Polen als Auswanderungsland und politische Diaspora in Polen: die historischen Erfahrungen
Die tragische Geschichte Polens, die Teilungen, zwei Weltkriege, die Besetzung durch Hitler-Deutschland und anschließend die Etablierung des kommunistischen Regimes, machten die unabhängige politische Aktivität oftmals unmöglich. Im polnischen politischen Denken waren daher wichtiger als die Konflikte zwischen Traditionalisten und Modernisierern, Liberalen und Sozialisten usw. die Auseinandersetzungen über den Weg, wie die Existenz eines unabhängigen Staates erreicht werden könne. Zur Geschichte Polens gehört außerdem auch die Tradition der politischen Emigration – von der sog. Großen Emigration (nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes 1831) über die Aktivitäten der polnischen Diaspora, welche die Erlangung der Unabhängigkeit Polens im Jahr 1918 unterstützte, bis zum Handeln der polnischen Exilregierung in London, die von 1939 bis 1990 bestand. Zweifellos ist eine der prägenden Erfahrungen, welche die polnische Gesellschaft beim jahrhundertelangen Wirken ihrer Emigration gemacht hat, die große Heterogenität der politischen Diaspora, wozu die Vielfalt der gesetzten politischen Ziele und Methoden bei jedoch gleichzeitiger Fokussierung auf den Kampf um den Fortbestand des Nationalstaates gehört. Das beeinflusst meiner Meinung nach bis heute die Wahrnehmung von politischer Diaspora in Polen, deren Akteure aus anderen Ländern nach Polen flüchten, weil sie dem Regime in ihrem jeweiligen Herkunftsland die Legitimität absprechen.
Neben seinen jahrhundertelangen Emigrationserfahrungen hat Polen auch historische Erfahrungen mit der Aufnahme von Immigrantengruppen. Nach Beendigung des polnisch-sowjetischen Krieges 1920 entschloss sich ein Teil der national eingestellten ukrainischen und belarussischen Eliten, sich in Polen niederzulassen, wobei es Polen letztendlich nicht gelang, sein Konzept einer Föderation der Nationen Osteuropas zu realisieren. Beispielsweise entschieden sich ca. 30.000 Soldaten und Aktivisten der Ukrainischen Volksrepublik unter der Präsidentschaft von Symon Petlura für die Emigration nach Polen. Ebenso dienten Vertragsoffiziere aus Georgien oder Belarus in der polnischen Armee. Stark vereinfacht lässt sich sagen, dass die damalige Politik der polnischen Regierung gegenüber der politischen Diaspora aus den von Sowjetrussland beherrschten Ländern zwischen Realpolitik [im Original Deutsch, Anm. d. Übers.] gegenüber dem mächtigen östlichen Nachbarn einerseits und Unterstützung für den sog. Prometheismus (Bewegung in Ländern Ostmitteleuropas und des Kaukasus mit dem Ziel, sich vom sowjetischen Einfluss zu befreien) andererseits oszillierte. Das Echo der daraus erwachsenen Dilemmata lässt sich bis heute beobachten.
Die Frage der nationalen Minderheiten
Das Fehlen einer eindeutigen und langfristigen Politik Polens zur Unterstützung der nationalen Bestrebungen der Gesellschaften Osteuropas im Kampf gegen den russischen Imperialismus resultierte hauptsächlich aus den politischen Ambivalenzen, die sich aus der komplizierten nationalen Gemengelage in der Region ergaben. In der Zwischenkriegszeit gehörten zu Polen umfangreiche Gebiete, in denen Ukrainer und Belarussen lebten. Je nach Entwicklungsphase der Beziehungen waren sie den polnischen Machthabern gegenüber zumindest feindselig eingestellt und strebten nach Unabhängigkeit der von ihnen bewohnten Gebiete. U. a. befördert durch die sowjetischen und nationalsozialistischen Machthaber, führten diese ungelösten Konflikte während des Zweiten Weltkrieges zu einer tragischen Gewaltspirale vor nationalem Hintergrund.
