Polens Außen- und Sicherheitspolitik im Angesicht des Kriegs im Osten Europas

Von Kai-Olaf Lang (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)

Zusammenfassung
Russlands Überfall auf die Ukraine ist für Polen Zäsur und Bestätigung: Zäsur, weil gegen Polens wichtigs-ten östlichen Partner ein Angriffskrieg im großen Maßstab erfolgte; Bestätigung, weil sich Warschau in seiner pessimistischen Einschätzung hinsichtlich des russischen Aggressionspotentials bekräftigt sieht. Polens außen- und sicherheitspolitische Großziele haben sich durch den Krieg keineswegs verändert, aber sie stehen in einem neuen, dramatisch veränderten Kontext. Nach wie vor geht es darum, die Sicherheit Polens im transatlanti-schen Geflecht zu gewährleisten und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes im Gefüge der europäischen Integration voranzubringen. Weiterhin, wenn auch mit immenser Dringlichkeit, geht es darum, Russlands Ausgreifen zurückzudrängen sowie die Ukraine und andere östliche Nachbarn zu schützen. Und immer noch geht es darum, Polens Gewicht in der Europäischen Union und der NATO auszubauen, um beide Organi-sationen im Sinne Warschaus zu festigen und fortzuentwickeln. Ob dies gelingt, hängt davon ab, wie Polen sich in das Nordatlantische Bündnis, in die Ostpolitik des Westens und in die Europäische Union einfügt. Die seit 2015 in Polen regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) treibt in die-sem Zusammenhang traditionelle Elemente polnischer Außenpolitik weiter, hat aber, gerade in der Europapo-litik mit ihrem offensiven Kurs zur Wahrung nationaler Interessen, auch Neuausrichtungen vorgenommen.

Sicher transatlantisch

Der Eckstein der polnischen Sicherheitspolitik war stets die Mitgliedschaft in einer funktionierenden NATO und die enge Verzahnung mit den Vereinigten Staaten. Nachdem Polen sein Kardinalziel, nämlich die Einbindung in das nordatlantische Bündnis, im Jahr 1999 erreicht hatte, ergaben sich jedoch bald neue Unwägbarkeiten. Bereits der Krieg gegen Serbien war ein Vorbote, dass die »neue NATO« ihr Profil ändern würde und nicht mehr primär auf Bedrohungen aus dem Osten ausgerichtet war. Es waren dann aber die fundamentalen Veränderungen infolge der Anschläge vom 11. September 2001 und deren Konsequenzen, die eine regelrechte Transformation der NATO auslösen sollten. Der amerikanische war on terror erforderte Armeen, die außerhalb des Bündnisgebiets intervenieren konnten, und Verbündete, die bereit waren, an den notwendigen Operationen mitzuwirken. Die Parole aus Washington lautete nun »Out of area or out of business«. Warschau ging diese Neuausrichtung gegen den Strich, denn Polen war ja dem Nordatlantikpakt beigetreten, um Schutz vor Russland zu bekommen, und nicht um Stabilisierungseinsätze in der ganzen Welt zu unterstützen. Dennoch beteiligte sich Polen aktiv am Umbau der NATO. So gehörte das Land bei der NATO-Mission in Afghanistan zu den wichtigsten Beiträgern. Polen hatte, wie auch weitere Staaten aus Ostmitteleuropa, keine andere Wahl. Damit die NATO für die USA attraktiv blieb, mussten die Verbündeten an der Globalisierung mitwirken, auch wenn sie diese nicht wirklich guthießen. Sie erhofften sich dadurch Solidarität der USA für künftige Krisen in Europa.

Polen ging aber noch weiter als andere Länder aus dem östlichen Teil Europas. Während des Kriegs gegen den Irak war Polen eines der wenigen europäischen Länder, das militärisch an der US-geführten »Koalition der Willigen« mitwirkte. Damit demonstrierte Warschau seine Bereitschaft, über die NATO hinaus selbst bei militärischen Einsätzen an der Seite der USA zu agieren. Auf diese Weise wurde zudem zum Ausdruck gebracht, dass Polen jenseits der NATO auch auf bilateraler Ebene eine sicherheitspolitische und militärische Kooperation mit den USA anstrebte. Im Grunde signalisierte Polen damit, eine Sonderbeziehung mit den USA aufbauen zu wollen. Dies geschah zu einer Zeit, als die wichtigsten kontinentaleuropäischen Verbündeten, also Deutschland und Frankreich, eine gegen die USA gerichtete »Achse« mit Russland zu etablieren versuchten – und so nicht nur Polens Misstrauen bestätigten, sondern auch seine Abneigung gegen die Bestrebungen der EU, eine eigene sicherheits- und verteidigungspolitische Dimension aufzubauen. Für Polen stand dahinter der Versuch, die transatlantischen Beziehungen zu verwässern und Europa von den USA abzukoppeln.

Damit wurden wenige Jahre nach Polens formaler Eingliederung in die Strukturen des Westens drei stabile Muster der polnischen Sicherheitspolitik sichtbar, die bis heute eine formative Bedeutung haben und die angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine bestätigt werden.

Erstens besteht eine klare Präferenz für die NATO mit ihrem »klassischen« Verteidigungsdispositiv, das die Verteidigung des Bündnisgebiets umfasst und Streitkräfte erfordert, die in der Lage sind, feindselige Staaten abzuschrecken und militärische Aggressionen gegebenenfalls abzuwehren. Die Annexion der Krim und Russlands Destabilisierung der Ostukraine im Jahr 2014 brachten spürbare Korrekturen am Konzept der globalen NATO. Die Stärkung der Ostflanke der Allianz, zu der etwa die Einrichtung einer »verstärkten Vornepräsenz« (enhanced Forward PresenceeFP) der NATO in Polen und den baltischen Staaten oder die Bildung einer schnellen Eingreiftruppe, einer »Speerspitze« des Bündnisses, gehörten, gingen genau in die von Polen stets angemahnte Richtung. Russlands Angriff auf die Ukraine hat die von Polen anvisierten althergebrachten Aufgaben der NATO nochmals in den Vordergrund gerückt. Sowohl deklaratorisch als auch real hat die von Russland ausgehende Bedrohung den Zusammenschluss neu belebt. Das Bündnis, noch kurze Zeit vor der russischen Invasion als »hirntot« beschrieben, intensiviert die Stationierung von Truppen und Gerät an der Ostflanke, die meisten Mitgliedsländer erhöhen ihre Verteidigungsausgaben und Politiker:innen aus NATO-Staaten bekennen sich dazu, dass die in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags genannten Hilfszusagen uneingeschränkt gelten und im Ernstfall jeder Quadratzentimeter des Bündnisgebiets verteidigt werden würde.

Zweitens haben sich die Zweifel gegenüber den sicherheitspolitischen Anstrengungen der EU gehalten. Zwar bringt sich Polen in die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU und deren ambitionierte Teilprojekte im Rahmen der sogenannten PESCO-Initiative (Permanent Structured Cooperation) ein. Doch stellt Warschau die langfristige Ausrichtung der GSVP unter eine Art NATO-Vorbehalt: Polen erkennt an, dass die EU nützliche Beiträge auf dem Gebiet der Sicherheit zu leisten hat – sei dies bei Cyber-Sicherheit oder der militärischen Mobilität –, lehnt einen Aufbau eigenständiger und konkurrierender Strukturen dabei jedoch ab. Die europäischen Fähigkeiten sollen vielmehr dazu dienen, die Schlagkraft der NATO zu verbessern.

