Lähmung und Zähmung. Von den Wahlen bis zum Krieg
Eigentlich schienen die Rollen klar verteilt zu sein: Nach den Wahlen in Polen 2015, als die der seit langem regierenden CDU eng verbundene Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) abgewählt wurde und die deutschland- und europaskeptische Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) an die Macht kam, isolierte sich Polens Regierung in Europa zunehmend. Sie musste sich nicht nur gegen den Vorwurf wehren, durch den Umbau der Justiz oder die Beeinflussung der Medienlandschaft die Rechtsstaatlichkeit massiv zu verletzen, sondern geriet zum Beispiel auch wegen der Beschneidung von Frauen- und Minderheitenrechten oder der Misshandlung von Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze in die Kritik. Schließlich schien nur Viktor Orbáns Ungarn Polen noch zur Seite zu stehen. Polens Regierung versuchte der Isolierung zu begegnen, indem sie sich für den Aufbau einer nationalkonservativen europäischen Bewegung einsetzte: Noch Anfang Dezember 2021 hatte die PiS führende rechte Politiker nach Warschau eingeladen. Marine Le Pen, Viktor Orbán, Santiago Abascal, Vertreter aus Österreich, Finnland, Belgien, Rumänien, Estland und Litauen gaben sich ein Stelldichein und erklärten, sie wollten das Europa der Nationalstaaten stärken. In den Kommentaren der PiS-hörigen Medien klang das mit den Worten des TVP Info-Redakteurs Michał Rachoń so: »Das war ein Treffen von Parteien aus Europa, die den Vorschlag nicht akzeptieren, die Staaten in einen mit Hilfe der EU geschaffenen deutschen Superstaat zu integrieren.« Ende Januar 2022 wiederholte sich das Treffen in Madrid. Dass viele der eingeladenen Parteien Russland und Wladimir Putin nahe standen, schien die führenden PiS- und Regierungspolitiker Jarosław Kaczyński und Mateusz Morawiecki zumindest nach außen hin nicht zu stören. Die europaskeptische und deutschlandkritische Aussage dürfte ihnen für den innenpolitischen Gebrauch wie auch für außenpolitisches Handeln damals noch wichtiger gewesen sein.
In dieser Zeit befand sich die deutsche Politik in einer Phase des Umbruchs: Der Bundestagswahlkampf, die Niederlage von CDU/CSU, die anschließenden Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung lähmten Deutschlands Politik für Monate bis Ende 2021. Das Thema Polen, wie auch andere außenpolitische Aspekte, hatten im Wahlkampf keine Rolle gespielt. In der von den drei neuen Regierungsparteien SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen unterzeichneten Koalitionsvereinbarung tauchte das Wort »Polen« gerade zweimal auf. Einmal ging es dabei um die Erinnerungskultur, nämlich um die Unterstützung »für einen Erinnerungs- und Begegnungsort im Gedenken an die Opfer der Besatzung Polens und die wechselvolle deutsch-polnische Geschichte«. Dieser vom Bundestag im Herbst 2020 beschlossene Ort soll Wissen und Empathie über Polen generieren und damit die aufgrund der schwierigen gemeinsamen Geschichte immer wieder entstehenden politischen Spannungen zwischen beiden Staaten lindern.
Die zweite Erwähnung Polens im Koalitionsvertrag folgte unter der Überschrift »Europäische Partner«: »Deutschland und Polen verbindet eine tiefe Freundschaft. Wir stärken hier die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Akteure (…). Wir verbessern die Zusammenarbeit in Grenzräumen (…).« Auffällig war, wie die zivilgesellschaftliche und grenznahe Kooperation betont wurde, während eine qualitative Verbesserung der politischen Kontakte keinen Eingang in das Papier fand.
Bei der polnischen Regierungspartei stieß jedoch der Abschnitt über die deutschen Pläne zur Entwicklung der Europäischen Union auf weitaus größeres Interesse. Unter dem Titel »Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt« erkannten die polnischen regierungsnahen Journalisten und Experten Pläne für eine deutsche Vorherrschaft in einem föderalen Europa und die Durchsetzung deutscher Standpunkte bei der Gestaltung der Zukunft der Gemeinschaft. Das war das Gegenteil dessen, was sich die Partei Recht und Gerechtigkeit wünschte, und so erklärte der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński kurzerhand, Deutschland wolle ein »Viertes Reich« errichten. Dies war auch einer der Gründe für die von der PiS mitorganisierten Treffen rechter Parteien: Man wollte die Monate der politischen Lähmung in Berlin dazu nutzen, eine Drohkulisse aufzubauen und Deutschlands politische Eliten mit markigen Wortmeldungen vorsorglich schon einmal zu zähmen.