Nach dem Ende des Krieges verlor Polen mehr als 45 Prozent seines Vorkriegsterritoriums an die Sowjetunion. Jerzy Giedroyc, moralische Autorität im Pariser Exil, der in den schwierigen Jahren des kommunistischen Systems die Idee der Versöhnung von Polen, Ukrainern, Belarussen und Litauern vertrat, sah darin eine Chance, den Ballast der Geschichte hinter sich zu lassen, und hatte die Vision, neue Beziehungen zwischen demokratischen Nationen nach 1990 zu schaffen. Dies erwies sich allerdings als eine allzu optimistische Vorstellung. In den Ländern der Region wurde begonnen, neue politische Institutionen aufzubauen, die nicht demokratisch und tolerant gegenüber politischen Gegnern waren. Gleichzeitig verschob sich in der Praxis der polnischen politischen Eliten der Schwerpunkt in Richtung Schutz für die Menschen polnischer Nationalität. So wenig sich die kommunistischen Machthaber in Polen – abgesehen von der Repatriierungswelle in den 1950er Jahren – für das Schicksal der polnischen Minderheit außerhalb Polens interessiert hatten, so sehr vertraten die demokratischen Regierungen der Dritten Republik den Standpunkt, dass neben dem Aufbau guter Beziehungen zu den östlichen Nachbarstaaten ein wichtiges Ziel der polnischen Politik die Garantie des Rechts auf Pflege der polnischen Sprache und Tradition für die dort ansässige polnische Bevölkerung ist.
Eine besonders schwierige Situation trat in den polnisch-belarussischen Beziehungen auf. Belarus ist derjenige Nachbarstaat, in dem die größte polnische Minderheit lebt. Trotz schwerer Repressionen, welche die Polen in der UdSSR erlitten, verzeichnete die Volkszählung im Jahr 1959 auf belarussischem Gebiet 538.000 Personen, die als Nationalität polnisch angaben. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde die polnische Minderheit einer der gesellschaftlich aktivsten Teile der belarussischen Gesellschaft. Dies stieß auf die entschiedene Ablehnung der belarussischen Machthaber mit Präsident Alexander Lukaschenko an der Spitze. Einen Höhepunkt erlebte der Kollisionskurs im Jahr 2005, als die belarussischen Machthaber die bestehenden Strukturen der polnischen Minderheit für illegal erklärten und einen ihnen gegenüber loyalen Verband der Polen in Belarus (Związek Polaków na Białorusi) schufen. Es fehlen die Quellen, um die Verschärfung der belarussischen Politik gegenüber der polnischen Minderheit umfassend zu analysieren, klar ist aber, dass ab 2005 in Polen stärker institutionalisierte Unterstützungsmechanismen für belarussische Emigranten entwickelt wurden.
Dennoch und wahrscheinlich aus geopolitischen Gründen sowie aus dem Wunsch, pragmatische Beziehungen mit Belarus zu pflegen, unternahmen polnische Regierungen sowohl unter der Führung der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) als auch von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) Versuche, die Beziehungen zum Regime in Minsk zu normalisieren. Erst die Ereignisse in Belarus vom August 2020, als es zu Fälschungen der Präsidentenwahlen kam und später prominente polnische Akteure in Belarus inhaftiert wurden (darunter Andżelika Borys, die Vorsitzende des ursprünglichen, von den belarussischen Machthabern unabhängigen Verbands der Polen), scheinen zu zeigen, dass die belarussischen Machthaber die Vertreter der polnischen Minderheit als Feinde im Inneren behandeln, gegenüber denen man willkürliche Inhaftierungen oder Folter einsetzen darf, und dass es eine Illusion war, davon auszugehen, Zugeständnisse auf polnischer Seite könnten irgendwie das Vorgehen der belarussischen Machthaber beeinflussen.