Drittens schließlich gilt für Polen in der Sicherheitspolitik nach wie vor »America first«. Natürlich wurde auch in Polen zur Kenntnis genommen, dass die amerikanische Unterstützung für die NATO wanken kann. Bereits die Ansage zu Zeiten Präsident Obamas, die USA würden sich nach Asien orientieren müssen, wurde mit einer gewissen Nervosität aufgenommen. Nach der Wahl Donald Trumps löste dessen Infragestellung der Allianz weiteres Unbehagen aus. Polens Reaktion auf derlei Ansagen besteht aber nicht darin, sich in Sicherheitsfragen Europa zuzuwenden: Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der europäischen Verbündeten und deren militärische Fähigkeiten ist begrenzt. Vielmehr setzt Warschau auf die Vertiefung der bilateralen Bindungen zu den USA. So wurde die US-Militärpräsenz in Polen markant verstärkt. Neben den US-Soldaten im Rahmen des NATO-eFP-Kampfverbands befinden sich seit den letzten Jahren z. B. amerikanische Kräfte in Brigadestärke und ein vorgeschobenes Hauptquartier auf polnischem Boden. Im Zuge der Modernisierung der polnischen Streitkräfte wird außerdem in großem Maßstab auf Gerät aus den USA gesetzt. Schon lange vor dem Krieg wurden Großprojekte wie der Kauf von neuen Kampfflugzeugen (F-35), Flugabwehrsystemen (Patriot) oder Raketenartillerie (HIMARS) angeschoben. Damit wurde auch US-Politikern vom Schlag eines Donald Trump signalisiert, dass sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Polen ein gutes Geschäft ist. Unter dem informellen Etikett »Fort Trump« wurden dem Bewohner des Weißen Hauses zwei Milliarden Dollar für die Stationierung von US-Soldaten und die Einrichtung entsprechender Kasernen in Aussicht gestellt. Der 24. Februar 2022 katalysierte diese Prozesse nochmals. Polen investiert noch mehr in Gerät aus den USA, will nun u. a. Kampfpanzer und Hubschrauber sowie weitere der bereits bestellten Systeme kaufen. Und nie waren mehr US-Truppen in Polen präsent als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Aus US-amerikanischer Perspektive ist Polen eine zentrale Logistikplattform für die Versorgung der Ukraine, aber auch eine Drehscheibe für die USA-Präsenz an der gesamten NATO-Ostflanke. Überdies gilt Polen als ein Partner, auf den man sich verlassen kann, dessen geopolitische Ausrichtung und dessen Wille, sich Russland entgegenzustemmen, in großen Teilen mit US-Interessen übereinstimmt. Polen trachtet also danach, die sicherheits- und verteidigungspolitischen sowie rüstungswirtschaftlichen Verklammerungen mit den USA stetig zu vertiefen. Sollten künftige US-Administrationen das Interesse an der NATO verlieren oder stärker vom Konflikt mit China absorbiert werden, kalkuliert man damit, dass direkte, bilaterale Verbindungen eine strategische Gleichgültigkeit Washingtons gegenüber Polen verhindern.

Ostpolitische Prioritäten

Polens Ostpolitik war nach 1989 immer auch Sicherheitspolitik. Schon nach wenigen Jahren kristallisierten sich die Prioritäten für Polens Umgang mit dem Osten Europas heraus. Verkürzt könnte man diese in etwa wie folgt formulieren: Ein fest im Westen verankertes Polen soll darauf hinwirken, dass von Russland ausgehende neoimperiale Tendenzen im Gebiet der früheren Sowjetunion und insbesondere in Osteuropa eingegrenzt werden. Voraussetzung und Instrument hierfür ist die Sicherung der Unabhängigkeit der östlichen Nachbarn Polens und der erweiterten Europäischen Union. Von Anfang an war klar, dass die Ukraine in diesem Zusammenhang als Schlüssel für die geostrategische Konstruktion in einem Teil der Welt diente, der zunächst noch als »postsowjetischer Raum« bezeichnet wurde. Während die kulturell und historisch unterfütterten Überlegungen aus dem Milieu der Exil-Zeitschrift Kultura und deren Spiritus Rector Jerzy Giedroyc die polnische Ostpolitik noch inspirierte, indem das gemeinsame Erbe der alten Rzeczpospolita und die politische Relevanz enger Beziehungen zu Litauen, Belarus und der Ukraine hervorgehoben wurde, war es dann eine geopolitisch ausgerichtete Sicht der Dinge, die Polens Einsatz für seine direkten und indirekten Nachbarn in Osteuropa beherrschte. Nachdem Polen der EU und der NATO beigetreten war, agierte es als Sachwalter einer Heranführung von Ländern wie der Ukraine an die Organisationen des Westens. Damit, so die Überlegung Polens, käme es selbst aus seiner Situation als Grenz- und Frontstaat heraus, wohingegen Russland zurückgedrängt werden könnte. Gleichzeitig würde die sukzessive Europäisierung der Nachbarländer, also die Festigung demokratischer Strukturen und der Kampf gegen Oligarchen und Korruption, Moskaus Einflussmöglichkeiten schwächen.

Vor allem die Mitgliedschaft in der EU bot Polen die Chance, seine Vorstellungen in die Gemeinschaft einzuspeisen, unter Rückgriff auf deren Ressourcen Reformen in der Nachbarschaft voranzubringen und die dort gelegenen Länder auf diese Weise an die EU anzunähern. Das noch junge EU-Mitglied Polen, konkret der damalige Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, spielte bei der Orangenen Revolution in der Ukraine Ende 2004 eine wichtige Rolle, um durch Vermittlung eine gewaltsame Unterdrückung der Demokratiebewegung zu vermeiden. Ende 2008 dann präsentierte Polen (zusammen mit Schweden) das Konzept einer neuen EU-Strategie zur Verdichtung der Kooperation mit Ländern wie der Ukraine: Die Östliche Partnerschaft, die alsbald von der EU initiiert wurde, beinhaltete zwar keine Beitrittsperspektive für die Länder aus Osteuropa oder dem Südkaukasus, eröffnete aber andere Formen der Anbindung wie etwa Assoziierung oder Freihandel. Warschau war sich bewusst darüber, dass weitreichendere Angebote in Berlin oder Paris auf wenig Gegenliebe stießen und hatte daher ein Kompromisskonzept ausgearbeitet, das für die EU insgesamt akzeptabel war.

Dass Russland jeglicher Form der Westorientierung in einer Region, die es als seine besondere Interessensphäre erachtete, immer entschlossener entgegentrat, wurde in Warschau mit Sorge verfolgt. Russlands Interventionen in Georgien 2008 und in der Ukraine 2014 gaben aus polnischer Sicht dazu Anlass, die Anstrengungen des Westens gegen Russlands Ausgreifen spürbar zu erhöhen. In vielen europäischen Hauptstädten blieb es indes bei Zaudern und Zögern. Immerhin hatten auch die wichtigen europäischen Partner Polens es abgelehnt, die »Integrationskonkurrenz« mit Russland durch einen faulen Kompromiss »aufzulösen«, der die Ukraine wieder Moskaus Interessensgebiet zugeschlagen hätte. Auch einen Rückzug aus der jungen Politik der Assoziierung mit der Ukraine gab es trotz russischer Aggressionspolitik nicht. Polen monierte aber, dass vor allem Paris und Berlin zu zaghaft reagierten, eine NATO-Perspektive für die Ukraine oder Georgien ablehnten und mit Russland (und der Ukraine) weiterhin im Dialog blieben oder sogar – wie im Falle der umstrittenen Nord-Stream-Pipelines – Kooperationen ausbauten. Gleichzeitig war auch Warschaus Handeln realpolitisch geprägt. So streckte Polen bis zu den gefälschten belarusischen Präsidentschaftswahlen im August 2020 die Hand nach Minsk aus. Das dortige Regime, so autoritär es auch war, sollte aus seiner einseitigen Abhängigkeit von Russland befreit werden, um zumindest Elemente belarusischer Souveränität gegenüber Moskau aufrechterhalten zu können. Durch die Selbstisolation des Machthabers Lukaschenka kam Warschaus pragmatischer Ansatz indes zu einem jähen Ende.

Russlands Überfall auf die Ukraine war einerseits eine Niederlage für die polnische Ostpolitik, denn Warschau war nicht in der Lage gewesen, eine Politik im Westen zu organisieren, die Russland im Vorfeld seines Angriffs das Gefühl gegeben hätte, mit hohen Kosten rechnen zu müssen. Andererseits ist es ein bitterer Erfolg, dass zahlreiche (wenn auch nicht alle) Prämissen und Forderungen der polnischen Ostpolitik nun von den Partnern in Europa angenommen wurden. Dazu gehören die Eröffnung einer EU-Beitrittsperspektive für osteuropäische Nachbarn oder der Ruf nach einer Entflechtung von Energieeinfuhren aus Russland. Es wird entscheidend vom Kriegsausgang abhängen, ob Polens ostpolitische Zielsetzungen sich dann – durch die sicherheitspolitische Lage im Osten sowie die Akzeptanz bei den Partnern im Westen – weitgehend erfüllen werden, oder ob – sei es durch Russlands Erfolg oder durch eine Ukraine- und Osteuropa-Fatigue in Westeuropa und den USA – Polens Vision eines demokratischen, souveränen und europäisierten Ostens abermals in weite Ferne rücken wird.

Polen in der EU: Mitgestaltung oder Selbstbehauptung?

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union war und ist für Polen eine mindestens dreifache Chance. Erstens ist die Union mit dem Binnenmarkt und ihren immensen Fördertöpfen ein Entwicklungs- und Modernisierungsvehikel. Zweitens basiert die EU auf einem Regelsystem, das kleineren Staaten helfen kann, die Vormachtstellung großer Länder durch Nutzung von Recht und Institutionen einzuhegen. Und drittens können auch mittlere und kleinere Mitgliedstaaten europäische Prägekraft entfalten – vorausgesetzt, sie kooperieren geschickt und bringen sich mit ihren Fähigkeiten in die Prozesse europäischer Politik ein. Während Polen die Entwicklungspotentiale der EU-Mitgliedschaft bisher gekonnt nutzte, fällt die Bilanz in den anderen Chancenbereichen differenzierter aus. Polen ist einerseits Vorkämpfer europäischer Solidarität, und zwar nach innen wie nach außen, hat aber andererseits einer Art Solidarität mit Attributen das Wort geredet. Etwa in der Migrationskrise von 2015, als Polen, zusammen mit den Partnern aus der Visegrád-Gruppe (also der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn) das Prinzip »flexibler Solidarität« in die Diskussion einbrachte, um so verbindliche Verteilquoten für Flüchtlinge in der EU abzuwehren. Jeder Staat sollte demzufolge Solidarität dort einbringen, wo er es am wirksamsten hielt, etwa bei der Außengrenzsicherung oder der Zusammenarbeit mit Drittstaaten. So legitim diese Idee gewesen sein mag, so offensichtlich stellte sie Polen als ein Land dar, das Solidarität interpretieren, wenn nicht sogar hinterfragen wollte. Im Zusammenhang mit der Energiekrise in der EU infolge des Kriegs in der Ukraine wiederum gab Polens Klimaministerin zu verstehen, dass ihr Land es eigentlich nicht vorhabe, im Fall einer Notlage eigene Gasvorräte mit Mitgliedstaaten zu teilen, die sich bisher auf Lieferungen aus Russland verlassen und keine Anstrengungen zur Diversifizierung unternommen hatten. Auch hier war ein durchaus nachvollziehbares Argument eingehüllt in die Forderung, solidarische Lastenteilung in der EU anzuzweifeln – und das von einem Land, das treibende Kraft dabei war, das Prinzip der Energiesolidarität im Vertragswerk der Union zu verankern.

Eine der wesentlichen Herausforderungen polnischer Politik in der EU hängt aber mit der dritten Chance zusammen: die Geschicke der Union mitzubestimmen. Denn immer wieder gab es nach Polens EU-Beitritt im Mai 2004 Momente, in denen das Land eher als Verhinderungs- denn als Gestaltungsmacht agierte. Warschaus Widerstand gegen eine Reform des Entscheidungssystems der EU war gleichsam das Entrée Polens in die Politik der EU. So verständlich Polens Wunsch nach einem Festhalten am alten Abstimmungsmodus war (denn die neue »doppelte Mehrheit« begünstigte Deutschland und Frankreich und minderte Polens Potential, Sperrminoritäten zu organisieren), so deutlich schob sich ein Motiv polnischer Europapolitik nach vorne, das auch in den Folgejahren immer wieder eine Rolle spielte: Polen sah sich in der EU offenbar in der Defensive und suchte nach Wegen, seine Interessen gegen Brüssel oder das deutsch-französische Tandem zu verteidigen. Polen war im EU-weiten Vergleich sicherlich kein Land, das eine extensive Blockadepolitik verfolgt hätte. Aber die Androhung und gelegentliche Nutzung des Vetorechts sowie eine Haltung, die oft auf das Abwenden vermeintlicher oder realer Brüsseler Befugnisse abzielte, verdichtete vielerorts das Image Polens als eines wichtigen und gewichtigen, aber eben auch sperrigen Partners.

Es wäre daher unzutreffend, die nach dem Wahlsieg der PiS im Jahr 2015 eintretenden Spannungen mit Brüssel allesamt den Nationalkonservativen zuzuschreiben. Auch als die PiS nicht im Amt war, hat Polen sich immer wieder als durchsetzungsstarker Akteur in der EU geriert. Jedoch liegen die polnischen Regierungen seit 2015 im Dauerclinch mit europäischen Institutionen und zahlreichen Partnern. Die PiS möchte eine dezentrale EU, in der die Nationalstaaten auch künftig weit definierte Hoheitsbereiche besitzen. Die »Gemeinschaftsmethode« und weitere Vertiefungen der EU werden abgelehnt. Wie in einem Brennglas kommen derlei Haltungen im Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit zum Ausdruck. Polens Justizreform und die Vorgänge um den Verfassungsgerichtshof führten dazu, dass die Europäische Kommission Ende 2017 erstmals ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen einen Mitgliedstaat initiierte. Zwar kommt die Prozedur kaum voran, aber das Signal war deutlich, denn am Ende könnte die Aussetzung von Mitgliedschaftsrechten stehen. Mehrere Vertragsverletzungsverfahren und für Polen ungünstige Urteile des Europäischen Gerichtshofs sowie der Versuch seitens der EU, Polen mit neuen Instrumenten europäische Gelder einzufrieren, haben die Streitigkeiten um die Rechtsstaatlichkeit immer weiter zugespitzt. Das polnische Regierungslager sieht derlei Maßnahmen als ideologische Kampagne, die darauf abziele, die Machtverhältnisse in Polen zu verändern. Und gleichzeitig wirft es der EU vor, ihr Mandat zu überschreiten, da die Gemeinschaft angeblich keine Kompetenzen habe, um die innerstaatliche Ordnung von Mitgliedsländern zu bewerten. Das Urteil des PiS-freundlichen polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2021, demzufolge die Übertragung von Kompetenzen an die EU nicht den Vorrang der polnischen Verfassung verletzen dürfe, wurde seitens der EU und der europafreundlichen Opposition als Bruch mit dem europäischen Rechtssystem und von einigen Kritikern sogar als »juristischer Polexit« angesehen. Der PiS zufolge sei damit hingegen nur eine Klärung erfolgt, dass die EU auf manchen Gebieten keine Zuständigkeiten besitze. Durch die mögliche Zurückhaltung von Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds »Next Generation EU« oder aus den Kohäsionsfonds übt die EU nun Druck auf die polnische Regierung aus, was der Auseinandersetzung eine neue Schärfe verleiht. Käme es im Wahljahr 2023 und angesichts einer sich eintrübenden Wirtschaft tatsächlich so weit, würde die PiS nicht nur innerpolnisch gegen die EU mobilisieren, sondern vermutlich auch durch Blockadepolitik auf EU-Ebene in anderen Politikfeldern »gegenhalten«. Dies könnte zu einer Vertiefung bestehender Gräben in der EU führen.

Polens Position in Zeiten des Kriegs

In Zeiten des russischen Kriegs gegen die Ukraine stellen sich Grundfragen der polnischen Außenpolitik mit neuer Brisanz: Wie kann die Sicherheit des Landes verbessert werden? Wie kann man sich von der Abhängigkeit Russlands befreien? Wie kann Polen die Ukraine und andere Nachbarn im Osten unterstützen? Wie kann die wirtschaftliche Entwicklung angesichts von Digitalisierung oder klimapolitisch orientierter Transformation gesichert werden? Voraussetzung dafür, den damit verbundenen Zielen näherzukommen, sind innere Einigkeit, wirtschaftliches und sicherheitspolitisches Potential und nicht zuletzt eine gute Vernetzung in EU und NATO. Eine Momentaufnahme Ende 2022 fällt auf den einzelnen Gebieten allerdings gemischt aus.

In der Sicherheits- oder der Ostpolitik denkt und handelt die polnische Politik zumeist einmütig. Doch in Polens Europapolitik gibt es längst keinen Konsens mehr. Der »eurorealistische« Ansatz der PiS (wie die Politik der Partei von manchen ihrer Exponenten bezeichnet wird) steht der integrationsbejahenden Haltung der Opposition der rechten und linken Mitte deutlich gegenüber. Dies heißt auch: Polens Ausrichtung in der EU hängt spürbar davon ab, wer in Warschau regiert. Die Europapolitik wird also auch künftig unter fehlender Kontinuität leiden.

Besser sieht es mit den »materiellen« Grundlagen des polnischen Einflusses aus. Polens Aufholprozess mit Westeuropa funktioniert, energie- und klimapolitische Umgestaltungsprozesse werden ihren Tribut fordern, aber gerade bei der Diversifizierung von Energieträgern ist das Land gut vorangekommen. Einen Schub für Polens Stellung in Europa brachte paradoxerweise auch der Krieg. Der bedrohte Frontstaat ist ein wichtiger Solidaritäts- und Sicherheitsproduzent. Polens diesbezügliche Anstrengungen können seine Soft und seine Hard Power vergrößern: Die Aufnahme von Flüchtlingen, die neue strategische Rolle des Landes und der Aufbau schlagkräftiger und moderner Streitkräfte sind die sichtbarsten Effekte in diesem Zusammenhang.

Das vielleicht entscheidende Manko sind die Partner. Die PiS hat in den letzten Jahren auf die Beziehungen zu den USA, zu Großbritannien und zu den Ländern in Ostmittel- und Südosteuropa gebaut. Mit diesen Ländern bestehen weitreichende Überlappungen gerade in der Sicherheits- und Russlandpolitik. Der Krieg wirkt hierbei als Katalysator ohnedies enger Kooperationen. Die Rechnung der PiS, mit den USA, Großbritannien und vor allem den drei Partnern aus der Visegrád-Gruppe oder durch die von Warschau mitbegründete Drei-Meere-Initiative eine effektive Gegenmachtpolitik gegen Deutschland (und Frankreich) zu betreiben, ging indes nicht auf. Mit dem Abgang von Donald Trump fehlte eine EU- und Deutschland-kritische US-Administration, Großbritannien verließ die EU und im östlichen Teil der EU zeichneten sich Interessenunterschiede ab: Die anderen Länder der Region wollten sich auf keinen gegen Deutschland gerichteten Kurs einlassen, in Fragen der Rechtsstaatlichkeit blieb vor allem Ungarn als Partner; dieses wiederum verfolgt einen völlig anderen Kurs als Polen, was den Krieg in der Ukraine betrifft.

Polens Position in Europa und im transatlantischen Gefüge ist daher auch und gerade im Angesicht des russischen Angriffs gegen die Ukraine voller Ambivalenz. Polen ist einerseits Aktivposten in der Sicherheitspolitik, Schlüsselakteur bei der Hilfe für die Ukraine und Vorreiter in der Energiepolitik, befindet sich anderseits im Modus der Gegenwehr gegen eine vermeintlich übergriffige EU und im permanenten Streit mit Deutschland oder dem deutsch-französischen Tandem, dem es Hegemonialpolitik in Europa vorwirft. Das Aufblühen der polnisch-amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungskooperation sowie der Beziehungen zu den meisten ostmitteleuropäischen Ländern wird aber die enge Zusammenarbeit mit Deutschland (und Frankreich) nicht ersetzen können. Polens – in vielerlei Hinsicht berechtigte – Kritik an einer Fehleinschätzung Russlands durch Deutschland und die einsetzende deutsche Selbstreflexion haben bislang nicht zu mehr Gemeinschaftlichkeit geführt. Verstärkt durch Reparationsforderungen und eine Auseinanderbewegung in europapolitischen Fragen sind Ost- und Sicherheitspolitik sowie der Krieg vielmehr zu einer weiteren Belastungsprobe für die deutsch-polnischen Beziehungen geworden. Polens neue Chance, zu einer regionalen Führungsmacht in Europa zu avancieren, wird kaum zu erfüllen sein, solange die Politik des ablehnenden Misstrauens gegenüber dem westlichen Nachbarn fortgeführt wird und solange die erstarkende transatlantische Komponente in Polens strategischer Position nicht durch eine funktionierende europäische Dimension ergänzt wird.

Dieser Text erscheint in »Jahrbuch Polen 2023: Osten«, herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2023. Das Jahrbuch kann bestellt werden unter der E-Mail-Adresse verlag@harrassowitz.de

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Analyse

Die europäische Integration und das geschwächte Vertrauen gegenüber Deutschland. Offener Brief von Eugeniusz Smolar an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock

Von Eugeniusz Smolar
Dieser Text ist eine Antwort auf die Rede von Annalena Baerbock, Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland, die sie Anfang August 2022 an der New School in New York gehalten hat. Als Repräsentantin der Grünen in der deutschen Regierungskoalition (gemeinsam mit der SPD und der FDP) sprach sie über die Notwendigkeit der gemeinsamen amerikanisch-europäischen Führung angesichts der Herausforderungen, vor die die Welt nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine gestellt wurde. Der Offene Brief erschien zuerst in der online-Ausgabe der Gazeta Wyborcza am 18. August 2022.
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