Was auf polnischer Seite weiterhin als Herausforderung für die künftigen Beziehungen gesehen wurde, war die ambitionierte Klimapolitik der neuen Bundesregierung, die mit den polnischen Plänen einer weiteren Fokussierung auf Kohle und Investitionen in die Kernkraft im Widerspruch standen. Auch die Fortsetzung des Nord Stream 2-Projekts durch Deutschland wurde – nicht nur von der Regierung, sondern von allen seriösen politischen Kräften Polens – massiv kritisiert und als trennendes Element unterstrichen. Man erwartete außerdem, dass die Grünen hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit eine härtere Linie durchsetzen würden, bis hin zu Forderungen an die EU, konkrete Strafmaßnahmen einzuleiten. Wie sich die künftige Russlandpolitik gestalten würde, schien offen zu sein, da ein Teil der SPD-Politiker immer noch vor Konfrontationen mit Russland zurückscheute, während die Grünen Moskau gegenüber deutlich kritischere Töne anschlugen.
Klar war jedenfalls, dass ein Generationenwechsel in der deutschen Politik anstand: Die erhebliche Verjüngung des Bundestags und der Regierung würde dazu führen, dass Entscheidungen von Menschen getroffen werden würden, die weit weniger vom alten, historisch geprägten Denken über das Vorgehen Deutschlands gegenüber Polen und den anderen Staaten Europas beeinflusst waren. Es stellte sich gerade in Polen auch die Frage, inwieweit sie sich der historischen Verantwortung noch verbunden fühlten, Polen zu unterstützen, oder ob sie sich nicht viel stärker von wirtschaftlichen Interessen und einer pragmatischen Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses leiten lassen würden.
Das alles deutete darauf hin, dass in den deutsch-polnischen Beziehungen zwar neue Akzente und Herausforderungen anstehen würden, aber kein großer Umbruch. So empfanden das auch die Menschen in Deutschland und Polen. Zwei Tage vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine meinten 45 Prozent der Deutschen und 40 Prozent der Polen bei der Befragung im Rahmen des Deutsch-Polnischen Barometers 2022, dass es aufgrund des Regierungswechsels in Deutschland in den bilateralen Beziehungen keine große Veränderung zum Besseren oder zum Schlechteren geben werde. Der russische Angriff auf die Ukraine sollte die Situation dann aber weitgehend verändern.
Die neue deutsche Regierung hatte keine Gelegenheit, ihre Politik gegenüber Polen vor Kriegsbeginn auszuarbeiten. Olaf Scholz’ Antrittsbesuch in Warschau am 12. Dezember 2021 verlief relativ unspektakulär, Themen waren die Situation an der Grenze zu Belarus, die russische Drohkulisse gegenüber der Ukraine (Scholz forderte eine Wiederaufnahme des Normandie-Formats), die Auseinandersetzungen zwischen Polen und der EU und die unterschiedlichen Vorstellungen über Rechtsstaatlichkeit. Auch die historische Verantwortung Deutschlands kam zur Sprache, wobei Scholz zwar Reparationen kategorisch ablehnte, aber auch sagte, Deutschland stelle sich der moralischen Verantwortung für das, was Deutsche im Zweiten Weltkrieg in anderen Staaten angerichtet hätten. Über dieses erinnerungskulturelle Mantra der deutschen Politik sollte in den folgenden Monaten noch ausgiebig diskutiert werden.
Zwei Tage zuvor war bereits Außenministerin Annalena Baerbock zum Antrittsbesuch in Warschau gewesen. Im Gespräch mit dem polnischen Außenminister Zbigniew Rau entstand der – weithin kommentierte – Eindruck, als wolle der ältere Kollege die junge, unerfahrene Deutsche herablassend belehren. Er präsentierte ihr einen ganzen Katalog polnischer Forderungen, vor allem hinsichtlich »Rekompensation und Wiedergutmachung« von Kriegsschäden.
Kriege und Siege. Die Beziehungen seit dem 24. Februar 2022
Russlands Überfall auf die Ukraine kam für viele Beobachter überraschend. Polen wie Deutschland waren gleichermaßen geschockt. Die polnische Reaktion war entschlossen und klar: »Wir lassen euch nicht allein«, rief Ministerpräsident Morawiecki am 24. Februar im Sejm. »Wir stehen an eurer Seite!« Auch Bundeskanzler Scholz äußerte sich am Tag des Kriegsbeginns auf der Bundespressekonferenz unmissverständlich: »In diesen schweren Stunden gilt der Ukraine, gilt ihr und ihren Bürgerinnen und Bürgern unsere volle Solidarität.« Und er ergänzte an die Adresse der »NATO-Verbündeten in Osteuropa, in Polen, in Rumänien, im Baltikum (…): Wir verstehen eure Sorgen im Angesicht dieser Entwicklung nur zu gut. Wir werden euch zur Seite stehen. Deutschland steht zur Beistandspflicht der NATO.«
Zu diesem Zeitpunkt stand Deutschland bereits massiv in der Kritik. Gerade aus Polen wurde der Bundesregierung vorgeworfen, die russische Gefahr nicht ernst genommen zu haben und durch Projekte wie Nord Stream 2 Russland geradezu zum Krieg ermuntert zu haben. In Polen wie auch in Deutschland hatten diese Vorwürfe auch innenpolitische Komponenten. In Polen wurden sie von den PiS-Medien dazu genutzt, gleich auch noch die eigene Opposition anzugreifen, da Donald Tusk (PO) als Ministerpräsident mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsame Sache gemacht habe und deshalb mit schuld sei am Krieg. Und in Deutschland warf die in die Opposition gewechselte CDU/CSU der Ampel-Regierung Tatenlosigkeit, Zögerlichkeit und mangelnde Vorbereitung auf die Krise vor. Dabei blieb häufig außer Acht, dass unter der PiS-Regierung seit 2015 die Abhängigkeit Polens von russischer Kohle zeitweise sogar gestiegen war und bei Gas und Öl zwar sank, aber selbst im Januar 2022 noch 58 Prozent der polnischen Ölimporte aus Russland kamen bzw. dass die CDU jahrelang für die Verteidigungspolitik und damit auch für die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr verantwortlich gewesen war.
»Wir erleben eine Zeitenwende« – mit diesen Worten beschrieb Bundeskanzler Scholz bei der Sondersitzung des Deutschen Bundestags am 27. Februar 2022 den Wandel, den der russische Überfall auf die Ukraine in der Weltordnung markiert hat. Zugleich kündigte er damit einen fundamentalen Wandel der deutschen Sicherheits- und Russlandpolitik als Reaktion auf dessen Angriff auf die Ukraine an. Jahrelang waren es genau diese beiden Bereiche – die Beziehungen zu Russland und die Sicherheit –, die in den Beziehungen zwischen Polen und Deutschland Anlass zu Streitigkeiten und gegenseitigen Anschuldigungen gaben. Die Polen haben den Deutschen vorgeworfen, die Verbindungen zu Russland fortwährend zu vertiefen und die Bedrohung seitens Russlands nicht zu verstehen. Die Deutschen hielten die Polen für antirussisch und zu emotional in dieser Sache und haben ihre Argumente nicht wahrgenommen. Der Wandel in der deutschen Haltung – sowohl in der Politik als auch der öffentlichen Meinung – bot Ende Februar 2022 die Chance, dass Warschau und Berlin einander näher kommen würden.
Die unterschiedliche Wahrnehmung Russlands als Land sowie der von ihm ausgehenden Bedrohung resultierte aus für Polen und Deutschland jeweils charakteristischen historischen Erfahrungen und wirtschaftlichen Kontakten. Der Krieg hat dies tendenziell geändert. Im Februar 2022 empfanden Polen und Deutsche, die im Rahmen der Sonderausgabe des »Deutsch-Polnischen Barometers 2022« befragt wurden, Russland eindeutig als Bedrohung in allen Bereichen – politisch, wirtschaftlich und militärisch. Dies wurde von einer großen Mehrheit – drei Viertel der Befragten – in beiden Ländern so angegeben. Auch hielt die Mehrheit der Deutschen und Polen Russland für einen unzuverlässigen Partner, von dem man sich im Energiebereich unabhängig machen sollte.
Diese Annäherung dauerte aber nicht lange. So wie vor dem Ausbruch des Krieges, so wurden auch bald nach Olaf Scholz’ Zeitenwende-Rede die Schritte der deutschen Regierung gegenüber der Ukraine in Polen (und nicht nur dort) als zu langsam, zu spät und zu zaghaft wahrgenommen. Für deutsche Beobachter hat sich die deutsche Politik hingegen innerhalb weniger Wochen diametral verändert.
Tatsächlich hat der Krieg in der Ukraine Polen und Deutsche vor ernste Herausforderungen gestellt, die trotz aller bestehenden Meinungsverschiedenheiten und der gerade in Polen teils stark von antideutschen Diskursen geprägten Medienöffentlichkeit eine Erneuerung oder Intensivierung der Kontakte bewirkt haben. Mehrere Treffen auf höchster Ebene kurz vor und in den Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine (Treffen der Außenminister des Weimarer Dreiecks in Lodz (Łódź), Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Finanzminister Christian Lindner, Wirtschaftsminister Robert Habeck, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und anderer in Warschau, von Ministerpräsident Morawiecki und Außenminister Rau in Berlin) haben gezeigt, dass jenseits unterschiedlicher weltanschaulicher Vorstellungen im Einzelfall eine schnelle und konstruktive Zusammenarbeit möglich ist. Auch die positiven polnischen Äußerungen nach der Ankündigung eines radikalen Wandels in der deutschen Sicherheitspolitik durch Bundeskanzler Scholz deuteten zuerst auf eine neue Qualität im deutsch-polnischen Dialog auf höchster Ebene hin. Aber ein Grundproblem der bilateralen Beziehungen in den letzten Jahren blieb bestehen: Selbst wenn die Treffen unter vier Augen auf höchster Ebene in einer guten Atmosphäre verliefen, hinderte das die polnischen Politikerinnen und Politiker nicht, vor den Mikrofonen der Medien heftige Kritik an Deutschland und Unzufriedenheit zu äußern.
Rückkehr zum »business as usual«
Schnell bestätigten sich die Befürchtungen, dass es zu einer raschen Rückkehr zum »business as usual«, also zu scharfen Angriffen seitens der polnischen Regierungskreise und ihrer medialen Umgebung in Richtung Deutschland kommen würde. Der Unterschied zu den Jahren zuvor besteht darin, dass auch die polnische Opposition Deutschland gegenüber sehr distanziert ist: Sie ist enttäuscht und hat kein Verständnis dafür, dass Deutschland – wie sie es empfindet – zu lange mit Hilfe für die Ukraine zögert und viel zu lange auf einen Dialog mit Russland gesetzt hat. Dazu trägt auch die zaghafte deutsche Kommunikation bei, die es nicht verstanden hat, der polnischen – und europäischen – Öffentlichkeit klar zu machen, wie schwer sich Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte und der deshalb tief verankerten Kultur der Friedenspolitik mit den aktuellen Herausforderungen tut, wie viel sich aber in den wenigen Wochen seit Kriegsbeginn schon verändert hat.
Die neue deutsche Regierung wurde aber auch geradezu ins kalte Wasser geworfen. Sie hatte nur wenig Zeit, sich innen- wie außenpolitisch zu profilieren, geschweige denn vor Kriegsbeginn schon eine Politik gegenüber Polen auszuarbeiten. Zudem hat sie derzeit keine echte Vorstellung von der Politik gegenüber Polen, aber auch keine konkrete einheitliche Strategie angesichts des Kriegs.
Im Gegensatz dazu konnte sich Polen nach Russlands Überfall auf die Ukraine rasch mit einer zumindest allem Anschein nach konsequenten Politik international profilieren – Unterstützung des bedrohten Nachbarstaates. Die polnischen Probleme sind damit zwar nicht verschwunden, aber sie sind in den Hintergrund getreten, und die Erfolge Polens bei der Unterstützung der Ukraine lassen es derzeit oft unangebracht erscheinen, Polen wegen seiner Probleme anzugehen.
Auf polnischer Seite herrscht ein Gefühl der Schadenfreude, wenn man in den Stellungnahmen einer wachsenden Zahl von deutschen (und anderen internationalen) Journalisten, Experten und Politikern hört, dass Polen und andere Staaten des östlichen Europas jahrelang Recht hatten und man auf die Stimme eines Landes hätte hören sollen, das die Besonderheiten Russlands besser kennt. Die Enttäuschung über Deutschland ist über alle Parteigrenzen hinweg spürbar, jedoch bestehen große Unterschiede. Während für die Opposition Deutschland nach wie vor Polens wichtigster Partner in Europa bleibt, sprechen Regierungsvertreter ohne Zurückhaltung davon, wie naiv die Deutschen und wie klug die Polen seien. Insofern empfindet man die derzeitige Lage als einen symbolischen, moralischen Sieg über Deutschland.
Dies zeigt sich deutlich in den Programmen der öffentlich-rechtlichen (oder besser: regierungsnahen) Medien, die Deutschland regelmäßig Fehler und Versäumnisse vorwerfen und gleichzeitig auf enge Kontakte zwischen der polnischen Opposition und deutschen Entscheidungsträgern hinweisen. So wird Donald Tusk nicht mehr nur als prodeutsch dargestellt, sondern gar als Verräter, der sich in seiner Regierungszeit mit Putin habe verständigen wollen und der als enger Verbündeter von Angela Merkel über deren »Beschwichtigungspolitik« gegenüber Russland geradezu an Russlands Angriff mit schuld sei. Vor diesem Hintergrund ist die Deutschland gegenüber normalerweise offene und konstruktive Opposition nun auch vorsichtiger, was Kontakte mit deutschen Partnern betrifft, da sie nicht ein weiteres Ziel für die Propaganda der Regierungsmedien liefern will. Das alles muss man im Kontext des schon anlaufenden Wahlkampfs sehen (die Parlamentswahlen sollen regulär im Herbst 2023 stattfinden). Die PiS-Regierung mobilisiert so eigene Stammwähler, die sehr empfänglich für antideutsche Stimmungen sind. Unterstützt wird sie von zahlreichen angeblichen Expertinnen und Experten, die ohne vertiefte Deutschland- und Deutschkenntnisse meinen, die deutsche Position bestens kommentieren zu können. Sehr rasch hat sich auch die Einschätzung der Person von Angela Merkel verändert: Galt sie lange Jahre selbst bei der PiS als Glücksfall für die bilateralen Beziehungen, da sie mit ihrer ostdeutschen Sozialisierung den Osten Europas besser verstehe als viele andere Politiker (obwohl ihr aus dem PiS-Milieu genauso oft auch unbegründet vorgeworfen wurde, dem SED-Staat und seinen Organisationen treu gedient zu haben), so hat ihr langes Festhalten an Gesprächen mit Russland und an Nord Stream 2 ihr in den letzten Monaten massiven Schaden zugefügt: Sie gilt heute parteiübergreifend als einer der Faktoren, der Putin zu seinem brutalen Angriff auf die Ukraine ermutigt habe. Ihre jüngste Äußerung, dass sie sich in ihrer Politik gegenüber Russland und der Ukraine nichts vorzuwerfen habe, stieß in Polen auf größtes Unverständnis, und zwar parteiübergreifend.
Bilateraler Dialog dank der Ukraine
Parallel zu der deutschlandkritischen Rhetorik im polnischen Regierungslager war in Deutschland eine plötzliche Verbesserung des in den letzten Jahren angeschlagenen Images Polens festzustellen. Die Offenheit, mit der Polinnen und Polen ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, hat in den deutschen Medien und in Alltagsgesprächen eine Welle positiver Kommentare ausgelöst. Viele Deutsche wundern sich oft, warum eine Gesellschaft, die als fremdenfeindlich verschrien war, weil sie 2015 der Aufnahme von Flüchtlingen so ablehnend gegenüberstand, plötzlich mit viel Engagement humanitäre Hilfe leistet. Bei näherer Betrachtung versteht man das aber recht schnell, denn die tief sitzende polnische Angst vor Russland, die kulturelle Nähe, die zahlreichen Kontakte zu bereits in Polen lebenden Ukrainern erklären das Verhalten Polens gut.
Es gab tatsächlich eine Reihe von Beispielen für eine gelungene deutsch-polnische Zusammenarbeit, für gemeinsame Initiativen auf der Grundlage gewachsenen Vertrauens. Vor allem die existierenden Formate der deutsch-polnischen Zusammenarbeit wie Städtepartnerschaften oder Partnerschaften von NGOs haben sich als effektiv und nützlich erwiesen. Aus bestehenden sozialen Kontakten sind oft Projekte zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge entstanden.
Der Krieg in der Ukraine hat ein verbindendes Element geliefert und Städte und Gemeinden aus beiden Ländern zu gemeinsamen Aktionen mobilisiert. Diese sind sehr unterschiedlich. Einige deutsche Städte haben ihren polnischen Partnern, die ukrainische Flüchtlinge aufnahmen, finanzielle Unterstützung gewährt. Andere reagierten – im Zusammenwirken mit der lokalen Zivilgesellschaft – auf den spezifischen Bedarf, indem sie Lastwagen mit Hilfsgütern schickten, die der polnische Partner für die bereits untergebrachten ukrainischen Ankömmlinge benötigte. In anderen Fällen fungierte eine polnische Stadt als Umschlagplatz und brachte Transporte aus Deutschland zusammen mit Hilfsgütern aus Polen in eine Partnerstadt in der Ukraine. Deutsche Kommunalbeamte informierten sich über ihre polnischen Kollegen darüber, was in der Ukraine gebraucht wurde. Die Kontakte zwischen den Verwaltungen waren entscheidend für den raschen Beginn der Hilfsmaßnahmen.
Diese konkreten Solidaritätsaktionen von Polen und Deutschen sind sicherlich die besten Bausteine für ein Gemeinschaftsgefühl und eine deutsch-polnische Partnerschaft. Unabhängig davon, wann der Krieg in der Ukraine endet, werden die Gemeinden und Städte dort noch lange auf die Unterstützung der EU-Länder angewiesen sein. Die weitere Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Gebietskörperschaften in diesem Bereich kann daher eine gemeinsame Aufgabe und eine Idee für die Intensivierung von Partnerschaften und sogar für die Schaffung neuer Partnerschaften sein. Der Ansatz der deutschen Seite, die Polen nach ihren eigenen Bedürfnissen und denen der Ukrainer zu fragen, ist auch hier entscheidend. Abgesehen von der Möglichkeit, auf spezifische Nachfragen einzugehen, wird dadurch eine wichtige Beziehungsebene geschaffen – eine Partnerschaft, bei der die deutsche Seite auf die Kompetenz und das Wissen der polnischen Seite vertraut und beide zusammen einen gemeinsamen Plan umsetzen.
Auch die bestehenden formalen Kooperationsstrukturen der verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen erwiesen sich als hilfreich in der Krisensituation. Ein Beispiel: Die Kreisau-Stiftung für europäische Verständigung, die seit fast dreißig Jahren als Begegnungsstätte für Jugendliche aus dem deutsch-polnischen Miteinander nicht mehr wegzudenken ist, hat rund 70 Flüchtlinge aufgenommen. Mit Unterstützung der Kreisau-Initiative und der Freya von Moltke-Stiftung in Deutschland sind Tausende Euro Spenden aus Deutschland für Kreisau zur Unterstützung der Ukrainer zusammengekommen.
Auch das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) reagierte schnell. Deutsche und polnische Partner können Personen aus ihren Partnerorganisationen in der Ukraine zu einem individuellen Aufenthalt in Deutschland oder Polen einladen. Das DPJW gewährt einen Zuschuss und erstattet einen Teil der Reisekosten.
Ausblick: Gefahren, Paradoxien und Leerstellen der Zusammenarbeit
Die Annäherung der Meinungen über die Rolle Russlands als Rohstofflieferant und in der Sicherheitsordnung sowie die erfolgreichen deutsch-polnischen Projekte vor allem im kommunalen und zivilgesellschaftlichen Bereich stehen im Widerspruch zu der erwähnten aggressiven antideutschen Rhetorik von Teilen der polnischen Politik. In beiden Fällen lässt sich feststellen, dass die Entwicklungen Wirkung zeigen. Einerseits wachsen mehrere Generationen von Deutschen und Polen mit dem Bewusstsein auf, wie viel wir gemeinsam haben und wie viel Gutes wir gemeinsam tun können. Auf der anderen Seite verbreiten sich antideutsche Parolen und werden von den aktuellen polnischen Machthabern noch forciert (die damit wiederum auch in anderen europäischen Ländern deutschlandskeptische Diskurse unterstützen). Das erwähnte zu langsame oder nur partielle Handeln Deutschlands bestärkt die Kritiker und beflügelt diejenigen, die es sich zum Prinzip gemacht haben, Deutschland anzugreifen.
Wir dürfen uns nicht von dieser Rhetorik leiten lassen, wenn wir die deutsch-polnischen Beziehungen weiterentwickeln und sie auf konkrete Ergebnisse ausrichten wollen. Dies kann durch die Weiterentwicklung der geschilderten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten erreicht werden. Dabei handelt es sich um eine Herausforderung für beide Seiten. Es ist wichtig, dass sich die Menschen in Polen von der negativen Atmosphäre nicht entmutigen lassen, sondern weiterhin wertvolle Projekte durchführen. Gleichzeitig sollten Polen ihren deutschen Freunden und Kollegen mutig sagen, wenn sie deren Verhalten in polnischen Augen für fragwürdig halten. Wichtig ist, die Deutschen auf der Grundlage des aufgebauten Vertrauens für die polnische Sichtweise zu sensibilisieren. Die Deutschen sollten wiederum akzeptieren, dass Argumente aus Polen oft richtig sind oder zumindest bedacht werden sollten. Es lohnt sich, polnische Expertise zur Kenntnis zu nehmen und auch auf das politische Gespür und kulturell-historische Wissen der Polen zu vertrauen.
Gleichzeitig ist klar, dass wir auch in den kommenden Monaten von kleineren und größeren Meinungsverschiedenheiten begleitet werden. Dies zeigt sich bereits beim Thema Ukraine: Nicht nur die Möglichkeiten zur Lieferung von schweren Waffen und die Herangehensweise an ein mögliches Ende des Konflikts sind unterschiedlich. Auch die Frage, ob der Ukraine der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt werden soll, wurde zuerst nicht auf die gleiche Weise gesehen. Für die Polen geht es um ein Symbol und ein klares Signal an die Ukraine, dass sie zum europäischen Wertesystem gehört und der Gemeinschaft beitreten kann, wenn sie die notwendigen Kriterien erfüllt. Die Gewährung des Kandidatenstatus in naher Zukunft würde nach Ansicht Polens diese Tatsache bestätigen. Es sah danach aus, dass Berlin zunächst der Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron positiv gegenüberstand, der die Schaffung eines zweiten Integrationskreises postulierte und die Mitgliedschaft auf längere Zeit verschieben wollte. Die Erklärung von Bundeskanzler Scholz während seiner Ukraine-Reise am 16. Juni 2022, dass das Land den Kandidatenstatus bekommen soll, wurde in Polen positiv aufgenommen. Eine abschließende Entscheidung des Europäischen Rates steht noch aus.
Weitere potenzielle Probleme liegen im Bereich Energieversorgung. Auch wenn die seit Jahren umstrittene Abhängigkeit von Russland in diesem Bereich nicht mehr das Thema ist, bleiben die unterschiedlichen Pläne bezüglich der Zukunft der Kernkraft und Investitionen in den erneuerbaren Energien ein weiteres trennendes Feld. Während die Zustimmung zur Kernkraft in Polen relativ groß ist – zwischen 40 und 60 Prozent der Befragten sprechen sich für den Bau von Atomkraftwerken aus und auch die meisten politischen Parteien sind eher dafür –, ist in Deutschland selbst der Weiterbetrieb der bestehenden Atommeiler nicht durchsetzbar.
Außerdem wird das Thema Rechtsstaatlichkeit die deutsch-polnischen Beziehungen weiter prägen, selbst wenn die deutsche Seite es derzeit angesichts der vielen akuten Probleme kaum anspricht, sondern vielmehr der EU-Kommission überlässt. Und last but not least klaffen im Bereich der Europapolitik tiefe Gräben an der deutsch-polnischen Grenze. Im Zeichen des Kriegs in der Ukraine und des Kampfes der Ukraine um ihre nationale Souveränität scheint die PiS-geführte Regierung eine Chance zu sehen, ein »Europa möglichst souveräner Vaterländer« durchzusetzen. Auch traditionell rechte bzw. konservative Werte scheinen durch den Krieg unterstützt zu werden, was für weiteres Selbstbewusstsein in einer Auseinandersetzung mit dem als »linksliberal« verschrienen Brüssel sorgt. Die deutschen Vorstellungen stehen hierzu im Gegensatz, und Olaf Scholz unterstützt klar Emmanuel Macrons Position von einer verstärkten europäischen Integration.
In dieser Hinsicht interessant und paradox erscheint die Faszination, welche die beiden grünen Spitzenpolitiker Annalena Baerbock und Robert Habeck auf die polnischen Rechten ausüben. Ihre unmissverständlichen Aussagen zu Russland und zur Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine erfreuen die polnischen Ohren, auch im PiS-Lager. Sie gelten als Ostmitteleuropaversteher. Dabei repräsentieren gerade diese beiden eine Partei, die sich gegen Kernkraft, für liberale Demokratie, für eine vertiefte EU-Integration und für eine liberale Werteordnung inklusive breiter Minderheitenrechte einsetzt.
Personelle Fragen sind auch auf polnischer Seite von Belang. Der Krieg in der Ukraine hat zu einer neuen internationalen Position Polens als Waffentransferland und als Aufnahmeland für die größte Zahl von Flüchtlingen geführt. Präsident Andrzej Duda ist besonders aktiv, aber auch Mateusz Morawiecki erweist sich als dynamischer Akteur, wobei die Kompetenzverteilung zwischen beiden nicht ganz klar ist, Duda zwar symbolische Akzente setzt, die Regierungspolitik aber letztlich von den Weisheiten und Ratschlüssen des großen Vorsitzenden Jarosław Kaczyński abhängig ist.
Trotz der inhaltlichen Nähe einiger polnischer und deutscher Regierungspolitiker ist aber bislang vor dem Hintergrund des Kriegs noch kein deutsch-polnisches Tandem entstanden, beide Länder haben noch keine neuen gemeinsamen Positionen entwickelt. Jenseits aller unterschiedlichen Auffassungen wäre zum Beispiel jetzt der Zeitpunkt gekommen, gemeinsame Rüstungsprojekte anzukündigen, sei es bilateral, sei es in anderen europäischen Konstellationen. Auch andere Initiativen könnten Wissen kumulieren und Misstrauen abbauen – zum Beispiel die Gründung eines deutsch-polnischen Zentrums zur Erforschung Osteuropas. Für derlei Projekte benötigt man aber Vertrauen und charismatische Politikerpersönlichkeiten, die bereit sind, sich über innenpolitische Hindernisse hinwegzusetzen. Angesichts der massiv polarisierten politischen Landschaft in Polen wäre, um solchen Projekten eine gewisse Nachhaltigkeit zu verleihen, auch ein überparteilicher Konsens wünschenswert.
Auf deutscher Seite hingegen mangelt es an Politikern, die sich in Polen auskennen und sich für den Ausbau der deutsch-polnischen Beziehungen engagieren. Vor diesem Hintergrund ist die Ernennung des SPD-Politikers Dietmar Nietan zum Koordinator für die deutsch-polnischen Beziehungen positiv zu bewerten. Nietan, der sich seit Jahren unermüdlich auf verschiedenen Ebenen für eine Verständigung zwischen Deutschen und Polen einsetzt, genießt in Polen in allen Kreisen hohes Ansehen und Vertrauen, was die Tür zu einer guten Zusammenarbeit öffnet. Allerdings gibt es immer noch nicht genügend andere Bundestagsabgeordnete, die sich aktiv am deutsch-polnischen Dialog beteiligen. Doch gerade heute brauchen wir sie. Wir brauchen Politikerinnen und Politiker, die sowohl den Mut zur großen Geste haben als auch den Mut, gemeinsam Schritt für Schritt weiter an unserer komplexen und spannenden Nachbarschaft zu arbeiten.