Was die belarussische Minderheit in Polen betrifft, so war sie bis dato weder für die belarussische Außenpolitik noch für die Aktivierung der belarussischen politischen Diaspora, die nach Polen emigrierte, ein Schlüsselfaktor (eine feststellbare Mobilisierung der belarussischen Minderheit setzte nach den brutalen Repressionen im Zuge der gefälschten Präsidentenwahlen in Belarus ein). Gründe dafür können die schwach ausgeprägte nationale Identität, die dorftypischen nationalen Traditionen, die beim Umzug in die Stadt leicht verloren gehen, und der weit fortgeschrittene Assimilierungsprozess sein. Soziologische Untersuchungen stellen bei der belarussischen Minderheit im Vergleich zur ukrainischen Minderheit eine schwache Selbstidentifikation fest. Infolge des Verlustes der eigenen Sprache verlagert sie sich zunehmend in den religiösen Bereich, was die nationale belarussische Minderheit vor allem zu einer religiösen, orthodoxen Minderheit macht.
Die Migrationspolitik Polens
Bevor ich zur Darstellung der Unterstützungsprogramme für die belarussische Diaspora komme, sollen die Grundzüge der polnischen Migrationspolitik erläutert werden. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems wandte sich Polen von der bisher kontrollierenden und reglementierenden Migrationspolitik ab. Wichtigste Ziele der neuen Politik wurden die »Europäisierung« sowie die Anwendung internationaler Normen und Praktiken. Eine der ersten Entscheidungen war die von der polnischen Regierung bereits 1991 vollzogene Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention und die damit einhergehende Implementierung des Rechtes auf internationalen Schutz in die polnische Gesetzgebung. Interessanterweise war die Asylgesetzgebung viele Jahre lang der am besten entwickelte Teil der polnischen Migrationspolitik, während Vorschriften zum Erhalt eines legalen Aufenthaltsstatus in Polen aus verschiedenen Gründen noch nicht ausgearbeitet waren. In den Folgejahren, während des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union und zusammen mit der Entwicklung der Asylpolitik der Europäischen Union, führte Polen auch andere internationale Schutzmechanismen wie den subsidiären oder den temporären Schutz in sein Rechtssystem ein sowie auch nationale Schutzmechanismen, so den Status der Duldung und später auch das humanitäre Visum. Eine spezifisch nationale Form des Schutzes ist auch das politische Asyl, das gemäß polnischer Verfassung zuerkannt wird: Asyl kann unabhängig von jedweden Voraussetzungen gewährt werden, es reicht hier der politische Wille des Staates. Festzuhalten ist auch, dass bis zum Jahr 2015, als politische Akteure begannen, das Thema Migration für den Parlamentswahlkampf auszunutzen (leider sehr häufig auf extrem populistische Art und Weise), die Flüchtlingsproblematik in Polen nicht politisch instrumentalisiert worden war. Das erlaubte einerseits, den technokratisch-bürokratischen Charakter dieses Bereichs beizubehalten, andererseits verhinderte das wegen fehlender Aufmerksamkeit vonseiten der Politik die Entwicklung ambitionierterer Unterstützungsprogramme für politische Flüchtlinge.
Im allgemeinen Verständnis erfüllt eine Person, die ihre Heimat aus Angst vor Verfolgung wegen ihrer politischen Ansichten verlässt, maximal die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus auf der Grundlage der Genfer Konvention. Allerdings ist das in der Praxis nicht immer der Fall. Die betreffende Person ist nicht immer im Stande, die individuell bestehende Gefahr vor Verfolgung zu beweisen; hinzu kommt, dass sie eventuell nicht den Flüchtlingsstatus beantragen will bzw. muss. Aus der Befürchtung möglichen Missbrauchs heraus haben die Länder der Europäischen Union das Antragsverfahren immer mehr verschärft. Das hat in der Praxis zur Folge, dass Anträge als unbegründet bewertet oder zurückgewiesen werden, obwohl damit häufig das Recht des Antragstellers auf den Flüchtlingsstatus verletzt wird. Andererseits zeigen die von mir durchgeführten Untersuchungen, dass sich gerade die aktivsten belarussischen Oppositionellen und Menschenrechtler nicht unbedingt um den Flüchtlingsstatus bemühen wollen, da dies ihnen letztlich die Rückkehr nach Belarus versperrt und negative Folgen für die in Belarus verbliebenen Familienmitglieder nach sich ziehen kann. Die Anzahl der eingereichten oder anerkannten Anträge auf den Flüchtlingsstatus oder andere Schutzkategorien ist daher eine sehr wenig aussagekräftige Kennziffer. Sie kann die Existenz einer politischen Diaspora aus einem bestimmten Land anzeigen, kann aber auch irreführende Aussagen machen. Wichtige, wenn nicht wichtigere Anzeiger sind die Anzahl der registrierten Organisationen der Diaspora im Zielland oder die Anzahl ihrer Mitglieder. Allerdings bildet sich die belarussische Diaspora im Sinne einer politisch und gesellschaftlich aktiven Gruppe zurzeit erst heraus und ist noch nicht ausgeprägt formalisiert.
Außer der Asylgesetzgebung haben für die belarussische Emigration drei recht spezifische Einrichtungen des polnischen Migrationsrechts Schlüsselbedeutung. Es geht hier erstens um die seit 2007 entwickelten und 2013 vollständig in Kraft gesetzten Vorschriften über den erleichterten befristeten Zugang zum Arbeitsmarkt für die Bürger der Länder der Östlichen Partnerschaft und Russlands. So können die belarussischen Bürger nach Polen einreisen und sich auf der Grundlage einer Absichtserklärung des Arbeitgebers, den ausländischen Arbeitnehmer in einem Zeitraum von bis zu 24 Monaten (vor 2021 waren es sechs Monate) zu beschäftigen, legal im Land aufhalten und arbeiten. Dies ist die einfachste Möglichkeit, einen legalen Aufenthalt in Polen anzutreten, und erfordert zudem nur ein Minimum an Formalitäten. Viele Belarussen machen von ihr Gebrauch, unabhängig vom Grund ihres Weggangs aus dem Herkunftsland. Die zweite, nicht mehr zeitlich begrenzte, sondern auf Langfristigkeit angelegte Möglichkeit, ein Aufenthaltsrecht in Polen zu erlangen, ergibt sich aus dem Besitz der sog. Polen-Charta. Dieses Dokument, das per Gesetz im Jahr 2007 eingeführt wurde, bestätigt die polnische Abstammung. Der Besitzer der Polen-Charta kann ein vereinfachtes Verfahren zur Erlangung einer Niederlassungserlaubnis in Anspruch nehmen. Drittens begann Polen im Jahr 2020, aktiv das Instrument des humanitären Visums einzusetzen, das vom EU-Gesetz vorgesehen ist. Polen passte das Instrument mit Blick auf den verstärkten Zustrom von belarussischen Bürgern an seinen Bedarf an und ermöglichte ihnen nicht nur die Einreise nach Polen aus humanitären Gründen, sondern befreite die Berechtigten auch von der Notwendigkeit, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen.
Flüchtlinge aus Belarus in Polen vor dem Hintergrund anderer nationaler Gruppen
Polen ist ein Land, das auf gemäßigtes Interesse bei Menschen stößt, die in der EU den Flüchtlingsstatus beanspruchen. Polen hatte deutlich weniger als die westeuropäischen Länder mit der Migration aus den Gebieten des Balkankrieges und später des Nahen Ostens während der sog. Flüchtlingskrise 2015 zu tun. Am sichtbarsten ist Polen Zielland für diejenigen Flüchtlinge, die historische Verbindungen zu Polen haben, insbesondere im Zusammenhang mit den nationalen Freiheitsbestrebungen. So kam auch die Mehrheit der Personen, die den Flüchtlingsstatus in Polen beantragten, aus den Ländern der ehemaligen UdSSR. Von 1991 bis Ende 2016 stellten knapp 140.000 Ausländer einen Antrag auf Flüchtlingsstatus. Die Rekordzahl von über 15.000 Anträgen ging im Jahr 2013 ein, als die Anzahl der Gesuche von Bürgern der Russischen Föderation tschetschenischer Herkunft drastisch stieg. In dieser Zeit brachten Bürger der Russischen Föderation (diese mit deutlicher Mehrheit), Armeniens, Georgiens und der Ukraine die meisten Anträge ein. Allerdings wurde nur knapp 23.000 Personen der Flüchtlingsstatus zuerkannt, was sowohl auf den großen Anteil von Absagen als auch von Verfahrenseinstellungen zurückzuführen ist, wenn z. B. Geflüchtete während der Bearbeitung ihres gestellten Antrags nach Deutschland oder in andere EU-Länder weiterreisten (insbesondere vor Inkrafttreten des Dublin-Abkommens III, das seit 2014 u. a. regelt, dass ein Asylbewerber in dem EU-Mitgliedstaat seinen Asylantrag stellen muss, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat). Mit der Einführung des subsidiären Schutzstatus wurde dieser der vorherrschende Typ der zuerkannten Status. 2016 kam es zu einer grundsätzlichen Verschärfung des Asylprozedere durch die polnischen Behörden; u. a. wurden Anträge direkt an Grenzübergängen abgewiesen, was v.a. für Bürger der Russischen Föderation tschetschenischer Nationalität sowie Tadschikistans den Zugang auf polnisches Gebiet erschwerte und Polen einige negative Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte einbrachte.
