aufenthalts- und Aktionsort für Teile der politischen und kulturellen Elite Belarus’, in geringerem Maße auch der politischen Diaspora anderer Staaten der ehemaligen UdSSR. Man kann allerdings nicht sagen, dass Polen als klassisches Aufnahmeland für politische Flüchtlinge mit einer gut entwickelten Tradition zur Unterstützung ihrer Aktivitäten gilt. Zu den Gründen gehören das komplizierte historische Erbe, Sorge um die Situation der Polen im Herkunftsland der betreffenden Migranten sowie auch die diffuse und gleichzeitig technokratische Einstellung gegenüber Fragen der Einwanderung. Auch wenn einige Unterstützungsprogramme für die politische Emigration aus Belarus, z. B. (…)
Zum Artikel
Analyse

Nationale Geschichtspolitik, restriktive Sicherheit und illiberale Demokratie – die polnische Ostpolitik unter der PiS-Regierung

Von Adam Balcer
In ihren knapp vier Jahren an der Regierung vollzog die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens radikale Veränderungen, u. a. in der polnischen Ostpolitik. In den Beziehungen zu den östlichen Nachbarn wird nun ein wesentlich größeres Gewicht auf die bilateralen Beziehungen als auf die EU-Perspektive gelegt, desgleichen auf die »nationale« Geschichtspolitik, auf eine sehr restriktive Sicherheitspolitik und die Marginalisierung von Fragen der Demokratisierung und der Menschenrechte. Diese Veränderungen ergeben sich aus der Ideologie der Regierungspartei.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS