Polens Innenpolitik gerät zunehmend in eine Sackgasse. Wer die öffentlichen Äußerungen von Politikern aller Parteien, die Kommentare in den Zeitungen und Fernsehsendungen sowie das Geschehen in den sozialen Medien verfolgt, gewinnt zwangsläufig den Eindruck, dass sich die Politik nur noch um die Frage dreht, ob die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) im Herbst an der Macht bleiben kann oder von einer Koalitionsregierung aus verschiedenen Parteien der Opposition verdrängt wird. Dafür sind im Wesentlichen drei Faktoren verantwortlich.
Erstens: Der PiS und ihrem Koalitionspartner Solidarisches Polen (Solidarna Polska) von Justizminister Zbigniew Ziobro ist es gelungen, nahezu die gesamte öffentliche Bühne zu einem Schauplatz des Wahlkampfes zu machen. Mariusz Janicki von der Wochenzeitung Polityka sprach zu Recht von einer »totalen Kampagne«. Skrupellos werden dabei auch öffentliche Gelder für parteipolitische Zwecke eingesetzt. So setzte die PiS im Sejm einen Haushalt durch, in dem auch 2,7 Mrd. Zloty Zuwendungen für die Sender Telewizja Polska und Polskie Radio vorgesehen sind. Beide Medienanstalten gelten formal als öffentlich-rechtlich, haben sich aber nach der Machtübernahme der Nationalkonservativen im Jahr 2015 zu regelrechten Propagandainstrumenten der Regierung entwickelt. Des Weiteren verteilt die Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki systematisch Gelder des öffentlichen Haushalts an Nichtregierungsorganisationen, die ideologisch-politisch der polnischen Rechten nahestehen. So haben im Jahr 2022 mehr als 50 solcher Gruppierungen auf Vermittlung des Kulturministeriums von Piotr Gliński etwa 20 Millionen Zloty erhalten.
Zweitens: Wenn Polens Innenpolitik zunehmend in eine Sackgasse gerät, dann liegt das auch daran, dass der Regierung mehr und mehr die finanziellen Mittel dafür fehlen, Reformmaßnahmen zur Modernisierung des Landes in Gang zu setzen. Das gilt insbesondere für Vorhaben, die Ministerpräsident Morawiecki selbst angekündigt hat, etwa die Intensivierung der Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft sowie die Förderung zukunftsträchtiger Sektoren der polnischen Volkswirtschaft wie Biotechnologie und der Bau von Hybrid- und Elektroautos. Die Regierungsparteien selbst sind es, die durch die starke Politisierung der Justiz den Zufluss von EU-Geldern hemmen, die für Reformmaßnahmen dringend notwendig wären.
Drittens fällt es den Oppositionsparteien sehr schwer, sich aus dem Sog des allumfassenden Wahlkampfes zu befreien, mit dem die regierende Rechte das öffentliche Leben in Polen überzogen hat. Nur selten bringt sie politische Projekte in die öffentliche Debatte ein, die notwendige Reformen in Gang setzen könnten. Auch Politiker der Oppositionsparteien äußern sich vorrangig zu möglichen taktischen Varianten, mit denen ein erneuter Wahlsieg der PiS im Herbst verhindert werden könnte.
Die wichtigsten Akteure
Auf Seiten der PiS ist es eindeutig der Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński, der im Wahlkampf die Zügel in der Hand hält. Er trifft sich regelmäßig mit Anhängern und potentiellen Wählern seiner Partei im ganzen Land, gibt Themen vor und bemüht sich andererseits, Themen, die für die PiS unangenehm sind oder die er für irrelevant hält, aus der öffentlichen Debatte zu verbannen. So dominieren schroffe antideutsche und anti-EU-Propaganda seine Auftritte in der Provinz. Wird Kaczyński auf die Zuwendungen aus dem öffentlichen Haushalt für regierungsnahe Vereinigungen und Organisationen angesprochen, bezeichnet er dies als Falschmeldungen, die von der Opposition lanciert würden, oder nennt die Finanzhilfen eine patriotische Pflicht. Tatsächliche Probleme wie die Schwierigkeit vieler privater Haushalte, Brennstoffe zum Heizen (insbesondere Kohle) zu besorgen, werden von ihm heruntergespielt.
Zu den Themen, die Kaczyński möglichst aus der öffentlichen Debatte fernhalten will, gehören das dramatische Schicksal der Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze, Vorschläge zur Privatisierung von Staatsbetrieben, die hohen Kosten der vom Verteidigungsministerium betriebenen Einkäufe von Rüstungsgütern, Kritik an der Art und Weise, wie die polnische Rechte Entschädigungsforderungen für deutsche Verbrechen in Polen während des Zweiten Weltkriegs stellt, sowie Vorschläge für eine zukunftsweisende Reform der Europäischen Union.
Wichtigster Gegenspieler Kaczyńskis im Wahlkampf ist Donald Tusk, dessen liberal-konservative Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) in einem Wahlbündnis mit der kleineren wirtschaftsliberalen Die Moderne (Nowoczesna), den Grünen (Zieloni) sowie der linksliberalen Initiative Polen (Initiatywa Polska) agiert. Nach seiner Rückkehr aus Brüssel, wo er das Amt des EU-Ratspräsidenten (2014–2019) und den Fraktionsvorsitz der Europäischen Volkspartei (2019–2022) innehatte, hat Tusk wieder den Vorsitz der PO übernommen und die arg zerstrittene Partei konsolidiert. Tusk ist der aktivste Wahlkämpfer seiner Partei, muss dabei aber auch erheblich Kraft aufwenden, um die Diffamierungskampagne vonseiten der PiS abzuwehren.
Hinzu kommen zwei Probleme, die bei den öffentlichen Auftritten des PO-Vorsitzenden immer wieder deutlich werden. Zum einen liegt er in den Umfragen nach den beliebtesten Politikern in Polen weit hinter dem Warschauer Stadtpräsidenten Rafał Trzaskowski zurück, der zwar auch zu den führenden Köpfen der PO zählt, sich in der Öffentlichkeit aber lieber als Vertreter der Zivilgesellschaft präsentiert. Nach außen gibt sich Trzaskowski loyal zu Tusk, doch ist auch bekannt, dass er sich auf lange Sicht als wichtigster Kandidat der Partei für höhere Ämter im Staat sieht. Sollte Tusk, so hört man in der PO, nach der Wahl im Herbst tatsächlich das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen können, bestünde die Aufgabe seiner Regierung vor allem darin, die wichtigsten Schäden zu reparieren, die die PiS nach ihrer Machtübernahme 2015 insbesondere in der Judikative angerichtet hat. Das aber, so heißt es, werde nicht unbedingt mit einem Popularitätszuwachs für Tusk verbunden sein. Nach dieser »Übergangszeit« stünde dann Trzaskowski zur Verfügung.
Zum Zweiten spürt man bei dem Gerangel um die Listenplätze für die Parlamentswahl, das in der PO bereits begonnen hat, dass es in der Partei sowie in ihrem Umfeld nach wie vor entgegengesetzte Interessen gibt. So bemühen sich populäre Stadtpräsidenten, die der PO angehören bzw. nahestehen, mehr Einfluss auf das Parteigeschehen zu gewinnen, was bedeutet, bei der Aufstellung der Kandidaten für die Wahl im Herbst mitreden zu wollen. Das gilt z. B. für den langjährigen Stadtpräsidenten von Zoppot (Sopot), Jacek Karnowski. Bei der Kandidatenkür melden sich zunehmend auch die Parteimitglieder zu Wort, die sich der Zivilgesellschaft bzw. Bürgerinitiativen wie dem Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji – KOD) verbunden fühlen und gegen die erneute Kandidatur altgedienter Parteifunktionäre auftreten. Tusk muss sich also auch intensiv mit Problemen beschäftigen, die wenig mit der inhaltlichen Profilierung seiner Partei in der Öffentlichkeit zu tun haben.
Ministerpräsident Morawiecki ist zwar einer der stellvertretenden Vorsitzenden der PiS, spielt aber im Wahlkampf eine eher untergeordnete Rolle, wenngleich bei seinen öffentlichen Auftritten immer auch die politisch-ideologische Übereinstimmung mit dem Parteivorsitzenden Kaczyński deutlich wird. Die Hauptaufgabe des Ministerpräsidenten ist es, die Konflikte in der Regierung zu kanalisieren bzw. ein Auseinanderbrechen der Regierung im Vorfeld der Wahlen im Herbst zu verhindern. Sein direkter Gegenspieler ist Justizminister Zbigniew Ziobro, der immer wieder Konflikte vom Zaun bricht, besonders wenn es um Veränderungen im Bereich der Justiz geht. Wiederholt haben Abgeordnete der Partei Ziobros im Sejm anders abgestimmt als die der PiS. Morawiecki weiß, wie wichtig die Finanzmittel der Europäischen Union für die Modernisierung Polens sind; sie werden jedoch von der EU-Kommission blockiert, weil diese Korrekturen am Justizsystem fordert – als Reaktion auf die extreme Politisierung der Judikative, die von der PiS ab 2015 durchgesetzt worden ist. Morawiecki und einige seiner Minister bemühen sich, auf diesem Gebiet Brücken zwischen Brüssel und Warschau zu bauen.
So hat es den Anschein, Morawiecki sei gemäßigter als PiS-Hardliner wie der frühere Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, Bildungsminister Przemysław Czarnek oder der stellvertretende Sejmmarschall Ryszard Terlecki. Tatsache aber ist, dass es Morawiecki lediglich darum geht, die Blockade der EU-Gelder aufzulösen. Ideologisch-politisch ist er auf einer Linie mit Kaczyński und zudem bei vielen Regierungsentscheidungen von dessen Wohlwollen abhängig. Seit 2015 hat er die politischen Veränderungen in der Justiz, die von der PiS durchgesetzt wurden, immer mitgetragen. Systemfragen wie das Funktionieren der staatlichen Gewaltenteilung interessieren ihn nicht.
Auch Präsident Andrzej Duda ist ein wichtiger Akteur im Wahlkampf, wenngleich er als Hüter der Verfassung (Art. 126) eigentlich über den politischen Parteien zu stehen hat. Die Regierungsbilanz der PiS, die ihre Sprecher immer wieder öffentlich hervorheben, ist stark mit seinem Wirken verbunden. So hat er die meisten Änderungen in der Judikative, die zu ihrer Schwächung gegenüber der Exekutive geführt haben, mit seiner Unterschrift unter entsprechende Gesetze bestätigt. Es gibt keinen Anlass, an seiner ideologisch-politischen Nähe zur PiS zu zweifeln.
Richtig ist aber ebenso, dass sich Duda wiederholt von Gesetzesprojekten und politischen Initiativen der PiS abgesetzt bzw. diese sogar verhindert hat. Beispielsweise legte er sein Veto gegen ein Gesetz ein, das durch Änderung der Eigentumsverhältnisse beim unabhängigen Fernsehsender TVN dem polnischen Staat und damit der PiS-geführten Regierung mehr Einfluss ermöglicht hätte. Ebenso votierte er gegen ein Gesetz, das Bildungsminister Czarnek übermäßigen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Lehrpläne und die Besetzung von Schuldirektorenposten ermöglicht hätte. Außerdem verwies Duda ein Gesetz zum künftigen Umgang mit Disziplinarvergehen von Richtern, das die PiS im Sejm durchgesetzt hatte, an das polnische Verfassungstribunal.
Außenpolitisch fiel unter anderem auf, dass sich Duda wiederholt moderater über Deutschland und die Politik der deutschen Regierung äußerte, als dies Kaczyński und Morawiecki gewöhnlich tun. Vor allem hat sich Duda seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eigenständig als Anwalt des Nachbarlandes profiliert, was auch im Westen gelobt wurde. Er gilt als wichtigster Partner Washingtons innerhalb der polnischen Führung. Dabei spielt sein enger Kontakt zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine große Rolle. Wenn Duda sich zeitweise von der PiS als seiner politischen Heimat etwas absetzt, dann dürfte dies zwei Gründe haben. Zum einen stellt er sich auf eine mögliche Kohabitation mit einer von der Opposition geführten Regierung ein, sollte die PiS im Herbst aus ihrer Machtposition verdrängt werden. Zum anderen trifft er damit Vorbereitungen für eine Fortsetzung seiner politischen Laufbahn nach Beendigung seiner zweiten Amtszeit als Präsident im Jahr 2025.
Merkmale des Parteiensystems
Ein Blick auf die Genese und die heutige Struktur des Parteiensystems sowie die ideologisch-politischen Strukturen und die bisherige politische Praxis der Parteien erleichtert die Analyse der aktuellen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Parlamentswahlen im Herbst und verdeutlicht, wo die Oppositionsparteien angreifbar sind.
Abgesehen von Veränderungen hauptsächlich bei kleineren Gruppierungen ist das Parteiensystem in Polen gegenwärtig relativ stabil. Das war nicht immer so. Nach dem Systemwechsel im Jahr 1989 trat eine große Zersplitterung zutage und herrschte eine Art »Gründerzeit«. Bis 1995 wurden insgesamt 273 Parteien registriert, von denen die meisten nach und nach wieder verschwanden.
Später kam es zu einer gewissen Flurbereinigung, für die vier Faktoren ausschlaggebend waren:
Das schrittweise Verschwinden all jener linken, linksliberalen und liberal-konservativen Parteien, die ab 1989 aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen waren, bis 1993 die Regierungen stellten und dann noch einmal in Gestalt der Wahlaktion der Solidarität (Akcja Wyborcza Solidarności) zwischen 1997 und 2001 an der Macht waren.Der Aufstieg und Niedergang der postkommunistischen Sozialdemokratie in Form der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD), die 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 die führende Kraft der Regierung war.Die Entstehung der liberal-konservativen Bürgerplattform, die zwischen 2007 und 2015 Seniorpartner der Regierung war.Die weitgehende Bündelung der rechten Kräfte in Gestalt der Partei Recht und Gerechtigkeit, die zwischen 2005 und 2007 die Regierung anführte und seit 2015 wieder an der Macht ist.
Die im Mai 2001 gegründete PiS ist eine nationalistische Partei, Befürworterin eines starken Staates, gesellschaftspolitisch sehr konservativ mit katholisch-dogmatischen Akzenten. In ihrer Praxis hat sie sehr zur Schwächung der Gewaltenteilung beigetragen. Die PiS versteht Politik als obrigkeitsstaatliches Handeln und versucht, jede politische Initiative der Zivilgesellschaft zu bremsen oder gar zu verhindern. Staatlicher Interventionismus in der Wirtschaft ist für sie ein wichtiges Prinzip. Ihre Wähler sind vor allem ältere Menschen, Bürger mit einfacher beruflicher Qualifikation und niedrigem Einkommen.
Die wichtigste Oppositionspartei ist seit 2015 die im Januar 2001 gegründete PO, die sich als Partei der Mitte darstellt, mit vorrangig liberalen Grundsätzen in der Wirtschaftspolitik und zumeist konservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen. Getreu der Devise ihres Vorsitzenden Donald Tusk gibt sich die PO als »realpolitische Kraft«, als Initiator kleiner, konkreter Schritte und nicht als Partei großer strategischer Entwürfe und einschneidender Veränderungen. Die Wählerschaft der PO umfasst besonders die gebildeten und gut verdienenden Schichten in den größeren Städten und westlichen Landesteilen. In den ländlichen Regionen gilt sie vielfach als verhasstes Sprachrohr der »arroganten, reichen Eliten« aus den Großstädten, was sich die PiS immer wieder öffentlich zunutze macht.
Die Partei Polen 2050 (Polska 2050) will die Gewaltenteilung stärken und den Senat, in dem vor allem Woiwoden, Stadtpräsidenten und Bürgermeister vertreten sein sollen, ähnlich dem Bundesrat in Deutschland umgestalten. Ökonomisch gibt sie sich als Befürworter der sozialen Marktwirtschaft. Die Stärkung des Umweltschutzes ist für sie ein wichtiges Ziel. Polen 2050 ist Fürsprecher der traditionellen Ehe und lehnt gleichgeschlechtliche Partnerschaften ab. Wähler von Polen 2050 sind vor allem diejenigen, die der scharfen Polarisierung zwischen der PiS und der PO überdrüssig sind.
Der Niedergang der postkommunistischen Sozialdemokratie der SLD resultierte insbesondere aus den Korruptionsaffären und Skandalen, in die führende Funktionäre der Partei verwickelt waren, sowie aus den innerparteilichen Querelen, die öffentlich ausgetragen wurden. Im Rahmen der 2015 beginnenden Neugestaltung der linken Szene entstanden die Partei Frühling (Wiosna) des bekennenden Homosexuellen Robert Biedroń sowie Linke Gemeinsam (Lewica Razem) mit Adrian Zandberg an der Spitze. Im Januar 2020 schlossen sich die SLD und Wiosna zur Partei Neue Linke (Nowa Lewica) zusammen. Wähler dieser Partei sind einerseits ältere Menschen, die aus postsozialistischer Nostalgie immer die SLD gewählt haben, junge, linksorientierte Menschen und Angehörige sexueller Minderheiten. Sprecher der PiS thematisieren bis heute die kommunistische Vergangenheit der sozialdemokratischen Linken sowie deren Skandale vor allem während ihrer Regierungszeit. Für sie sind fast alle Parteien, die nicht dem rechtskonservativen Lager angehören, »links« oder gar »linksradikal«.
Die Polnische Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), oft auch Bauernpartei genannt, war dreimal als Juniorpartner an Regierungskoalitionen beteiligt: 1993 bis 1997 sowie 2002 bis 2003 mit der postkommunistischen SLD und 2007 bis 2015 mit der liberal-konservativen PO. Seitdem ist sie wieder eine Oppositionspartei. Auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet fordert sie mehr Investitionen in die ländliche Infrastruktur, die Anhebung des Mindestlohns, kostenfreie Medikamente für Rentner und den Ausbau der Krippen und Kindergärten. Sie ist für strenge Abtreibungsregeln und gegen die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Ihre Stärke sind ihre gut verankerten Parteistrukturen im ländlichen Raum. Für die PiS kommt die PSL wegen ihrer Regierungsbeteiligungen mit wechselnden Partnern als Koalitionär nicht in Frage.
Die Programmatik der im Dezember 2018 entstandenen Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja Wolność i Niepodległość) ist ein Sammelsurium aus Nationalismus, Ordoliberalismus und Euroskeptizismus. Dazu zählen die Forderungen nach radikaler Senkung der Steuern bzw. Abschaffung bestimmter Steuern, nach völliger Privatisierung des Schulwesens sowie einem Zuwanderungsstopp für Migranten. Der Hass auf sexuelle Minderheiten sowie die Forderung nach einem vollständigen Abtreibungsverbot und die Wiedereinführung der Todesstrafe gehören ebenfalls zum Repertoire dieser Partei. Außerdem propagiert sie den Austritt Polens aus der EU. Das Verhältnis der Konföderation zur PiS ist widersprüchlich. Einerseits fühlt sie sich mit dieser Partei verbunden, was die nationalistischen und gesellschaftspolitisch erzkonservativen Ansichten angeht, andererseits lehnt sie die Wirtschaftspolitik der PiS als »sozialistisch« bzw. »postkommunistisch« ab.
Glaubt man den Umfragen, dann wird die Partei Solidarisches Polen von Justizminister Ziobro nach den Wahlen im Herbst kaum noch eine Rolle spielen. Ähnliches könnte der Partei Kukiz’15 des Rocksängers Paweł Kukiz bevorstehen.
Streitthemen
Schaut man auf die wichtigsten Themen des Wahlkampfes, dann wird schnell deutlich, wie wenig diese mit den reformpolitischen Erfordernissen des Landes zu tun haben. So gibt es erneut eine erbitterte Debatte darüber, ob Johannes Paul II. etwas über Pädophilie in der Kirche wusste und wenn ja, ob er zu wenig dagegen unternommen hat. Dieses Mal geht es nicht um seine Amtszeit als Papst und die Straftaten des US-amerikanischen Kardinals Theodore McCarrick, sondern um die 1960er und 1970er Jahre, als Karol Wojtyła Erzbischof von Krakau (Kraków) war. Auslöser der Debatte waren ein Dokumentarfilm, der im regierungskritischen Fernsehsender TVN ausgestrahlt wurde – dieser gehört zum US-Konzern Warner Bros. Discovery –, sowie ein Buch des niederländischen Autors Ekke Overbeek. Den Recherchen zufolge soll Wojtyła von Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester gewusst, aber nur intern reagiert und nach außen hin die Fälle vertuscht haben.
Die Debatte ist hauptsächlich ein Kampf der politischen und weltanschaulichen Lager und entspringt kaum dem Wunsch, die Wahrheit zu finden. Der US-amerikanische Botschafter in Warschau, Mark Brzezinski, wurde wegen des bei TVN abrufbaren Films sogar ins polnische Außenministerium einbestellt. Während die PiS Johannes Paul II. bedingungslos verteidigt und von Verleumdung spricht, ähnlich auch die PSL, hält sich die PO eher bedeckt. Die Kritik am Papst kommt hauptsächlich aus dem linken Lager. Die PiS setzte sogar eine entsprechende Resolution im Sejm durch, gegen die nur die Linke stimmte, während die Abgeordneten der PO fast vollzählig nicht an der Abstimmung teilnahmen. Präsident Andrzej Duda betonte, dass »die Erinnerung an den heiligen Johannes Paul II. polnische Staatsräson« sei.
Die PiS wie Duda übersehen, dass der Katholizismus selbst in Polen keine Staatsreligion ist. Um das zu erkennen, genügt schon ein Blick in die polnische Verfassung von 1997, in deren Präambel ausdrücklich festgestellt wird, dass diese ein Dokument ist, das gleichermaßen für gläubige Menschen wie auch Agnostiker und Atheisten Gültigkeit besitze. Die historische Rolle des Katholizismus für Polen ist offenkundig, ebenso seine Bedeutung für die heutige Gesellschaft des Landes, auch wenn die Säkularisierung rapide voranschreitet. Bei der erbitterten Debatte wird zu wenig die gesamte historische Rolle von Johannes Paul II. in den Blick genommen, auch wenn er sich damals in Krakau vermutlich nicht korrekt verhalten hat, selbst wenn die historischen Bedingungen damals anders waren. Als Erzbischof ging es ihm vor allem darum, die Kirche gegen die kommunistischen Machthaber zu verteidigen. Auf Dauer wird jedoch auch die polnische Kirche nicht um eine seriöse historische Aufarbeitung herumkommen.
Wie schädlich der konfrontative Wahlkampf ist, zeigte sich auch im traurigen Fall des 15 Jahre alten Mikołaj Filiks, der Suizid beging. Allem Anschein nach wurde er durch journalistisches Fehlverhalten der »öffentlich-rechtlichen«, sprich regierungsnahen Medien in den Tod getrieben. Der Junge war 2020 von einem Mann missbraucht worden, doch darüber tauchten Medienberichte erst im Dezember 2022 auf, gezielt als Wahlkampfmunition gestreut von Radio Szczecin und dessen Chefredakteur Tomasz Duklanowicz sowie dem regierungstreuen TVP Info.
Mikołaj war eines der Kinder der Abgeordneten Magdalena Filiks aus der PO. Aus diesem politischen Lager kam auch der Täter Krzysztof F., der ein Mitarbeiter des Präsidenten des Sejmik der Region Westpommern war. Der Täter wurde 2021 unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt und sitzt seither im Gefängnis. Als Radio Szczecin und TVP Info am 29. Dezember 2022 den Fall öffentlich machten, war ihre Stoßrichtung klar: Die Liberalen hätten die Umtriebe eines Missbrauchstäters und LGTB-Aktivisten lange Zeit unter den Teppich gekehrt. Als in der Öffentlichkeit zunehmend der Verdacht diskutiert wurde, dass rechte Medien eine Schuld am Tod eines Jugendlichen trügen, schlug TVP Info zurück und zeigte während eines Sendebeitrags zu dem Fall ein rotes Transparent mit der Aufschrift »Die Politiker der Bürgerplattform sind für den Tod eines Kindes verantwortlich«.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist kein Wahlkampfthema, da es einen parteiübergreifenden Konsens zur Unterstützung der Ukraine gibt, der auch dem Mehrheitswillen der Bürger entspricht. Allerdings vermeiden die Politiker aller Parteien, zu den Ängsten in der Gesellschaft Stellung zu nehmen, die mit der Fortdauer des Krieges zunehmen. Viele Bürger befürchten, dass der Krieg auf Polen übergreift. Zu beobachten ist auch, dass es unter Geringverdienern und Arbeitslosen einen gewissen Unmut über die staatlichen sozialen Hilfen für ukrainische Flüchtlinge gibt.
Die Debatte über die Gefährdung des Rechtsstaats infolge der »Reformierung« der Justiz durch die PiS interessiert die meisten Menschen in Polen nur insofern, als durch die mangelnde Kompromissbereitschaft der Regierung der Zufluss von EU-Finanzmitteln weiterhin stockt, Gelder, die das Land dringend für notwendige Reformen benötigt. Die Haltung der Opposition, insbesondere der PO, in dieser Frage ist für viele Wähler nicht nachvollziehbar, weil Oppositionspolitiker wie Donald Tusk einerseits an ihrer grundsätzlichen Kritik am Vorgehen der Regierung festhalten, andererseits aber taktische Kompromisse mit ihr eingehen, wie sich bei einer Abstimmung im Sejm über eine halbherzige Korrektur der gesetzlichen Regelung zur Überprüfung der Tätigkeit von Richtern zeigte, als die Mehrheit der Abgeordneten der PO für den Entwurf der Regierung stimmte. Dabei geht es um eine Änderung der Kompetenzen des Obersten Gerichtshofes (Sąd Najwyższy) hinsichtlich der Regelung von Disziplinarverfahren gegen Richter. Die Regierung, besonders Justizminister Ziobro, verspricht sich davon eine gewisse Handhabe insbesondere gegen die Richter, die kritisch gegenüber dem Bemühen der Regierung eingestellt sind, die Justiz politisch zu instrumentalisieren. Präsident Duda hat den Gesetzesentwurf an das Verfassungsgericht überwiesen.
Ein wichtiges Thema, das vielen Wählern auf den Nägeln brennt, ist der horrende Preisanstieg vor allem bei Lebensmitteln und Haushaltsgegenständen. Doch die Kritik an der falschen Geldpolitik des Nationalbankpräsidenten Adam Glapiński, der ein Vertrauter von Jarosław Kaczyński ist, wird bislang hauptsächlich von unabhängigen Finanzfachleuten vorgetragen, von der Opposition aber kaum thematisiert.
So ist der Wohnungsmangel eines der wenigen Wahlkampfthemen, die wirklich elementare Interessen der Wähler berühren. Insbesondere PO-Chef Donald Tusk und die Linke haben dazu konkrete Vorschläge gemacht. Dies wird von vielen Wählern honoriert, wobei oft aber auch die Befürchtung laut wird, dass es sich dabei nur um ein Wahlversprechen handelt, dessen Verwirklichung keineswegs sicher ist.
Aussichten
In den Umfragen im Vorfeld der Parlamentswahlen im Herbst liegt die regierende PiS bislang bei Werten zwischen 30 und 35 Prozent, während die PO auf etwa 28 Prozent kommt. Die Linke verzeichnet acht Prozent, während die Konföderation, Polen 2050 und die PSL auf Werte um sieben Prozent kommen. Nach Lage der Dinge ist also eine Ablösung der PiS-Regierung nur durch eine Koalition aus mehreren Oppositionsparteien möglich. Doch der Weg dorthin ist noch lang. Nur die PSL und Polen 2050 haben eine Kooperation im Wahlkampf vereinbart, während alle anderen Oppositionsparteien, insbesondere die PO, allein an den Start gehen. Lediglich bei der Wahl zum Senat, der zweiten Kammer des Parlaments, haben fünf Parteien und andere Gruppierungen der Opposition vereinbart, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten im jeweiligen Wahlkreis festzulegen. Zudem steht die Frage im Raum, ob die PiS nach der Wahl trotz aller Widersprüche eine Koalition mit der Konföderation eingehen wird, sollte ihr aktueller Regierungspartner Solidarisches Polen in der Versenkung verschwinden.