Mit Blick auf die hier genannten Daten waren belarussische Bürger bis 2020 weniger unter den Antragstellern auf internationalen Schutz vertreten. Es wurde auch keine klare Korrelation zwischen der Verschärfung der Repressionen in Belarus und der Anzahl der gestellten Anträge sichtbar. Die Welle der Repressionen und Zukunftssorgen, die im August 2020 einsetzte, scheint jedoch ein Wendepunkt gewesen zu sein. Die Belarussen begannen, die Möglichkeit des Schutzstatus zu nutzen. Insgesamt stellten sie in den Jahren 2020 bis 2022 (bis April) mehr als 2.800 Anträge auf internationalen oder nationalen Schutz. 2020 lag die Anerkennungsquote bei 79 Prozent, 2021 und 2022 (bis April) bei fast 100 Prozent. Die Popularität der Möglichkeit der Arbeitsmigration war bereits früher gestiegen, in den Jahren 2016 bis 2017. Im Jahr 2017 wurden belarussischen Bürgern 58.000 Arbeitgeberbescheinigungen ausgestellt, im Jahr 2019 waren es 69.000 und 2021 wurden 78.000 angefertigt. Auch das Interesse an der Polen-Charta wurde ab 2017 deutlich stärker, auch wenn dieses Dokument per se kein Instrument der Migrationspolitik ist. Insgesamt erhielten im Zeitraum von 2008 bis 2019 144.000 Bürger von Belarus die Polen-Charta. Betrachtet man die Gesamtzahl der Anträge auf Aufenthalt in Polen (gewöhnlich im Zusammenhang mit der Polen-Charta, aber auch Studium oder Familienzusammenführung) sowie der befristeten Arbeitsgenehmigungen (Bescheinigung des Arbeitgebers) sind Belarussen seit 2019 nach den Ukrainern die zweitstärkste Migrantengruppe in Polen.
Die Entwicklung von Unterstützungsmaßnahmen für Belarussen
Bereits seit dem gefälschten Verfassungsreferendum in Belarus im Jahr 1996, mit dem Lukaschenko seine Rechte massiv ausbaute, setzte es sich Polen zum Ziel, die Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien in Belarus zu unterstützen. Die Unterstützung der exilierten politischen Diaspora begann sich allerdings erst in den Jahren 2005/06 als Ziel herauszubilden. Abgesehen von Aktivitäten mit dem Ziel, die unabhängigen polnischen Organisationen in Belarus aufzulösen, fanden im Jahr 2006 dort Präsidentenwahlen statt, in deren Umfeld Vertreter der Opposition schikaniert wurden und eine Massendemonstration für den Kandidaten der Opposition, Alexander Milinkewitsch, brutal auseinandergetrieben wurde.
Die Repressionen gegenüber den Studenten, die einen großen Teil der Protestierenden im Jahr 2006 stellten (u. a. der massenhafte Verweis von den Universitäten), waren der direkte Auslöser für die polnische Regierung, noch im selben Jahr das erste institutionalisierte Unterstützungsprogramm für belarussische Migranten aufzulegen. Das Konstanty Kalinowski-Stipendienprogramm für Studenten aus Belarus, die von ihrer Universität verwiesen wurden, wurde aus dem öffentlichen Haushalt finanziert und zeichnete sich durch sehr flexible Anwendungsregeln aus. An dem Programm nahmen in seiner ersten Auflage 300 Personen teil. Es umfasste u. a. Polnischsprachkurse und die Möglichkeit, dass das Studium an einer polnischen Hochschule sogar für einen Zeitraum von fünf Jahren finanziert wird. Das Programm gibt es auch heute noch, wobei die Regeln verändert wurden. Das Interesse an diesem Angebot war im Laufe der Jahre unterschiedlich. Gewöhnlich vergrößerte es sich nach Repressionswellen in Belarus, die in der Regel mit nichtdemokratischen Wahlen einhergingen, so in den Jahren 2010 und 2020. Laut Informationen der Programmvertreter haben zwischen 2006 und 2020 an insgesamt 79 Hochschulen in Polen 1.762 Stipendiaten des Programms studiert.
Das Jahr 2006 war auch eine Zäsur, was die Aktivierung der polnischen Zivilgesellschaft für die Unterstützung demokratischer Veränderungen in Belarus sowie die Unterstützung für belarussische Aktivisten und Kulturschaffende, die Belarus verlassen mussten, anbelangt. Seit 2006 organisiert die von Studenten gegründete Initiative Freies Belarus (poln. Wolna Białoruś) jährlich Konzerte mit hervorragenden belarussischen und polnischen Musikern im Zentrum von Warschau, was das Problembewusstsein über die Menschenrechtsverletzungen in Belarus in der polnischen Gesellschaft deutlich schärfte. Darüber hinaus entstanden weitere soziale Organisationen, z. B. Freiheit und Demokratie (poln. Wolność i Demokracja), die sich zum Ziel gesetzt hat, Opfer von Repressionen in Belarus zu helfen. Die ersten polnischen Organisationen, die demokratische Entwicklungen in Belarus unterstützten, entstanden aber bereits Mitte der 1990er Jahre, z. B. das Institut für Demokratie in Osteuropa (Instytut na rzecz Demokracji w Europie Wschodniej), das Osteuropäische Demokratische Zentrum (Wschodnioeuropejskie Centrum Demokratyczne) oder das belarussische Programm der Stefan Batory-Stiftung (Fundacja im. Stefana Batorego).
Außerdem setzte eine schnelle Entwicklung bei unabhängigen belarussischen Medien ein, die immer weniger Möglichkeiten hatten, in Belarus zu arbeiten. Die wichtigste Initiative dieser Art ist vermutlich der im Jahr 2007 von belarussischen und polnischen Journalisten gegründete TV-Satelliten-Sender Biełsat, der seine Programme nach Belarus ausstrahlt. Der Sender entstand und arbeitet dank einer Vereinbarung zwischen dem polnischen Außenministerium und dem Polnischen Fernsehen (Telewizja Polska S.A.) über eine langjährige, gemeinsame Produktion. Biełsat TV und die mit ihm verbundenen Medien (v.a. die Webseite) sind vermutlich europaweit das größte Unterstützerprojekt für unabhängige Medien in Belarus. Daneben gibt es weitere unabhängige belarussische Medien, die aus Polen in belarussischer Sprache senden, etwa Radio Racyja (poln: Racja) im nordostpolnischen Białystok, das aus dem polnischen öffentlichen Haushalt finanziert wird, oder das Europäische Radio für Belarus mit Sitz in Warschau.
Infolge der Repressionen, die gesellschaftliche und politische Organisationen nach den gefälschten Präsidentenwahlen im Jahr 2010 trafen, mussten viele von ihnen nach Polen oder Litauen gehen, um ihre Tätigkeit fortsetzen zu können. Zu nennen wären hier v.a. die Organisation Charta 97, das belarussische Pendant zur tschechoslowakischen Charta 77, eine Initiative, die belarussische Organisationen und oppositionelle Politiker gegen die Diktatur vereint, oder das Belarussische Haus in Warschau (poln. Białoruski Dom w Warszawie), das im Jahr 2010 auf Initiative zweier belarussischer demokratischer Bewegungen (Bewegung »Für die Freiheit« und Bewegung des Europäischen Belarus) entstand. Inzwischen ist das Belarussische Haus, so seine Gründer, zu einer »unabhängigen Botschaft« von Belarus geworden, die die in Polen lebenden Belarussen unterstützt.
Das Hilfspaket »Solidarisch mit Belarus«
Zwar existierten Organisationen und Ideen zur Unterstützung der belarussischen politischen Diaspora schon früher, doch wurde die Unterstützung erst mit dem August 2020 institutionalisiert und der Einsatz für die belarussische Emigration eine Priorität für die polnische Zentralregierung. Sehr schnell, und zwar bereits eine Woche nach den gefälschten Präsidentenwahlen in Belarus gab die polnische Regierung einen Unterstützungsplan für die Belarussen in Polen bekannt, der die bereits bestehenden Programme sowie neue Instrumente umfasste. Der Plan sah Hilfe für die unabhängigen Medien und den Ausbau des Kalinowski-Stipendienprogramms vor, aber auch neue Initiativen wie finanzielle Unterstützung für verfolgte Personen, psychologische Hilfe, Beratungen für rechtliche Angelegenheiten des Aufenthaltsstatus, Sprachkurse, Hilfe bei Übersetzungen sowie bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Hinzu kam das neue Programm der Stiftung für Internationale Solidarität (Fundacja Solidarności Międzynarodowej), das sich an Nichtregierungsorganisationen wendet. Bei der Implementierung des Hilfspakets machte die Regierung deutlich, dass sich dieses nicht gegen Belarus und die belarussische Gesellschaft richte, sondern vielmehr die am stärksten Geschädigten unterstützen solle. Sowohl Vertreter der Opposition als auch Experten lobten übereinstimmend den Einsatz der Regierung zur Unterstützung der Belarussen. Kritisiert wurde allerdings das Fehlen transparenter Regeln für die Bewilligung der Hilfsmaßnahmen; auch wurde angemahnt, die Rolle belarussischer Organisationen bei der Gestaltung der Hilfsangebote zu vergrößern.
Darüber hinaus wurden auch grundlegende Gesetzesänderungen vorgenommen, die belarussischen Bürgern die Einreise und die Legalisierung ihres Aufenthaltes in Polen erleichtern. Die Vergabe von humanitären Visa wurde ausgebaut und es wurden spezielle Visa und begrenzte Unterstützungsleistungen im Rahmen des Programms Poland Business Harbour eingeführt. Deren Ziel ist es, Beschäftigte im IT-Sektor, die ihre Tätigkeit in Polen ansiedeln, befristet zu unterstützen. Erleichterungen wurden auch für medizinisches Fachpersonal aus Belarus eingeführt, das in Polen eine Tätigkeit aufnehmen will. Informationen des Außenministeriums vom Juni 2021 zufolge wurden seit August 2020 knapp 125.000 Visa an belarussische Bürger ausgegeben, darunter ca. 10.000 humanitäre Visa. Mehr als 3.000 Personen nutzten das Programm Poland Business Harbour. Nach der Erweiterung des Programms auf Bürger der Ukraine bis zum Mai 2022 wurden 21.000 Visa ausgestellt. Seit Dezember 2020 haben sich knapp 1.000 medizinische Fachkräfte für einen Polnischsprachkurs oder Polnischkurs für medizinische Fachsprache angemeldet, was ihre Arbeitssuche erleichtern dürfte. Eine offene Frage bleibt, inwieweit diese Programme nicht zum Ziel haben, langfristig hochqualifizierte Fachkräfte in den polnischen Arbeitsmarkt zu integrieren, bzw. inwieweit auch Mechanismen eingeführt werden, die die Rückkehr von Migranten nach Belarus unterstützen, sollte sich dort die politische Situation ändern.
Die Aktivitäten der Diaspora
Ausmaß und Verlauf der Proteste in Belarus nach den Präsidentenwahlen 2020 erinnerten an die Demonstrationen aus den Anfängen des Kampfes gegen das Regime und überraschten sowohl die Machthaber im Land als auch die internationale Öffentlichkeit, vor allem aber die Belarussen selbst. Auch die massenhafte Mobilisierung der Belarussen im Ausland war beispiellos. Zum ersten Mal traten als neue Eigenschaften der belarussischen Diaspora ihre breite Politisierung und ihr zivilgesellschaftliches Engagement hervor. Neben Demonstrationen, Protestkundgebungen und Menschenketten wurden neue Aktionen wie Konzerte, Picknicks, Flashmobs u. ä. durchgeführt. Während der COVID-19-Pandemie passten sich die Protestformen rasch an die epidemiologischen Schutzmaßnahmen an und verlagerten sich ins Internet oder äußerten sich in individuellen Protestbekundungen. Verbreitet war z. B., eine belarussische Fahne ins Fenster zu hängen. Im Prinzip entstanden in jeder größeren Stadt Organisationen zur Unterstützung verfolgter Belarussen bzw. wurden sie reaktiviert. Auf nationaler Ebene wurden außer dem bereits genannten Belarussischen Haus neue Organisationen gegründet wie das Zentrum für Belarussische Solidarität (poln. Centrum Białoruskiej Solidarności) oder das Belarussische Jugend-Drehkkreuz (poln. Białoruski Młodzieżowy Hub). Eine besondere Bedeutung für die oppositionelle Bewegung in Belarus sowie die Mobilisierung der belarussischen Diaspora haben die sozialen Medien, u. a. der legendäre Kanal Telegram NEXTA mit Sitz in Polen. Was fehlt, sind eindeutige, öffentlich zugängliche Informationen darüber, warum Swetlana Tichanowskaja als »nationale Anführerin der belarussischen Opposition« in Wilna (Litauen) lebt. Sie gehört zum Präsidium des sog. Koordinationsrates für die Machtübergabe in Belarus, der erklärt, das einzige »Vertreterorgan der belarussischen Gesellschaft« zu sein. In Warschau ist dagegen Pawel Latuschko aktiv, der das sog. Nationale Krisenmanagement leitet. Der ehemalige Kulturminister von Belarus formuliert als Ziel, detaillierte Pläne für einen Machtwechsel in Belarus und die politisch-wirtschaftliche Transformation auszuarbeiten.
Was kommt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine?
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die enge belarussisch-russische Zusammenarbeit im militärischen Bereich und die Angriffe auf die Ukraine von belarussischem Gebiet aus führten zu einer dramatischen Verschlechterung der Lage der belarussischen Diaspora. Die aktive Unterstützung, die das belarussische Regime dem Aggressor Russland gewährt, beschädigte einerseits das Ansehen der belarussischen Diaspora in den Aufnahmegesellschaften und rief andererseits Schuldgefühle und Frustration unter den Belarussen in der Emigration hervor. Die emigrierten Aktivisten kamen überein, dass sie sich angesichts der neuen Situation klar für die Ukraine aussprechen müssen, und begannen, die Zivilgesellschaft im Heimatland zu Sabotageakten oder passivem Widerstand gegen die militärischen Aktivitäten aufzurufen, was auch einen gewissen Erfolg zeitigte. Zudem wurde eine Sondereinheit aus belarussischen Emigranten gebildet, die auf der Seite der Ukraine kämpft. Allerdings stellen sie sich dadurch in eine noch größere Opposition zu den aktuellen belarussischen Machthabern und setzen sich Repressionen aus; zudem ist nicht klar, ob dies ihrer Popularität in der belarussischen Gesellschaft dienlich ist, die unter dem aktiven Einfluss der russischen Propaganda steht. Was die polnische Regierung und Gesellschaft betrifft, so ist es selbstverständlich, dass zurzeit der Großteil der Mittel und Kräfte für die Hilfe für die ca. 1,5 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine zum Einsatz kommt, die seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 nach Polen kamen.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate