Polen wählt Europa: der schwierige Neuanfang nach dem Wahlsieg der Opposition 2023

Von Stefan Garsztecki (Technische Universität Chemnitz)

Zusammenfassung
Die polnischen Parlaments- und Senatswahlen vom 15. Oktober 2023 haben mit dem Sieg der Oppositionsparteien die politische Landschaft Polens auf den Kopf gestellt. Nach einem sehr konfrontativen Wahlkampf hat die Opposition ihren Wahlsieg vor allem einer großen Mobilisierung ihrer urbanen Wählerschaft zu verdanken. Die Bildung einer neuen Regierung dürfte sich jedoch etwas verzögern, da dem Präsidenten bei der Regierungsbildung eine entscheidende Rolle zukommt und er wohl zunächst – entgegen dem Wahlergebnis – einen Politiker von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Das dürfte die Bildung einer Regierung aus den bisherigen Oppositionsparteien aber nur verzögern, nicht verhindern. Die neue Regierung wird von Beginn an mit gewaltigen Aufgaben konfrontiert werden. In der Außenpolitik muss das Verhältnis zur Europäischen Union gekittet werden, in der Innenpolitik müssen Reformen der PiS rückgängig gemacht werden. Gerade im Bereich des Justizwesens ist ein Erfolg entscheidend für die Auszahlung von EU-Mitteln an Warschau.

Konfrontativer Wahlkampf, kontroverse Themen

Schon vor dem offiziellen Ergebnis der Wahlen zu Sejm und Senat am 15. Oktober 2023 wurde in vielen polnischen Medien vom schmutzigsten Wahlkampf der Dritten Polnischen Republik seit 1989 gesprochen. Der Wahlsieg der oppositionellen Parteienbündnisse Bürgerkoalition (Koalicja ObywatelskaKO) und Dritter Weg (Trzecia Droga) und der Partei Neue Linke (Nowa Lewica) mit zusammen 53,1 Prozent der Stimmen und 248 von 460 Mandaten zeigte sowohl im Stil als auch bei den zentralen Themen einmal mehr, dass Polen ein tief gespaltenes Land ist. Dabei hat sich allerdings eine klare Mehrheit gegen das von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) seit deren Wahlsieg im Jahr 2015 entwickelte Modell einer illiberalen Demokratie mit gelenkten staatlichen und zum Teil auch gelenkten privaten Medien, einer von der Exekutive kontrollierten Justiz, einer affirmativen Geschichtspolitik und einer distanzierten Haltung gegenüber der EU, die in den Augen der Parteistrategen der PiS letztlich deutsche Hegemonievorstellungen umsetzt, ausgesprochen. Anders als bei den Parlaments- und Senatswahlen in den Jahren 2015 und 2019 haben soziale Themen, welche die PiS in den letzten Jahren über eine Erhöhung des Kindergeldes und eine Absenkung des Rentenalters stark gemacht hatte, offenbar nur eine geringe Rolle gespielt.

Im Wahlkampf setzten die Parteien dabei auf unterschiedliche Themen. Die Regierungspartei PiS konzentrierte sich im Wesentlichen auf einen Abwehrdiskurs gegen eine Rückkehr des ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk (KO) und am Schluss der Wahlkampagne in ihren acht konkreten Vorschlägen erneut auf soziale Fragen. Deutlich in den Vordergrund gestellt wurde aber sowohl in Wahlspots als auch in den regierungsnahen Medien ein Schreckgespenst in Gestalt von Donald Tusk. Ohne auf den jeweiligen Kontext einzugehen, wurden ihm soziale Versäumnisse wie die hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Stundenlöhne oder die Erhöhung des Renteneintrittsalters vorgeworfen. Zudem wurde ihm auch ein Ausverkauf nationaler Interessen unterstellt, da er letztlich, so der Vorwurf, auf Anweisung der EU, sprich Deutschlands agiere. Eine ab Juni 2023 von dem PiS-nahen Journalisten Michał Rachon und dem konservativen Historiker Sławomir Cenckiewicz ausgestrahlte mehrteilige Dokumentation unter dem Titel Reset untersuchte in 16 Folgen unter anderem die Russlandpolitik von Donald Tusk und Radosław Sikorski, Außenminister in der Regierung Tusk, und warf ihnen einen Ausverkauf polnischer Interessen vor. Auch das vom Parlament mit PiS-Mehrheit am 14. April 2023 verabschiedete Lex Tusk, offiziell mit der Bezeichnung »Gesetz über eine staatliche Kommission zur Untersuchung des russischen Einflusses auf die innere Sicherheit der Republik Polen in den Jahren 2007 bis 2022« war ganz offensichtlich gegen Tusk gerichtet und sah eine Bestrafung durch eine aus Parlamentariern zusammengesetzte Kommission vor. Maximal sollte so das Verbot der Ausübung eines öffentlichen Amtes für zehn Jahre drohen. Nach Protesten der EU und der USA wurde das Gesetz, das Präsident Andrzej Duda im Mai unterschrieben hatte, im Juni novelliert und der Ausschluss von öffentlichen Ämtern gestrichen. Zudem sollen nun nicht mehr Parlamentarier in der Kommission sitzen. Die Einrichtung der Kommission erfolgte zwar noch vor den Parlamentswahlen, eine erste Sitzung fand allerdings nicht mehr statt. Zum Vorsitzenden der neunköpfigen Kommission wurde der Historiker Sławomir Cenckiewicz gewählt. Ihr Schicksal ist angesichts des Wahlausgangs aber mehr als ungewiss. Zum Wahlkampf gehört auch die Berichterstattung im Rahmen der Hauptnachrichtensendung Wiadomości im regierungsnahen Fernsehen zur besten Sendezeit um 19:30 Uhr. Nahezu täglich wurden hier Angriffe gegen Tusk inszeniert, alte Aussagen von ihm aus dem Kontext gerissen und er wurde als Gefahr für die Sicherheit Polens dargestellt. Ebenso regelmäßig wurde, gleichfalls ohne Kontext, über die Absichten Berlins berichtet, die EU für eigene Interessen einzusetzen, und insbesondere die Migrationspolitik der Bundesregierung wurde kritisiert. Da Tusk hier regelmäßig als Erfüllungsgehilfe Berlins dargestellt wurde, hatte dies zugleich innenpolitische Bedeutung. Als Lösung wurde, und dies war ein weiterer Schwerpunkt des Wahlkampfes der PiS, die Verteidigung der nationalen Souveränität in den Mittelpunkt gestellt und die EU beinahe als ebenso große Gefahr für die polnische Unabhängigkeit skizziert wie die Russische Föderation. Das Hervorheben der sozialpolitischen Errungenschaften und Ansätze der PiS in den letzten Wochen vor der Wahl sollte die eigenen Wähler dann noch weiter mobilisieren.

Die drei Oppositionsparteien KO, Dritter Weg, ein Zusammenschluss der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo LudowePSL) und der Partei Polen 2050 (Polska 2050) des Journalisten Szymon Hołownia, und die Neue Linke setzten naturgemäß unterschiedliche Akzente in ihrem Wahlkampf. Der gemeinsame Nenner war die Ablösung der PiS, ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur europäischen Integration sowie eine modernere Familienpolitik. Dabei wurden auch soziale Forderungen wie ein Inflationsausgleich für Rentner (KO), keine Steuererhöhung während der kommenden Wahlperiode (Dritter Weg) oder ein höherer Mindestlohn (Neue Linke), um nur einige Beispiele zu nennen, in den Katalog der Wahlversprechen aufgenommen. Das von Donald Tusk benutzte Schlagwort des »Sieges des Guten über das Böse« (zwycięstwo dobra nad złem) belegt zugleich, dass auch von oppositioneller Seite der Wahlkampf mit aller Härte geführt wurde.

Ein Thema, das den Wahlkampf mit bestimmte, war sicherlich die Hoffnung unterschiedlicher Wählergruppen, dass mit einem Wahlsieg der Opposition der weitere Durchmarsch der PiS gestoppt werden könnte, verknüpft mit der Hoffnung, viele der Veränderungen wieder rückgängig zu machen. Eine Umfrage der linksliberalen Wochenzeitung Polityka, die vom Meinungsforschungsinstitut Opinia24 wenige Tage vor den Wahlen durchgeführt wurde, offenbarte, dass 61 Prozent der Befragten sich eine Ablösung der Regierung wünschten, während sich nur 26 Prozent für deren Verbleib im Amt aussprachen. Eine Wechselstimmung war also gegeben. Großen Veränderungsbedarf sahen die Befragten auch beim öffentlichen Fernsehen, dessen parteiische Berichterstattung in den Wiadomości es seit Jahren nur noch für PiS-Anhänger als Informationsquelle akzeptabel macht, in den Beziehungen zur EU, wo sich 46 Prozent für eine Beendigung aller Konflikte mit der EU aussprachen, während 39 Prozent den Kampf um nationale Souveränität unterstützten, und schließlich im Justizwesen. Hier befürworteten 43 Prozent eine Aufhebung der von der PiS durchgeführten Justizreformen, während zehn Prozent deren Erhalt ohne weitere Reformen bevorzugten und 19 Prozent den von der PiS begonnenen Weg fortsetzen wollten. Diese Daten sind aber nicht nur Anzeichen für die Wechselstimmung, die sich letztlich auch im Wahlergebnis niedergeschlagen hat, sondern sie formulieren auch eine Erwartungshaltung an die neue Regierung. Hinzu kommt sicherlich auch die Hoffnung vieler Frauen auf eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts, da das Verfassungstribunal (Trybunał KonstytucyjnyTK) in seiner Entscheidung vom Oktober 2020 den Schwangerschaftsabbruch praktisch verboten hat und ihn nur noch bei Gefahr für das Leben der Frau oder im Fall, dass die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist, erlaubt.

Das Wahlergebnis

Das Wahlergebnis war dann angesichts des Trommelfeuers in den regierungskonformen Medien gegen Donald Tusk in seiner Klarheit doch überraschend. Zwar wurde die PiS erwartungsgemäß mit 35,38 Prozent und 194 Mandaten erneut die stärkste politische Kraft im Sejm, aber ohne eigene Mehrheit. Auf der Liste der PiS trat erneut die Partei Souveränes Polen (Suwerenna Polska) um den bisherigen Justizminister Zbigniew Ziobro an. Sicherlich mit Blick auf den Wahlkampf und den eigenen EU-kritischen Akzent war im Mai 2023 die Umbenennung des bisherigen Parteinamen Solidarisches Polen (Solidarna Polska) in Souveränes Polen erfolgt. Sie konnte im Gegensatz zur PiS ihre Mandatszahl behaupten und zieht erneut mit 18 Abgeordneten unter den 194 PiS-Abgeordneten in den Sejm ein. Die PiS hat gegenüber dem Wahlergebnis von 2019 deutlich verloren, als sie 43,59 Prozent der Stimmen und 235 Mandate hatte erringen können. Davon entfielen seinerzeit 18 auf die Partei von Ziobro und noch einmal 18 auf die Partei Verständigung (Porozumienie) von Jarosław Gowin. Diese Partei hat sich im August 2021 der Polnischen Koalition (Koalicja Polska) angeschlossen, einem Projekt der Bauernpartei und einiger kleinerer Splitterparteien. Heute ist die in Verständigung für Demokratie (Porozumienie dla Demokracji) umbenannte Partei jedoch in der Bedeutungslosigkeit versunken und Gowin selbst, zwischenzeitlich Vizepremier (11/2015–4/2020, 10/2020–8/2021), hat für den neuen Sejm nicht mehr kandidiert.

Zweite Kraft wurde bei den Wahlen die Bürgerkoalition mit 30,7 Prozent, was 157 Mandaten entspricht. Bei der KO handelt es sich um einen Zusammenschluss von vier Parteien: Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO), Die Moderne (Nowoczesna), Initiative Polen (Inicjatywa Polska) und Die Grünen (Zieloni). Die Partei oszilliert um die politische Mitte mit – je nach Partei – Ausschlägen nach links oder rechts. Bis auf die Bürgerplattform sind allerdings alle Parteien im Bereich unter einem Prozent angesiedelt, so dass der Zusammenschluss lediglich eine Konsolidierung in der Mitte darstellt. Zu Beginn war Die Moderne, eine Abspaltung der Bürgerplattform, deutlich stärker, aber heute könnte sie selbständig kaum politisch überleben. Dominierende politische Personen sind Donald Tusk, von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates und seit Herbst 2021 erneut Vorsitzender der Bürgerplattform, und Rafał Trzaskowski, Stadtpräsident von Warschau, dem nachgesagt wird, 2025 einen erneuten Anlauf zum Amt des Staatspräsidenten zu wagen, nachdem er die Wahl 2020 gegen den Amtsinhaber Andrzej Duda knapp verloren hat. Donald Tusk war von 2007 bis 2014 bereits Ministerpräsident Polens und hat nun gute Chancen, erneut Ministerpräsident des Landes an der Spitze einer Dreierkoalition zu werden – und das im reifen Alter von 66 Jahren.

Dritte Kraft wurde überraschend das Zweierbündnis Dritter Weg um den PSL-Vorsitzenden Władysław Kosiniak-Kamysz und den Journalisten Szymon Hołownia, Chef von Polen 2050. Der Dritte Weg wurde im April 2023 als Alternative zum scharfen Konflikt zwischen der PiS und der KO gegründet und das Wahlergebnis von 14,4 Prozent der Stimmen und 65 Mandaten war insofern eine Überraschung, als diese Allianz in keiner Umfrage zuvor eine derart hohe Zustimmung hatte erzielen können. Vielleicht war der Plan, das Steuersystem zu vereinfachen oder eine Million Wohnungen in den nächsten vier Jahren zu bauen, für die Wähler attraktiv, aber wahrscheinlich haben die Wähler den Dritten Weg auch als Alternative zum Konflikt KO versus PiS gesehen.

Schwächer als erwartet, zumindest nach den Umfragen, schnitt die Neue Linke mit 8,61 Prozent der Stimmen und 26 Mandaten ab. Sie hat damit gegenüber der letzten Wahl ein Minus von fast vier Prozent zu verzeichnen (2019: 12,56 Prozent und 49 Mandate). Bei dem von der KO am 1. Oktober 2023 organisierten »Marsch der eine Million Herzen« durch Warschau schloss sich die Neue Linke an, so dass sie vielleicht als nicht eigenständig genug wahrgenommen wurde.

Schließlich wird im neuen Sejm auch die Konföderation (Konfederacja) vertreten sein, ein Zusammenschluss rechter und in Teilen rechtsextremer Parteien. Das Wahlergebnis von 7,16 Prozent und 18 Mandaten blieb weit hinter den eigenen Erwartungen und vielen Umfragen des Sommers zurück, wenn es auch etwas besser ausfiel als das Ergebnis von 2019 mit 6,81 Prozent und elf Mandaten. Anders als noch 2019 hat es ein Vertreter der deutschen Minderheit nicht ins Parlament geschafft.

Auch die Senatswahlen waren für die Opposition, die bereits in den letzten Wahlen den Senat mit knapper Mehrheit besetzen konnte, erfolgreich. Im sogenannten Senatspakt hatten die drei Oppositionsparteien KO, Dritter Weg und Neue Linke beschlossen, sich gegenseitig keine Konkurrenz bei den Wahlen zum Senat zu machen und in jedem Wahlbezirk nur jeweils einen Kandidaten aufzustellen. Der Senatspakt konnte 66 Senatorensitze für sich gewinnen, davon 41 für die KO, elf für den Dritten Weg, neun für die Neue Linke und fünf für parteiungebundene Vertreter der regionalen Selbstverwaltung, die sich dem Senatspakt angeschlossen haben. Auf die PiS entfielen insgesamt 34 Senatssitze, ein Minus von 14 Mandaten im Vergleich zu 2019.

Bei genauerer Analyse des Wahlergebnisses werden auch erste Erklärungen für den klaren Sieg der Opposition geliefert. So ist es den Oppositionsparteien mit ihrer im Wesentlichen urbanen Wählerschaft besser gelungen, ihre Wähler an die Wahlurne zu bringen. Die Wahlbeteiligung war mit 74,38 Prozent bei den Wahlen zum Sejm respektive 74,31 Prozent bei den Wahlen zum Senat die höchste nach 1989. Allerdings ist das Stadt – Landgefälle beträchtlich. In den Städten mit mehr als 250.000 Einwohnern lag die Wahlbeteiligung zum Teil über 80 Prozent, während sie in den Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern unter 70 Prozent lag. Dabei sind die Städte das Wahlmilieu für die KO, während die PiS in der Vergangenheit traditionell auf dem Land und in kleineren Gemeinden überdurchschnittlich abgeschnitten hat. Der Bürgerkoalition ist es also in weit größerem Maße gelungen, ihre Wähler zu mobilisieren. Nach den vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos erhobenen late exit polls erfuhr die PiS auf dem Dorf eine Zustimmung von 47,6 Prozent, die KO von 21,2 Prozent. In den Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern erhielt die KO ebenfalls nach den late exit polls hingegen 42,9 Prozent der Stimmen, die PiS aber nur 21,1 Prozent. Die Wahl wurde für die PiS also in den Städten und durch eine zu geringe Mobilisierung der eigenen Wähler verloren. Zudem haben sich gerade die jungen Wähler von der PiS abgewandt. In der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren erhielt die KO nach den late exit polls 27,6 Prozent der Stimmen, die PiS aber nur 14,4 Prozent, weniger als die Konföderation mit 17,8 Prozent, die gerade bei jungen Wählern populär ist. Auch die Unterschiede im Wahlverhalten der unterschiedlichen Berufsgruppen sind beträchtlich. Bei Arbeitslosen (45,2 Prozent), Arbeitern (49,6 Prozent), Rentnern (53,4 Prozent) und Bauern (66,6 Prozent) war die PiS nach den late exit polls deutlich die stärkste Partei, holte aber bei Schülern und Studenten nur elf Prozent, während hier die KO mit 31 Prozent in etwa das Landesergebnis erzielte.

Neben dem scharf geführten Wahlkampf gegen Tusk, die EU, Deutschland und gegen Zuwanderung erhoffte sich die PiS auch eine zusätzliche Mobilisierung durch ein zum Wahltag angesetztes Referendum, das per Parlamentsmehrheit im August beschlossen wurde. In vier tendenziös verfassten Fragen sollten die Bürger darüber entscheiden, ob sie erstens einen Ausverkauf des Nationaleigentums an das Ausland befürworten, ob sie zweitens einer Anhebung des Renteneintrittsalters zustimmen, ob sie drittens den Abbau des Grenzzaunes an der polnisch-belarussischen Grenz wollen und ob sie viertens die Aufnahme Tausender illegaler Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika einschließlich eines verpflichtenden EU-Umsiedlungsplanes befürworten. Erwartungsgemäß wurden alle diese Fragen mit deutlich über 90 Prozent negativ beschieden, aber die Beteiligung betrug nur 40,91 Prozent, so dass das Referendum keine Folgen hat. Die Opposition hatte zum Boykott aufgerufen, das heißt, die Referendumskarten gar nicht erst anzunehmen.

Regierungsbildung und zentrale Aufgaben

Die Opposition hat die Parlaments- und Senatswahlen mit insgesamt 248 Mandaten und zusammen 53,71 Prozent der abgegebenen Stimmen zur Sejmwahl klar gewonnen. Der daraus resultierende Auftrag zur Regierungsbildung lässt sich allerdings nicht ohne Weiteres umsetzen, da wir es seit der Veröffentlichung des Wahlergebnisses am 17. Oktober faktisch mit einer Cohabitation zu tun haben. Der aktuelle Präsident, Andrzej Duda, ist ein ehemaliger PiS-Politiker und seine zweite Amtszeit endet erst im Sommer 2025. Bisher hat er sich, trotz verschiedener Vermittlungsversuche bei komplizierten Gesetzesverfahren wie beispielsweise der Justizreform, als treuer Verbündeter der PiS erwiesen – wenn auch im Ton in der Regel gemäßigt. Das hat ihm in Warschau den Spitznamen Kugelschreiber (długopis) eingebracht, weil er in der Vergangenheit strittige Gesetze oder auch Richterernennungen im Eilverfahren unterschrieb. Die Verfassung verleiht dem Präsidenten jedoch in einem semipräsidentiellen System erheblich mehr Macht, als sie beispielsweise der deutsche Bundespräsident innehat. Insbesondere bei der Regierungsbildung und im Gesetzgebungsverfahren kommt dem Präsidenten eine bedeutende Rolle zu.

Das Verfahren der Regierungsbildung ist dabei nach Artikel 154 der polnischen Verfassung von 1997 in drei mögliche Schritte gegliedert. Der Präsident hat zunächst vier Wochen Zeit, den neu gewählten Sejm und Senat einzuberufen. Aufgrund des polnischen Nationalfeiertags am 11. November wird dieser Zeitraum, wie aus der Präsidialkanzlei verlautete, nahezu ganz ausgeschöpft und die erste Sitzung der beiden Kammern wohl für den 13. oder 14. November anberaumt werden. Der Präsident designiert dann einen Ministerpräsidenten, der dem Präsidenten sein Kabinett vorstellt und von diesem innerhalb von 14 Tagen ab der konstituierenden Sitzung des Sejm zum Ministerpräsidenten ernannt wird. Nun hat der ernannte Ministerpräsident wiederum 14 Tage Zeit, sein Exposé im Sejm vorzustellen und eine Mehrheit hinter sich zu bringen. Wen der Präsident zum Ministerpräsidenten designiert, ist nach der Verfassung nicht ganz eindeutig. Enge Mitarbeiter aus der Präsidialkanzlei und auch Vertreter der PiS suggerierten in den letzten Tagen, dass dies natürlich nur ein Vertreter der stärksten Partei, also der PiS, sein könne. Bereits am Montag nach der Wahl gab es entsprechende Angebote an die PSL, über die Bildung einer Koalitionsregierung zu verhandeln. Von den 65 Mandaten des Dritten Weges entfallen 32 auf die PSL und 33 auf Polen 2050. Vor den Wahlen hatte man vereinbart, im Sejm getrennte Fraktionen zu gründen, aber es ist gegenwärtig unklar, ob es wirklich dazu kommen wird. Der Wahlerfolg vereint zweifellos. Doch auch mit der PSL hätte die PiS keine Mehrheit im Sejm, und zudem hat die PSL das Angebot umgehend abgelehnt. Dennoch wird erwartet, dass Präsident Duda einen PiS-Vertreter zum Ministerpräsidenten designiert, obgleich das nicht unbedingt der bisherige Regierungschef Mateusz Morawiecki sein muss, der innerhalb der PiS für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht wird. Neuer PiS-Fraktionschef ist jedenfalls der bisherige Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak geworden, der sich wohl bereits für die Nachfolge des 74-jährigen Jarosław Kaczyński in Stellung bringt. Dieser wirkte im Wahlkampf sichtlich müde und ob er seine politische Karriere fortsetzen wird, ist noch unklar. Natürlich könnte Präsident Duda auch Donald Tusk, auf den sich die Oppositionsparteien geeinigt haben, zum Ministerpräsidenten designieren, da er eine parlamentarische Mehrheit hinter sich weiß. Aber in Warschau wird erwartet, dass der Präsident, der in den nächsten Tagen Gespräche mit allen Parteien führen wird, einen Vertreter der stärksten Partei designieren wird.

Dies würde eine Verzögerung bei der Bildung einer neuen Regierung von etwa vier Wochen, gerechnet ab der konstituierenden Sitzung des Sejm, nach sich ziehen. Anschließend geht die Initiative auf den Sejm über, der wiederum 14 Tage Zeit hat, einen Ministerpräsidenten mit absoluter Mehrheit bei einer Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten zu wählen, den der Präsident dann ernennen muss. Es wird damit in Warschau erwartet, dass vor Weihnachten eine neue Regierung aus den bisherigen Oppositionsparteien KO, Dritter Weg und Neue Linke entstehen wird.

Sollte dies wider Erwarten nicht gelingen, ginge die Initiative wieder auf den Präsidenten über, der dann nach Artikel 155 einen Ministerpräsidenten und dessen Regierung berufen würde, die 14 Tage Zeit hätte, eine einfache Mehrheit im Sejm zu finden. Gelingt auch das nicht, kann der Präsident den Sejm und damit auch den Senat auflösen und vorgezogene Wahlen ausschreiben.

Klar ist auch, dass bis zur Bestallung einer neuen Regierung die bisherige Regierung geschäftsführend im Amt bleibt, was ob der Länge des Prozedere bei einigen Oppositionsvertretern Ängste nährt, dass nun Akten in den Ministerien vernichtet würden.

Unabhängig von der Dauer des Verfahrens scheint jedoch festzustehen, dass eine neue Regierung aus Oppositionsvertretern noch vor Weihnachten ihre Amtsgeschäfte aufnehmen wird, wobei alle Gespräche über ein Regierungsprogramm und die Besetzung der Posten und Ministerien noch ausstehen. Erste Konflikte zeichnen sich dabei bereits ab, weniger hinsichtlich der Posten als bezüglich der Inhalte. Die Neue Linke will ob ihres schwachen Abschneidens vor allem soziale Forderungen durchsetzen, die zumindest für den Dritten Weg nicht prioritär sind. Auch wird erwartet, dass eine moderate Regelung des Abtreibungsrechts in der zukünftigen Koalition durchaus kontrovers diskutiert werden wird. Szymon Hołownia gilt nicht als Anhänger einer Liberalisierung, aber hier sind die Erwartungen vieler, gerade weiblicher Wähler hoch. Aber für diese Konflikte werden sich wohl Formulierungen in einem Koalitionsvertrag finden lassen und dies wird kaum die Regierungsbildung verhindern.

Das größere Problem für die Umsetzung eines Regierungsprogrammes stellt aber auch hier der Präsident dar: Alle Gesetze und damit auch wichtige Reformvorhaben müssen vom Präsidenten unterzeichnet werden, wofür ihm 21 Tage nach Verabschiedung im Parlament zur Verfügung stehen. Hat er Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit, kann er das Gesetz zur Überprüfung an das Verfassungstribunal überweisen. Stellt dieses die Verfassungsmäßigkeit fest, unterschreibt der Präsident das Gesetz, anderenfalls nicht. Hat er begründete Zweifel am Gesetz, kann er auch ohne Konsultierung des Verfassungsgerichtes sein Veto einlegen und das Gesetz zur erneuten Beratung an den Sejm zurückgeben. Dieser kann nun das Veto des Präsidenten mit qualifizierter Mehrheit (3/5) bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten zurückweisen: Der Präsident hat dann keine Möglichkeit mehr, das Gesetz an das Verfassungsgericht zur Überprüfung weiterzuleiten. Die Verfassung verleiht dem Präsidenten somit beträchtliche Macht. Eine 3/5-Mehrheit bedeuten im Sejm 276 Abgeordnete und damit eine erhebliche Behinderung der neuen Regierung, da sie keine Aussicht hat, eine solche qualifizierte Mehrheit zu finden.

Somit stellt sich für die neue Regierung die Frage, wie die wesentlichen außen- und innenpolitischen Konflikte gelöst werden können, solange der Präsident aus dem PiS-Lager noch amtiert und das Verfassungstribunal ebenso wie der Landesrat für Rundfunk und Fernsehen (Krajowa Rada Radiofonii i Telewizji KRRiT)oder der Rat der Nationalen Medien (Rada Mediów NarodowychRMN) noch von der PiS kontrolliert werden.

Rückkehr nach Europa – aber wie?

Polen galt in den letzten Jahren ähnlich wie Ungarn mehr und mehr als illiberale Demokratie mit Problemen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, wie nicht zuletzt das von der Europäischen Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 7 des Lissaboner Vertrages belegt. Aufgrund dieses ungelösten Problems sind gegenwärtig die Polen zustehenden Kohäsionsmittel aus den Strukturfonds und die Mittel aus dem Europäischen Aufbauplan nach der COVID-19-Pandemie blockiert. Aus den Strukturfonds sind das für die Jahre 2021–2027 76 Milliarden Euro, aus dem Europäischen Aufbauplan 35,4 Milliarden Euro, davon 23,9 Milliarden als direkte Zuwendungen. Die Mittel aus dem Europäischen Aufbauplan sind zur Unterstützung der Wirtschaft nach der Pandemie und für eine grüne und digitale Transformation der Wirtschaft gedacht. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, wie diese Mittel freigegeben werden können.

Die Europäische Kommission hat dafür mit der polnischen Regierung im Juni 2022 Meilensteine vereinbart, deren Umsetzung für die Auszahlung der Mittel Bedingung ist. Es geht vor allem um eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz. So muss die von der EU beanstandete Disziplinarkammer respektive die Kammer für Berufsverantwortung, wie sie seit einer vom Präsidenten initiierten Novelle heißt, die gegenwärtig beim Obersten Gericht (Sąd NajwyższySN) angesiedelt ist, umgestaltet oder abgeschafft werden. Frühere Disziplinarentscheidungen gegen polnische Richter müssen überprüft werden. Es gibt noch viele weitere sogenannte Meilensteine, aber die genannte Kammer ist sicherlich das größte Problem, zumal sie in ihrer jetzigen Form vom Präsidenten als Kompromissvorschlag verabschiedet wurde. Angesichts eines drohenden Vetos des Präsidenten gegen Reformgesetze könnten auch die Verabschiedung von Gesetzen durch den Sejm und ein klarer Fahrplan für die Europäische Kommission ausreichend sein, um die blockierten Mittel auszuzahlen.

Aber auch im Bereich der Innenpolitik sind die Aufgaben gewaltig. Sicherlich muss die neue Regierung zunächst einen Kassensturz vornehmen, um zu überprüfen, ob die von der PiS eingeführten Sozialleistungen (Kindergeld, Senkung des Rentenalters etc.) auch für die kommenden Jahre solide finanziert sind. Sodann gilt es einige der Reformen, welche die PiS im Justiz- oder im Bildungswesen vorgenommen hat, eventuell wieder einzukassieren. Die Kammer für Berufsverantwortung am Obersten Gericht muss entweder umgebaut oder aufgelöst werden. Auch der Landesjustizrat (Krajowa Rada SądownictwaKRS), der für die Auswahl der Richter zuständig ist, war Bestandteil der Justizreform der PiS. Nun wird ein Teil der Mitglieder des KRS vom Sejm gewählt, was sowohl die Mehrheit der Juristen in Polen wie auch die sog. Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) als Politisierung des Rates ablehnten. Auch hier besteht dringender Handlungsbedarf. Gleiches gilt für das Verfassungstribunal, dessen Entscheidungen, wenn die Zweifel an der verfassungsmäßigen Ernennung seiner Mitglieder berechtigt sind, auch der Überprüfung bedürfen.

Eins der ersten Aufgabenfelder der neuen Regierung wird nach Aussagen von Politikern der präsumtiven Regierung das regierungsnahe Fernsehen sein, dessen Informationssendungen, und hier vor allem die Hauptnachrichtensendung Wiadomości, zu einem Sprachrohr der Regierung geworden sind. Der von der PiS im Jahr 2016 geschaffene Rat der Nationalen Medien beruft und entlässt die Intendanten, wobei die Mitglieder des Rates wiederum von der PiS ernannt worden sind. Allerdings verpflichtet das Gesetz über Rundfunk und Fernsehen von 1992 die öffentlichen Medien zu Pluralismus. Hier zeigt sich ein möglicher Hebel – aber auch eine Erneuerung des öffentlichen Fernsehens und Rundfunks ist eine komplexe Aufgabe. In beiden Fällen, bei der Rücknahme der Justizreform und bei den öffentlichen Medien, ist viel Kreativität und Einfallsreichtum gefragt, um die gewünschten Änderungen durchzusetzen.

Leichter wird für die neue Regierung die Abberufung von Direktoren und Managern in den zahlreichen staatlichen Agenturen und Einrichtungen, die nicht für eine bestimmte Amtszeit berufen worden sind und die in der Regel ihre Nähe zur PiS auszeichnet. Hier liegen die entsprechenden Kompetenzen in der Regel beim zuständigen Minister, so dass ein Austausch möglich ist.

Wichtig ist es, dass bei allen Reformen, welche die neue Regierung angehen wird, um Rechtsstaatlichkeit und die Pluralität der öffentlichen Medien wieder herzustellen, ein rechtsstaatliches Vorgehen gewahrt wird. Bei dem Zurückdrehen der PiS-Reformen im Bereich der Justiz wird man sich zudem mit dem polnischen Präsidenten verständigen müssen. Trotz des Wahlsieges der Opposition haben wir in Polen mindestens bis 2025, wenn Dudas Amtszeit endet, eine Cohabitation. Zudem darf nicht ignoriert werden, dass die gesellschaftlichen Spaltungen fortbestehen. Anders als vielleicht bei den ersten PO-geführten Regierungen von 2007 bis 2015 wird die neue Regierung auch soziales Fingerspitzengefühl beweisen müssen, um bei den nächsten Wahlen nicht abgestraft zu werden.

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Analyse

Nach den Parlamentswahlen in Polen – Vollendung der illiberalen Demokratie oder Wiederannäherung der politischen Lager?

Von Stefan Garsztecki
Der Sieg der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) bei den polnischen Parlamentswahlen am 13. Oktober fiel nach einem wenig überzeugenden Wahlkampf der Opposition und angesichts zahlreicher Wahlkampfversprechen der PiS deutlich aus. Trotz des Konfliktes der Regierung mit der Europäischen Kommission aufgrund der polnischen Justizreformen und ungeachtet einer radikalen Umgestaltung der öffentlich-rechtlichen Medien brauchte sich die PiS um die Wiederwahl letztlich keine Sorgen zu machen. Allerdings fiel der Wahlsieg knapper aus, als im Kreis um den Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński herum erwartet. Das Erstarken der kleineren Parteien der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica), die über die PiS-Liste nun mehr Abgeordnete ins Parlament einbringen, die Erfüllung der Wahlversprechen, der Verlust der zweiten Parlamentskammer an die Opposition und nicht zuletzt die sich anbahnende Nachfolgefrage im Parteivorsitz der PiS lassen trotz des überzeugenden Sieges eine schwierige Regierungszeit erwarten. (…)
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Der Umbau der polnischen Justiz

Von Marta Bucholc, Maciej Komornik
Die seit Ende 2015 in Polen amtierende nationalkonservative Regierungspartei PiS hat faktisch die Gewaltenteilung aufgehoben. Mit einer Welle neuer Gesetze hat sie erst das Verfassungsgericht ausgeschaltet und dann wider die Verfassung nahezu die gesamte Justiz unter die Kontrolle der Exekutive gestellt. Sie hat die Institutionen des Rechtsstaats diskreditiert, ihr nicht genehme Richter aller Instanzen und Gerichtszweige als Mitglieder eines post-kommunistischen Klüngels diffamiert und auf der Basis der neuen Gesetze die Unfolgsamen entlassen. Bei der Berufung der Nachfolger spielt die Regierungspartei erstmals seit 1989 wieder eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne der Ideologie der PiS ist an die Stelle pluralistischer Machtverteilung ein starker Staat getreten, der vorgibt, im Namen des Volks zu handeln.
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