Das polnische Bildungswesen nach acht Jahren PiS-Regierung: strukturelle Veränderungen und ideologische Konfrontationen

Von Jacek Lepiarz (Deutsche Welle, Warschau)

Zusammenfassung
Seit Jahren wird in Polen kontrovers über den Bereich der Bildung diskutiert. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Schulkompetenz bei den Bundesländern liegt, hat Polen ein zentralistisches Schulsystem: Die Entscheidungen des Bildungsministers betreffen das ganze Land. Nachdem Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) 2015 die Regierungsverantwortung übernommen hatte, löste sie die seit 1999 gültige dreigliedrige Schulstruktur (Grund-, Mittel- und Oberschule) auf. Dies stieß auf deutliche Kritik, waren doch z. B. die Leistungen polnischer Schüler in der PISA-Studie in jener Zeit erfolgreich. Die nationalkonservative PiS ebnete den Weg auch für eine ideologische Offensive, die den Patriotismus der jungen Generation stärken soll. In letzter Zeit forcierte das Regierungslager mit dem »Lex-Czarnek« (nach dem Bildungsminister Przemysław Czarnek) weitere Neuerungen, etwa eine strikte Kontrolle über die Tätigkeit von NGOs an Schulen (gegen »Sexualisierung der Kinder und Jugendlichen«) und die Einführung eines kontroversen Lehrbuches für das neu eingerichtete Fach Geschichte und Gegenwart. Zu wenig tut die Regierung dagegen, um dem eklatanten Lehrermangel und den niedrigen Einkommen im Bildungswesen zu begegnen, so die Meinung der Gewerkschaften.

Die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) betrachtete das Bildungswesen von Anfang an als einen der Schlüsselbereiche für die Konfrontation mit dem liberal und links eingestellten politischen Spektrum. Das von Jarosław Kaczyńskis Partei 2014 verabschiedete Programm – ein Jahr vor ihrem Doppelsieg in den Parlaments- und den Präsidentschaftswahlen – kündigte offen Veränderungen in der Struktur des Schulsystems, die Einführung konservativer Inhalte in die Lehrpläne sowie die Betonung der erzieherischen Aufgaben im Einklang mit dem von der PiS vertretenen Modell des Patriotismus an.

»Es ist offensichtlich, dass die Einführung der Mittelschule [poln. gimnazjum, 7. bis 9. Klasse, d. Übers.] ein Fehler war. Das Konzept der Mittelschule war nicht durchdacht. Weder die ernsthaften Erziehungsprobleme noch die Schwierigkeiten in den Lehrplänen wurden vorhergesehen: Es war nicht klar, welche Rolle die Mittelschule im Bildungsprozess hat und in welchem Verhältnis das Lehrpensum in der Mittelschule und der Oberschule [poln. liceum, 10. bis 12. Klasse mit Abschluss Abitur, d. Übers.] stehen soll«, heißt es im Programm der PiS, die im Herbst 2015 die Parlamentswahlen gewann und eine Regierung unter der Führung von Beata Szydło bildete.

»Es besteht daher die Notwendigkeit, die Oberschule auf vier Jahre zu verlängern und gleichzeitig die Mittelschule aufzulösen«, stellten die Autoren des Parteiprogramms fest und kündigten die Rückkehr zur achtjährigen Grundschule (poln. szkoła podstawowa) und vierjährigen Allgemeinbildenden Oberschule (poln. liceum ogólnokształcące) bzw. fünfjährigen Technischen Oberschule (poln. technikum) an.

Das Bildungsgesetz vom 14. Dezember 2016 setzte die Ankündigungen aus dem Wahlkampf der PiS um. Die von der damaligen Bildungsministerin Anna Zalewska vorbereitete Reform trat am 1. September 2017 in Kraft. Hatten die durchgeführten Änderungen des Schulsystems einen positiven Einfluss auf die Arbeit der Schulen und das Niveau der Lehre? Aus den Informationen des Pressebüros im Ministerium für Bildung und Wissenschaft geht hervor, dass dem Ressort auch nach sechs Jahren keine Gesamtanalyse zu den Folgen der Reform vorliegt.

Die Lehrergewerkschaft kritisiert die Abschaffung der Mittelschulen

»Ich sehe keine positiven Effekte dieser Reform, die man eher als ›Deform‹ bezeichnen sollte«, urteilte der Vizevorsitzende des Gesamtvorstands der Polnischen Lehrergewerkschaft (Związek Nauczycielstwa PolskiegoZNP), Krzysztof Baszczyński. Seiner Einschätzung nach war die Abschaffung des seit 1999 bestehenden Schulsystems (sechsjährige Grundschule, dreijährige Mittelschule und dreijährige Oberschule), das die polnischen Schüler zu sehr guten Ergebnissen in den Rankings der PISA-Studie geführt hatte, ein undurchdachter und nicht nachvollziehbarer Schritt.

Die positive Beurteilung des einstigen Schulsystems wird von der Statistik bestätigt. In der PISA-Studie 2018 ließen die polnischen Schüler der Mittelschule im Bereich mathematische Kompetenz alle in der Europäischen Union außer den jungen Esten hinter sich. Im Bereich Lesekompetenz belegten die polnischen Jugendlichen Platz 4 in der Europäischen Union und im Bereich naturwissenschaftliches Verständnis Platz 3. In allen drei untersuchten Bereichen lagen die Ergebnisse der polnischen Schüler über dem Durchschnitt der Länder der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, engl. OECD) und gehörten zur globalen Spitze.

Im April 2023 schrieb die deutsche Tageszeitung Die Welt, dass die Deutschen viel von den Polen lernen können. Im Vergleich mit Deutschland und anderen Industrieländern gebe Polen wenig für die Bildung aus und trotzdem erzielten die polnischen Schüler hervorragende Ergebnisse, die seit Jahren besser würden, so die Einschätzung des in Die Welt angeführten PISA-Koordinators Andreas Schleicher, der das Direktorat für Bildung der OECD führt.

Seiner Meinung nach war die Hauptursache für die Erfolge der polnischen Schüler die Schulreform des Jahres 1999, vor allem die Einrichtung der Mittelschule. Die Aufhebung dieser Reform könne zu einer deutlichen Verschlechterung der Ergebnisse führen, sagte der Zeitung Die Welt der Bildungsforscher der Universität Warschau, Tomasz Gajderowicz.

»Die von den Befürwortern der Umstrukturierung hervorgebrachten Argumente, dass es in den Mittelschulen häufig zu Gewalt älterer Schüler gegen jüngere komme, treffen nicht zu. Die Situation, wenn Erstklässler und 14-jährige Achtklässer am selben Ort sind, ist keinesfalls besser«, sagte Baszczyński von der Polnischen Lehrergewerkschaft.

Er erinnerte daran, dass seine Gewerkschaft ein Referendum zur Reform durchführen wollte, um das Argument zu entkräften, dass die Mehrheit der Eltern die Rückkehr zum alten Schulsystem vor 1999 wolle. »Wir haben eine Million Unterschriften gesammelt, aber der Sejm hat unsere Aktion blockiert«, erklärte der Vizevorsitzende der ZNP.

Das Gesetz gegen »Sexualisierung« und Nichtregierungsorganisationen

Die Änderung des Schulsystems war eines von vielen Instrumenten, das den polnischen Nationalkonservativen die Kontrolle über die Bildung der Jugend sichern sollte. Die Befugnisse der Leiter der Schulaufsichtsbehörden (poln. kurator) zu stärken und den Zugang zu den Schulen denjenigen Organisationen und Vereinen zu verweigern, die nicht der PiS-Ideologie entsprechen, waren seit langem die Ziele von Bildungsminister Przemysław Czarnek, der Anna Zalewska im Oktober 2020 im Ministeramt ablöste.

Obwohl Präsident Andrzej Duda zweimal sein Veto gegen das sog. Lex Czarnek einlegte, weil ihn die Einwände der Lehrer gegen die Ideen von Czarnek überzeugten, blieb das rechtskonservative Lager bei seinem Vorhaben und verabschiedete im August 2023 im Sejm einen Gesetzesentwurf, der Nichtregierungsorganisationen den Zugang zu Schulen versagte oder zumindest deutlich erschwerte. Die als sog. Bürgerprojekt verhandelte Novelle des Bildungsgesetzes unter dem Titel »Kinder schützen, Eltern unterstützen« verbietet in Vorschulen und Schulen die Tätigkeit von »Vereinen und anderen Organisationen, die Themen im Zusammenhang mit der Sexualisierung der Kinder fördern«. Der Gesetzgeber präzisierte nicht, was unter dem Begriff »Sexualisierung« zu verstehen ist, was den Schuldirektoren einen großen Interpretationsspielraum lässt.

Laut dem Gesetz müssen Organisationen, die auf dem Schulgelände tätig werden wollen, dem Direktor genaue Informationen nicht nur über die geplante Veranstaltung, sondern auch über das Profil der Organisation, ihre Ziele und die von ihr eingesetzten Materialien geben. Der Direktor wurde verpflichtet, eine Stellungnahme des Schulrates sowie des Elternbeirates einzuholen und den Leiter der Schulaufsichtsbehörde zu informieren. Das war das einzige Zugeständnis vonseiten der Befürworter einer strengeren Kontrolle der Schulen – die früheren Versionen des Gesetzes machten die Erlaubnis, dass eine Nichtregierungsorganisation Zugang zum Schulgelände erhält, ausschließlich von der Zustimmung der Leitung der Schulaufsichtsbehörde abhängig.

Ohne jegliche Formalitäten können allerdings Vertreter staatlicher Behörden, des Polnischen Roten Kreuzes und die Pfadfinder in die Schulen gehen.

Der Bremseffekt des Gesetzes »Lex Czarnek 3.0«

Experten weisen auf den »Bremseffekt« dieser Regulierung hin. »Viele Direktoren werden vermutlich die Angebote von NGOs eher ablehnen, weil sie sich keinen Schwierigkeiten aussetzen wollen«, sagte Baszczyński. Noch unmissverständlicher formulierte Marek Pleśniar, Direktor des Gesamtpolnischen Vereins des Führungspersonals im Bildungswesen (Ogólnopolskie Stowarzyszenie Kadry Kierowniczej Oświaty), seine Vorbehalte: »Es geht darum, den Schulen die Daumenschrauben anzulegen«, sagte er im Gespräch mit der überregionalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. »Ein Direktor wird es sich fünfmal überlegen, bevor er jemanden in die Schule einlädt«.

Änderungen der Lehrinhalte zugunsten von »patriotischerem« Gedankengut im Sinne der Nationalkonservativen ist eine weitere Forderung der PiS, die sie vor der Übernahme der Regierungsverantwortung im Jahr 2015 aufgestellt hatte. Kaczyńskis Partei hatte der liberalkonservativen Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO) und insbesondere ihrem Chef Donald Tusk Abneigung gegenüber dem Staat und ein distanziertes Verhältnis zur Nation und zum Katholizismus vorgeworfen.

»Das Fehlen jeglicher kohärenter Schulbuchpolitik macht es unmöglich, bei den Schülern ein gemeinsames Bewusstsein auszubilden, gleichzeitig führt es zur Vermittlung skandalöser Inhalte, z. B. werden die kommunistischen Verbrechen sowie das Ausmaß der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges relativiert«, schrieben die Autoren des PiS-Programms im Jahr 2014.

Ihre erzieherischen Ziele für die Schulen bestätigte die PiS nach den nächsten gewonnenen Parlamentswahlen im Jahr 2019. »Die Ausbildung eines nationalen und staatlichen Identitätsgefühls wird ein ständiges und wichtiges Element des Arbeitsprogramms der polnischen Schule sein. Eine entsprechende Auswahl der Schullektüre und programmatischer Inhalte erlaubt neben kognitiven und intellektuellen Aspekten, einen gemeinsamen kulturellen Code aufrechtzuerhalten, der die kommenden Generationen der Polen verbindet. Die Vermittlung von Respekt gegenüber der Tradition und den nationalen Helden und das Begehen von Nationalfeiertagen wird ein wichtiger Bestandteil der Bildung der jungen Generation sein«, ist im Programm zu lesen. Als Einrichtungen, die die Jugend im Rahmen der patriotischen Erziehung besuchen sollte, wird gleich nach dem Museum der Geschichte Polens und dem Museum des Warschauer Aufstands [1944, gegen die deutsche Besatzung, d. Übers.] das Museum der Verfemten Soldaten [die sog. verfemten Soldaten waren Angehörige des polnischen Untergrunds, die in der Nachkriegszeit in der Volksrepublik Polen gegen die kommunistische Ordnung kämpften, d. Übers.] genannt.

Ein neues Unterrichtsfach, ein kontroverses Schulbuch

Eines der Instrumente, auf die Schüler ideologisch einzuwirken, soll das neue Unterrichtsfach Geschichte und Gegenwart (Historia i TeraźniejszośćHiT) sein. Es ersetzt das bisherige Fach Gesellschaftskunde (Wiedza o SpołeczeństwieWoS). Das neue Schulfach mit einem Umfang von zwei Wochenstunden führte die Regierung am 1. September 2022 in der ersten Klasse der Allgemeinbildenden und der Technischen Oberschule ein. Ab der zweiten Klasse wird das Fach ab dem aktuellen Schuljahr mit einer Wochenstunde fortgesetzt.

»An den Schülern wird Gehirnwäsche verübt«, so die scharfe Kritik des Vizevorsitzenden der Polnischen Lehrergewerkschaft Krzysztof Baszczyński. »Das vorige Unterrichtsfach vermittelte eine zivilgesellschaftliche Haltung gegenüber den Problemen der heutigen Welt, es lehrte Toleranz, vermittelte, was eine Verfassung ist. Das gibt es nicht mehr. Die Schüler schließen ihr Wissen über die Gesellschaft in der achten Grundschulklasse ab«, erläuterte er.

Baszczyński machte auf das vom Bildungsministerium empfohlene Schulbuch für das Fach Geschichte und Gegenwart von Prof. Wojciech Roszkowski aufmerksam. »Die Lehrer wurden in eine außerordentlich schwierige Situation versetzt. Wie sollen sie mit einem Schulbuch unterrichten, das unwahre Inhalte beispielsweise über die Flugzeugkatastrophe von Smolensk, die als Anschlag dargestellt wird, enthält?« [Beim Flugzeugabsturz im russischen Smolensk 2010 kamen 96 Personen des öffentlichen Lebens, darunter Präsident Lech Kaczyński und seine Ehefrau, ums Leben, d. Übers.].

Das vom Bildungsministerium bevorzugte Roszkowski-Schulbuch wurde von Experten heftig kritisiert und löste im Sommer 2022 großes Aufsehen aus. Auch der zweite Band desselben Autors rief scharfe Kritik hervor. Als »Parteiagitation, nicht als Schulbuch« charakterisierte die Abgeordnete der liberalkonservativen PO Katarzyna Lubnauer die Publikation.

Der Autor stellt die Nachkriegsgeschichte Polens und der Welt in einer nationalkonservativen Version dar und tut nicht einmal so, als bemühe er sich um Objektivität. Ins Zentrum der publizistisch-essayistisch gehaltenen Narration rückt Roszkowski Johannes Paul II. und die katholische Kirche. Der Autor glorifiziert die PiS-Regierung der Jahre 2005 bis 2007 sowie den von ihr im Jahr 2015 ausgerufenen »guten Wandel« (poln. dobra zmiana), wobei er keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber anderen politischen Kräften macht.

Die Zeit der Regierungskoalition der Bürgerplattform und der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo LudowePSL) von 2007 bis 2015 wird als eine Reihe von Niederlagen und Misserfolgen präsentiert. Ihr Gegenpol war nach Meinung des Autors der damalige Präsident Lech Kaczyński. Die folgenden Zitate veranschaulichen die von Roszkowski in seinem Schulbuch vertretene Narration.

Roszkowski über den bösen Donald Tusk und den guten Lech Kaczyński

»So sehr Präsident Kaczyński Anhänger einer größeren Unabhängigkeit des Landes und der Bewahrung seiner unteilbaren Souveränität war, so sehr war Ministerpräsident Tusk nachgiebig sowohl gegenüber Russland als auch Deutschland eingestellt«. »Die Regierung lenkte die Aufmerksamkeit von den eigenen Versäumnissen und fehlenden Erfolgen ab, indem sie Streitereien auslöste, auf die Jarosław Kaczyński entschlossen antwortete«. Roszkowski zufolge war Tusk ein Anhänger der Verständigung mit Moskau »um jeden Preis«.

Mit Blick auf den Flugzeugabsturz von Smolensk schreibt Roszkowski: »Was die Ursachen der Katastrophe betrifft, herrschte von Beginn an ein großes Durcheinander. Zwar waren und sind viele Menschen überzeugt, das es zu einem Anschlag gekommen war, aber diese Version gewinnt erst in letzter Zeit an offizieller Bedeutung«.

Jarosław Kaczyński hätte die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 gewinnen können, wenn sein Wahlkampf nicht so ineffektiv gewesen wäre, der von Personen geführt worden sei, die kurz darauf die PiS verlassen hätten. Angesichts der aktuellen vollständigen Unterordnung der öffentlichen Medien unter das Regierungslager der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) ist der Abschnitt, der die PO für ihre »blitzschnelle Kontrolle« des öffentlichen Fernsehens während ihrer Regierungszeit kritisiert, der reine Hohn.

»Die Tusk-Regierung bemühte sich, die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern, aber trotz freundschaftlicher Gesten und häufiger Besuche beider Seiten kann der Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 oder die wiederholt in den deutschen Medien verwendete Bezeichnung ›polnische Konzentrationslager‹ im Kontext des Zweiten Weltkrieges, die eine bewusste Geschichtsverfälschung ist, die Geringschätzung gegenüber Polen bestätigen,« heißt es im Schulbuch.

Der Sieg Andrzej Dudas in den Präsidentschaftswahlen 2015 ist für Roszkowski ein »Neuanfang« und die Parlamentswahlen im Herbst 2015 der Beginn einer neuen Ära in der polnischen Politik. Die Regierungskoalition der Vereinigten Rechten habe ihre Wahlversprechen wirksam umgesetzt, indem sie das Kindergeld »500+« und andere Sozialprogramme einführte und das Renteneintrittsalter absenkte.

Als Skandal bewertet der Autor das vom scheidenden Präsidenten Bronisław Komorowski unterzeichnete Gesetz über die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung, ohne es dem Verfassungstribunal vorgelegt zu haben, »obwohl Bischöfe und katholische Milieus dagegen protestiert hatten«.

Eines der Leitmotive des Schulbuches ist die Kritik an der liberalen Demokratie, die dem Autor in der Praxis zufolge »weder allzu liberal noch allzu demokratisch« sei. Polen verteidige sich vor der modischen »Liberalisierung« der Demokratie. Als gemeinsamer Nenner der kommunistischen und der liberal-demokratischen Ideologie werde manchmal die Überzeugung geäußert, man müsse den »Fortschritt« realisieren, wobei auf die Demokratie keine Rücksicht genommen werde, schreibt Roszkowski.

Haben die Lehrer eine Wahl?

Roszkowskis Publikation ist nicht das einzige Schulbuch für das Fach Geschichte und Gegenwart. Die Lehrer haben noch zwei weitere Bücher zur Auswahl. Allerdings unternahm das Bildungsressort alles, um sicherzustellen, dass das Buch des regierungsnahen Historikers einen Sonderstatus erhielt.

Band 1 des Lehrbuches wurde 2022 als erster für den Schulgebrauch freigegeben, während das Schicksal des konkurrierenden Schulbuches, herausgegeben vom WSiP-Verlag, lange Zeit unsicher war. Roszkowskis Buch wurde von einer propagandaähnlichen Werbekampagne begleitet. Auf einer Konferenz für mehrere Hundert Lehrer im Juni 2022 verglich Bildungsminister Czarnek Roszkowski mit den »verfemten Soldaten«, denn »so wie diese bezahlt er für die Wahrheit«.

Gespräche mit Lehrern zeigen, dass die Mehrheit nicht das von der Regierung präferierte Buch nutzt. Allerdings fehlen stichhaltige Daten zur Bestätigung dieser These. Die Akteure der Bewegung Freie Schule (Wolna Szkoła) fragten im September 2022 Lehrer in 2.300 weiterführenden Schulen von insgesamt ca. 6.600 bestehenden Einrichtungen. Wie die Gazeta Wyborcza berichtete, setzten damals nur 53 Schulen das kontroverse Lehrbuch von Roszkowski ein und mehr als 500 Schulen hatten sich für das konkurrierende Werk des WSiP-Verlags entschieden.

Der Vizechef der Polnischen Lehrergewerkschaft Baszczyński glaubt, in den Großstädten gebe es kein Problem mit der freien Wahl des Lehrbuches. »In kleinen Orten sieht das anders aus. Kurz gesagt, die Entscheidung, ein anderes Schulbuch einzusetzen, wird schlecht angesehen«, meint er.

Das überladene Kerncurriculum

Das vielleicht noch größere Problem als das Lehrbuch von Roszkowski ist das verpflichtende Kerncurriculum. Nach Ansicht von Baszczyński ist es »überladen« und »veraltet«. »Das neue Kerncurriculum ist deutlich überfrachtet und wirft das ganze System um viele Jahre zurück.« Es sei »aufs Pauken ausgerichtet und nicht auf Verständnis und Suche nach Wahrheit«. »Wir sind in die Zeit vor 1990 zurückgekehrt«, so sein Urteil.

Ein eigenes, aber nicht weniger wichtiges Problem ist die materielle Situation der polnischen Lehrer. Die geringe Attraktivität des Berufs, trotz der längeren Ferien, hat die Abwanderung – insbesondere junger und gut ausgebildeter – Lehrer in andere Berufe zur Folge.

Aus Schätzungen der Polnischen Lehrergewerkschaft ergibt sich, dass in den polnischen Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen 550.000 Pädagogen arbeiten. Vor Beginn des neuen Schuljahres im September 2023 fehlten ca. 30.000 Lehrer. Um die negativen Folgen der unbesetzten Stellen abzumildern, bewilligten die Behörden den Lehrern, über das anderthalbfache Arbeitspensum [eine ganze Stelle umfasst 18 Unterrichtsstunden, d. Übers.] hinaus mehr zu arbeiten. »Das heißt, die Regierung ist sich darüber im Klaren, dass sie in Kürze niemanden mehr haben wird, der unterrichtet«, kommentiert Baszczyński. Seiner Meinung nach wird sich die Mehrarbeit negativ sowohl auf die Lehrer als auch auf die Schüler auswirken. »Die Lehrer stimmen dem zu, weil das einen höheren Verdienst bedeutet, aber sie werden weniger Zeit für die Kinder und Jugendlichen haben«.

Lehrermangel und Gehaltsforderungen

Seiner Beobachtung nach gibt es für die Tätigkeit an der Schule keine Arbeitswilligen. »Der Lehrer hat am Anfang seiner Berufstätigkeit zwei Jahre lang kein geregeltes Arbeitsverhältnis, er arbeitet für eine befristete Zeit für 3.690 Zloty brutto (ca. 826 Euro)«, sagt Baszczyński. Dieses Gehalt ist für einen Informatiker, Philologen oder Mathematiker unattraktiv. In diesem Jahr betrug die Gehaltserhöhung sieben Prozent.

Unter Vermittlung der Oppositionsfraktionen im Parlament hat die Polnische Lehrergewerkschaft am 30. März 2023 einen Gesetzesentwurf in den Sejm eingebracht, der es erlaubt, die Gehälter um 20 Prozent anzuheben. Allerdings erhielt der Entwurf bisher nicht einmal eine Registrierungsnummer. »Die finanzielle Situation ist sehr schlecht«, stellt Baszczyński fest. Informationen der Bildungssektion der Gewerkschaft Solidarność zufolge können die Lehrer mit einer zehnprozentigen Gehaltserhöhung ab September 2023 rechnen.

Die Ausgaben der öffentlichen Hand für Bildung in Polen fielen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 6,1 Prozent im Jahr 2005 auf 4,9 Prozent im Jahr 2021. Polen ist eines der wenigen EU-Länder mit deutlich sinkendem Trend bei den Bildungsausgaben. Die Bildungssubventionen für das Jahr 2023 betragen 64,4 Milliarden Zloty (ca. 14,4 Mrd. Euro) und liegen damit um 11,1 Milliarden Zloty (ca. 2,5 Mrd. Euro) höher als 2022. Die Polnische Lehrergewerkschaft stellt fest, dass die Regierungssubventionen für die Bildung zwar in absoluten Zahlen steigen, im Verhältnis zum BIP jedoch sinken.

Lehrer, die anonym bleiben wollen, sprechen von Unterschieden in der Berufsgruppe. In Warschau (Warszawa) und anderen Großstädten verdienen Lehrer dank Mehrstunden und Nachhilfestunden nicht schlecht. In den kleineren Städten haben sie Angst, die Arbeit zu verlieren.

Das polnische Bildungssystem hat außerdem ein demografisches Problem. Das Durchschnittsalter der Lehrerschaft in Polen liegt zurzeit bei ca. 47 Jahren.

Die Polnische Lehrergewerkschaft hat am 1. September eine Protestkundgebung vor dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft organisiert. Unter dem Motto »Zivilgesellschaftliche Lektion. Thema: Bildung ist das Wichtigste« kamen mehr als 4.000 Lehrer aus ganz Polen zusammen.

»Wir sind nicht zum ersten Mal hierhergekommen und wir werden weiter hierherkommen, bis das Ministerium anerkennt, dass Bildung das Wichtigste ist. Und gute Bildung beginnt bei guten Lehrern«, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft, Sławomir Broniarz. Zurzeit seien in den Schulen ca. 26.000 Stellen unbesetzt. Seiner Meinung nach hat sich das Ministerium für Bildung und Wissenschaft in ein »Ministerium für Propaganda und Desinformation« gewandelt.

Die Teilnehmer des Protestes übergaben dem Vertreter des Ministeriums einen Forderungskatalog. Sie verlangen eine 20-prozentige Gehaltserhöhung, die Verschlankung des Kerncurriculums und die Aufstockung der Bildungsausgaben. Bildungsminister Czarnek traf sich nicht mit den Protestierenden, da er in Lublin war, seinem Wahlkreis für die Parlamentswahlen im Oktober.

Die Kluft zwischen der Stimmung und den Erwartungen der Lehrer und der von Selbstzufriedenheit gekennzeichneten Haltung der Ressortleitung zeigte eindrücklich die Pressekonferenz von Minister Czarnek zwei Tage vor der Protestkundgebung. »Wir beginnen also am 4. September das neue Schuljahr voller Optimismus, dass es ein sehr erfolgreiches werden wird, sowohl für die Schüler als auch für die Eltern, als auch für die Lehrer«, ließ er verlauten.

Die Lehrer erhalten eine einmalige Sonderzahlung in Höhe von 1.125 Zloty (ca. 250 Euro) aus Anlass des 250-jährigen Jubiläums der Kommission für Nationale Bildung. Die Schüler der 4. Klasse erhalten kostenlose Laptops und die Lehrer Gutscheine in Höhe von 2.500 Zloty (ca. 560 Euro) für den Kauf eines Rechners. Das Jahr 2024 wird »ein weiteres Jahr mit einem Rekordanstieg der Bildungsausgaben«, kündigte Czarnek an. Er teilte mit, dass in den weiterführenden Schulen Geschäft und Verwaltung als neues Schulfach eingeführt wird, das das Fach Grundlagen des Unternehmertums ablöst.

Der Lehrer von Ministerpräsident Morawiecki will Abgeordneter werden

Sollte es nach den Parlamentswahlen im Oktober 2023 zu einem Machtwechsel kommen, erwarte die Polnische Lehrergewerkschaft von dem neuen Minister »Normalität, Vorhersagbarkeit, Wertschätzung den Lehrern gegenüber, Änderungen im Kerncurriculum und reales Geld für die Tätigkeit der Schulen«, sagt Baszczyński.

Vielleicht wird einer der Abgeordneten, die über die Zukunft der Bildung entscheiden, Marek Jędrychowski sein, Lehrer für Geschichte und Gegenwart und zuvor Gesellschaftskunde an der IX. Allgemeinbildenden Oberschule in Breslau (Wrocław), ehemaliger Lehrer von Ministerpräsident Morawiecki, Kandidat für den Sejm auf der Liste des Parteienbündnisses Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO).

»Das Einstiegsgehalt eines Lehrers liegt zurzeit 90 Zloty (ca. 20 Euro) über dem Mindestlohn. Das höchste Gehalt für einen examinierten Lehrer beträgt 4.550 Zloty brutto (ca. 1.018 Euro). Vielleicht fehlen deshalb mehr als 20.000 Lehrer in Polen«, sagt Jędrychowski im Gespräch mit dem Internetportal Onet. »Die Lehrer kommen, aber wenn sie die Gehälter sehen, machen sie auf dem Absatz kehrt und laufen davon. Ich weiß, dass der Staat verdammt verschuldet ist, der Prozess, etwas zu verändern, wird also dauern. Aber ein Lehrer sollte am Anfang 5.000 Zloty (ca. 1.119 Euro) verdienen«, unterstreicht er.

»Das Lehrprogramm sollte reduziert werden. Es umfasst zu viele Themen, die durchgenommen werden sollen. Aber bei einem solchen Wettlauf hat der Lehrer keine Zeit, auf den Stoff zurückzukommen, der den Schülern Probleme bereitet«, meint Jędrychowski.

Die Forderungen des Pädagogen, der auf den ersten Seiten der Zeitungen stand, entsprechen den Forderungen, die vor den Parlamentswahlen im Herbst von der Koalition SOS für die Bildung (Koalicja SOS dla Edukacji) aufgestellt wurden, einer Plattform, die 40 Nichtregierungsorganisationen aus dem Bildungsbereich zusammenführt.

Die Autoren der Forderungen meinen, dass es sich um Rettungsmaßnahmen handelt, die innerhalb von 100 Tagen umgesetzt werden können. Sie verlangen nicht nur höhere Ausgaben im Bildungsbereich und die Anhebung der Lehrergehälter (die Einstiegsgehälter der Lehrer sind die niedrigsten in der EU). Sie fordern außerdem die Entpolitisierung der Funktion des Leiters der Schulaufsichtsbehörde, der zurzeit auf Antrag des Woiwoden vom Bildungsminister ernannt wird. Zu diesem Zweck solle das Verbot ausgesprochen werden, dass Personen, die einer politischen Partei angehören, dieses Amt ausüben dürfen. Im Falle der Verletzung der politischen Neutralität solle das Verwaltungsgericht den Behördenleiter abberufen können.

Außerdem spricht sich die Koalition SOS für die Bildung dafür aus, das übermäßig ausgebaute Kerncurriculum zu verschlanken und bestimmte Unterrichtsinhalte und Anforderungen zu beschränken, um »das Gleichgewicht zwischen der Quantität der Wissensinhalte und den Fertigkeiten und Fähigkeiten, die die Schule des 21. Jahrhunderts entwickeln soll, zu gewährleisten«. Des Weiteren sollen auch die Rechte der Schüler gestärkt werden.

Ob die Pläne verwirklicht werden, hängt vor allem vom Ergebnis der Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 ab.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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