Geschichte und Gegenwart in den polnisch-ukrainischen Beziehungen 1989–2023

Von Tomasz Stryjek (Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau), Joanna Konieczna-Sałamatin (Universität Warschau)

Zusammenfassung
In den letzten Jahrzehnten intensivierten sich die Kontakte zwischen Polen und Ukrainern, was sich auch auf die Beziehungen zwischen den beiden Staaten niederschlug. Die Ukrainer sahen in Polen zunächst v. a. den wirtschaftlichen Erfolg und ein Muster, wie man Staat und Wohlstand nach dem Kommunismus (wieder)aufbaut. In Polen rückten Kreise der politischen Rechten die gemeinsame Geschichte beider Länder in den Fokus, insbesondere die an der polnischen Zivilbevölkerung von ukrainischen Nationalisten verübten Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges. Infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Solidarität Polens mit der Ukraine stiegen die beiderseitigen Sympathiewerte rasant, doch der Deutungskonflikt schwieriger historischer Themen ist dadurch noch nicht gelöst.

Schwierige Anfänge nach 1989

Ausführungen zur polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit und zu den Beziehungen beider Nationen zur Vergangenheit beginnen sinnvollerweise damit, an die Anfänge der gegenseitigen Kontakte zu erinnern. Dies kann einerseits helfen, die auf beiden Seiten immer noch bestehende Asymmetrie des Wissens, der Vorstellungen und Erwartungen zu verstehen, andererseits macht es bewusst, wieviel sich auf diesem Feld seit Anfang der 1990er Jahre gewandelt hat.

Aus einer der ersten Untersuchungen zur beiderseitigen Wahrnehmung der Polen und Ukrainer (»Polska-Ukraina. Wzajemny wizerunek«, 2001; siehe Lesetipps am Ende des Textes), durchgeführt vom Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw PublicznychISP) im Jahr 2000, erfährt man, dass sich in Polen das Bild der Ukraine und der Ukrainerinnen und Ukrainer »in hohem Maße unter dem Einfluss der Geschichte ausgeprägt hat, wobei nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch zeitlich sehr weit zurückliegende Ereignisse einbezogen werden«. Die Autorin dieses Berichts (und Koautorin des vorliegenden Textes) stellte fest, dass die damals noch als Novum geltenden beiderseitigen Kontakte und Zusammenarbeit dieses Bild verändern und neue, nicht mit der Geschichte verbundene Fäden einflechten würden; allerdings träten die Veränderungen sehr langsam ein.

Die ersten direkten Treffen von Polen und Ukrainern fanden z. B. auf den Wanderwegen in den Ostkarpaten statt, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für Touristen aus Polen zugänglich wurden. So leitete im Sommer 1990 Tomasz Stryjek (Koautor des vorliegenden Textes) ein Treckinglager zwischen den Gebirgszügen Gorgany und Czarnohora. Es war sein erster Besuch in der Ukraine. Geprägt von Medienberichten, erwarteten die Teilnehmer, dass sie in der Ukraine buchstäblich nichts kaufen können, so dass sie inklusive Lebensmittel alles aus Polen mitbrachten. Sie kamen aus einem Land, das von der sog. Schocktherapie der Finanz- und Wirtschaftsreform des Balcerowicz-Plans (nach dem damaligen Finanzminister Leszek Balcerowicz, 1989–1991, Anm. d. Übers.) ergriffen war, und lebten in der Überzeugung, dass Polen dank der Reformen den kapitalistischen Wohlstand zu fassen bekommt. Unterdessen betrachtete man sie in den huzulischen Dörfern mit Interesse und Misstrauen zugleich. Auf die Einwohner der Ukrainer wirkte damals die im Fernsehen verbreitete Botschaft, dass Polen mit fundamentalen Problemen – Streiks, Verschuldung und Chaos – zu kämpfen habe und die Macht auf die selbstsichere, anarchistische und inkompetente Solidarność übergegangen sei.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Vorstellung aus statistischer Perspektive berechtigt war. 1990 betrug das Nationaleinkommen der Ukraine pro Kopf 7.790 US-Dollar, in Polen hingegen 5.870 US-Dollar (berechnet nach Kaufkraftparität; Daten der Weltbank). Die Polen, die mit solchem Nachdruck die Transformation hin zur Marktwirtschaft begonnen hatten, sahen für die Ukrainer wie Wahnsinnige aus, die sich entschieden hatten, ihre schwache, aber heimische sozialistische Bewirtschaftung in eine noch schlechtere und außerdem fremde, da kapitalistische Wirtschaftsform zu verwandeln.

Inzwischen sind 33 Jahre vergangen und die statistischen Daten stellen sich heute genau umgekehrt dar. Werden die Verluste im ersten Jahr des russischen Angriffskrieges (2022) gegen die Ukraine berücksichtigt, ergibt sich, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine 449 Mrd. US-Dollar betrug, also nur um ein Achtel höher lag als 1990. Die Kurve des Wirtschaftswachstums der Ukraine kletterte ab dem Jahr 2000 mühsam nach oben, wobei sie in der Zeit der globalen Wirtschaftskrise (2008–2009) sowie im ersten Jahr des Krieges im Donbass (2014–2015) etwas sank. Im Jahr 2021 hielt es sich auf dem Niveau von ca. 600 Mrd. US-Dollar. Dagegen begann die Phase des BIP-Wachstums in Polen bereits 1992 und hielt bis zum ersten Jahr der COVID-19-Pandemie, 2020, ununterbrochen an. Ende 2022 betrug der Wert des polnischen BIP 1.625 Mrd. US-Dollar, d. h. sechsmal so viel wie im Jahr 1990 und mehr als dreimal so viel wie das aktuelle BIP der Ukraine.

In der Ukraine veränderte sich das medial erzeugte Bild Polens bereits nach zwei Jahren. Einfluss darauf hatten nicht nur Informationen, dass die polnische Wirtschaft aus der Krise heraustritt, sondern auch die erlebte Ineffektivität des ukrainischen Staates in der ersten Phase der Unabhängigkeit. Es bildete sich die Überzeugung heraus, dass Polen ein Land des Erfolgs ist und ein Muster dafür, wie man einen Staat und Wohlstand nach dem Kommunismus (wieder)aufbauen muss. Es gab keine ukrainischen Experten, die im ökonomischen Bereich die reformatorischen Errungenschaften Polens infrage gestellt hätten.

Verallgemeinernd lässt sich also die Sicht der ukrainischen Gesellschaft auf Polen durch die Begriffe Vergleich und Ambitionen charakterisieren, was sich seit 30 Jahren nicht bedeutend geändert hat. Vor allem erweiterte sich der Blick, und zwar hauptsächlich dank der Migranten und Flüchtlinge, die in wachsender Zahl nach Polen gingen. Das Bild der ukrainischen Eliten von Polen zeigte im vergangenen Jahrzehnt jedoch gewisse Risse. Der sich verschärfende Konflikt Polens mit der Europäischen Union um Rechtsstaatlichkeit und Werte führte dazu, dass die bisher geltenden Ansichten über die Einstellung der polnischen Gesellschaft – pro-Modernisierung und liberal – nun überprüft wurden. Jedoch betraf diese Distanz aufseiten der ukrainischen Eliten nur die polnische Innenpolitik. Gleichzeitig wurde die Orientierung der polnischen Außenpolitik auf den Aufbau besonderer Beziehungen zu den USA als eindeutig positiv beurteilt und die polnische Regierung des rechten politischen Spektrums mit Blick auf die entschlossene antirussische Haltung und die der Ukraine seit 2015 zuteil gewordene militärische Hilfe als mindestens genauso günstig für die Ukraine erachtet wie die polnischen Regierungen der Mitte und des linken Spektrums.

Dieses Bild von Polen aus Sicht der Ukrainer sowie die aus polnischer Perspektive relativ langsame wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine trugen grundlegend dazu bei, dass sich in der polnischen öffentlichen Meinung die Überzeugung von der Überlegenheit des eigenen Landes verstärkte. Hinzu kommt auf makrogesellschaftlicher Ebene, dass die über die Zeit der Volksrepublik Polen hinaus bewahrten zivilisatorischen Stereotype keiner ausreichenden Prüfung unterzogen wurden. Die ersten Kontakte der Polen zu den Ukrainern fanden meistens auf den polnischen Märkten sowie bei der Schwarzarbeit, die von den ukrainischen Arbeitsmigranten ausgeübt wurde, statt. Hinzu kam das Bild der ukrainischen Wirtschaftseliten, das sich intern als streitsüchtig und egoistisch zeigten, ausgerichtet auf den Bezug staatlicher Renten und den Kapitaltransfer ins Ausland. So formte sich bereits in den 1990er Jahren die in Polen dominierende Sicht auf die Ukraine als im Allgemeinen wenig attraktives Land.

Polnische Positionen: Paternalismus und historische Rechnungen

Wie entwickelte sich diese Sicht in den Jahren 1989–2023 und wie beeinflussten Veränderungen in dieser Zeit den polnischen Blick auf die Geschichte der Ukraine und die polnisch-ukrainischen Beziehungen? Aus diesem Blickwinkel hatte die Ukraine, wenn sie von den Polen lernen und ihre Erfahrungen nachahmen würde, die Chance, ein »zweites Polen« zu werden. Natürlich eines, das immer die Vorrangstellung des Originals anerkennen würde. Was sollte Polen davon haben? Erstens die Stärkung der Sicherheit gegenüber Russland und zweitens Zufriedenheit über die eigene Einflussnahme, inbegriffen die Überzeugung, dass die Jahrhunderte polnischer »zivilisatorischer Investitionen« in den ukrainischen Gebieten nicht umsonst waren. Daraus ergab sich nicht nur, dass sich Polen in seinem nach 1989 gewählten Weg bestärkt sah, sondern auch das Gefühl der Verantwortung und ein Arbeitsauftrag für interne Veränderungen in der Ukraine, die Stärkung der internationalen Position der Ukraine und die Annäherung zwischen beiden Nationen. Allgemein gesprochen, die polnische Haltung war von Paternalismus geprägt.

Die Einstellung, dass man den Paternalismus bei sich selbst zügeln sollte, und falls das nicht vollkommen gelingt, ihn zumindest zugunsten der Ukraine einsetzen sollte, kennzeichnete nur eine Minderheit der Polen. Der kleinere Teil der polnischen öffentlichen Meinung war der Ansicht, Polen solle seine Errungenschaften teilen, ohne dafür eine Rechnung auszustellen, d. h. ohne Garantie, dass es etwas im Gegenzug erhält. Anders gesagt, der Ukraine zu helfen, werde sich in Form von positiven Veränderungen in allen Bereichen der beiderseitigen Beziehungen, auch im Bereich der historischen Erinnerung, niederschlagen.

Kann man nach 30 Jahren sagen, dass sich die Strategie (mancher) Polen, sich einer paternalistischen Behandlung der Ukraine und der Ukrainer zu enthalten, als erfolgreich erwiesen hat? Generell ja, auch wenn sich in den letzten zehn Jahren im polnischen öffentlichen Diskurs die gegenteilige Antwort in den Vordergrund gedrängt hat. Sie kam von denen, die erklärten, es sei die Zeit gekommen, der Ukraine eine Rechnung im Bereich der Erinnerungsarbeit auszustellen. In Polen hatten die Befürworter einer »Abrechnung« mit der Ukraine ihren Einfluss auf die Ansichten der öffentlichen Meinung ausgeweitet. Ausdruck dessen waren erstens die unter der rechtsgerichteten Regierung gefassten Beschlüsse beider Parlamentskammern vom Juli 2016, welche die Verbrechen der Jahre 1943–1944 als Völkermord verurteilen, der von ukrainischen Nationalisten an den Bürgern der Zweiten Republik Polen verübt worden war [Massaker an polnischen Zivilisten in Wolhynien und Ostgalizien; Anm. d. Übers.]; zweitens die Novellierung des Gesetzes über das Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci NarodowejIPN) vom Januar 2018, die eine dreijährige Gefängnisstrafe für die Leugnung oder Verharmlosung des Völkermords sowie anderer von den Ukrainern an den polnischen Bürgern zwischen 1925 und 1950 verübter Terrorakte einführte.

Gleichzeitig haben die Befürworter einer Konfrontation mit der Ukraine im Bereich der Erinnerungspolitik keine kohärente Forderung formuliert, wie denn die von ihnen erwartete Abrechnung auszusehen habe. Jedes Jahr im Juli wird laut gefordert, dass die Ukraine »für Wolhynien um Entschuldigung bitten« soll, besonders stark alle fünf Jahre, wenn »runde« Jahrestage der Verbrechen von 1943 begangen werden. Die ukrainische Seite erinnert dann daran, dass bereits viele Gesten getan wurden und sogar die Bitte um Vergebung ausgesprochen wurde. Daher erwartet die Ukraine von Polen, dass es das Recht der Ukraine auf eine eigene Deutung der Geschichte und auf eine eigene Haltung dazu, welche Ereignisse als Anlass für kollektiven Stolz bzw. Scham betrachtet werden, anerkennt.

Von einem Ausweg aus dieser Situation sind die Polen und Ukrainer noch viele Gespräche, gemeinsame Initiativen und Versuche, Verständnis zu entwickeln, entfernt. Damit es jedoch dazu kommt, sollten die Unwägbarkeiten benannt werden. Jeder Staat, der seine Identität und sein nationales Gedächtnis pflegt, beruft sich offiziell auf Personen und Ereignisse der Vergangenheit, die wichtige Werte symbolisieren – für die Ukraine wären hier z. B. Stepan Bandera [nationalistischer Politiker, 1909–1959; Anm. d. Übers.], die Organisation Ukrainischer Nationalisten (ukr. OUN) und die Ukrainische Aufständische Armee (ukr. UPA) zu nennen. Die Ukraine will mittels dieser Symbole der Welt zeigen, dass sie als wichtigste Werte v. a. die staatliche Unabhängigkeit sowie den Mut und die Entschlossenheit, diese zu erlangen, anerkennt. In Polen lösen Bandera, der Anführer der OUN, sowie die OUN selbst und die UPA nicht ohne Grund grundsätzlich andere Assoziationen als in der Ukraine aus. Indessen signalisiert auch Polen mit seiner Erinnerungspolitik der Welt, dass es sich in erster Linie zu denselben Werten wie die Ukraine bekennt. Wenn die öffentlichen Meinungen beider Staaten über diese Werte übereinkämen, fiele es ihnen sicherlich leichter, sich gemeinsam dafür auszusprechen, dass die Ermordung von Zivilisten durch egal welche Konfliktpartei nicht die angemessene Art und Weise ist, nach Unabhängigkeit zu streben.

Die Ukraine: Vergleiche und Ambitionen

Die ersten Untersuchungen über die Wahrnehmung Polens und der Polen aus Sicht der Ukrainer wurden Ende der 1990er Jahre durchgeführt. Das Bild war schon damals sehr positiv; anschließend kam es noch zu einem Anstieg der guten und sehr guten Meinungen. Aus der eingangs bereits genannten Untersuchung des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (2001) geht hervor, dass die Ukrainer überzeugt waren, dass sich in Polen eine »schnelle wirtschaftliche Entwicklung vollzieht« (69 Prozent), dass in Polen »die Marktwirtschaft funktioniert, ähnlich wie im Westen« (64 Prozent), dass »die Arbeit gut organisiert ist« (64 Prozent) und auch, dass »die bürgerlichen Freiheiten respektiert werden« (57 Prozent).

Zehn Jahre später stellte das Institut für Öffentliche Angelegenheiten eine offene Frage nach den Assoziationen zu Polen (d. h. es waren nun keine Antworten zur Auswahl vorgegeben, sondern der Befragte formulierte seine Antwort selbst). Die ersten drei Plätze wurden wieder von Antworten belegt, die sich auf die wirtschaftliche Entwicklung, das höhere Lebensniveau als in der Ukraine und den »europäischen« Charakter Polens bezogen. Erst an fünfter Stelle sind historische Assoziationen zu finden, die v. a. negativ sind und sich vermutlich aus direkten Kontakten mit Polen in Polen ergeben haben. Die Hierarchie der Antworten zeigt, dass die historische Problematik in den Beziehungen zu den Polen für die Ukrainer relativ unwichtig war. Das war insofern nicht überraschend, als für die Migranten aus der Ukraine, die am häufigsten direkten Kontakt mit Polen hatten, Konflikte um historische Themen weit von dem entfernt waren, womit sie tagtäglich konfrontiert waren.

Auf diese Tendenz hatten in beschränktem Maße auch die bereits genannten Rechtsakte aus den Jahren 2016–2018 Einfluss, deren Ziel es in der Absicht der polnischen Regierung war, von der Regierung der Ukraine moralische und politische Genugtuung für die Verbrechen der UPA zu erhalten. In der ukrainischen öffentlichen Debatte wurde darüber kurz und nur unmittelbar nach ihrer Verabschiedung informiert. Die Rechtsakte wurden nicht als Folge einer authentischen und für die Mehrheit der polnischen öffentlichen Meinung repräsentativen Erwartung an die Ukraine dargestellt, sondern als Ergebnis eines Spiels der politischen Rechten zur Festigung ihrer Position bei den konservativen Wählern, vor allem denjenigen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten (Kresy Wschodnie). Mit anderen Worten, sie wurden als politische Manipulation interpretiert. Diese Darstellung beeinflusste die Meinung der ukrainischen Eliten dahin gehend, dass sie begannen, historischen Fragen in Bezug auf Polen mehr Gewicht beizumessen. Gleichzeitig herrschte in den Eliten die Meinung vor, dass es sich bei dem großen Interesse der Polen am Konflikt mit der Ukraine in den Jahren 1939–1947 um eine Art kollektiven Leidens handele, das man abwarten und vor dessen Folgen der gute Ruf des eigenen Landes geschützt werden müsse.

Einige Monate nachdem der Sejm und der Senat in Polen 2016 den Beschluss verabschiedet hatten, führten wir in der Ukraine Untersuchungen dazu durch, welchen Raum die historische Thematik im Leben der Ukrainer sowie in ihrer Wahrnehmung Polens und der Polen einnimmt (siehe Lesetipps am Ende des Textes). Sie zeigten, dass der Geschichte in den Beziehungen zu Polen im Vergleich zum Jahr 2010 wachsende Bedeutung zugemessen wird. Stark verallgemeinernd lässt sich sagen, es dominierte die Ansicht, dass die Geschichte der ukrainisch-polnischen Beziehungen mit Konflikten gefüllt war, was nach Meinung der Befragten die gegenwärtigen Meinungsunterschiede mit den Polen erklärte, wenn es um die Deutung von Phänomenen und Ereignissen wie die Herrschaft der polnischen Adelsrepublik auf ukrainischem Gebiet, den Kampf der Kosaken gegen diese, die Revolution und den Krieg 1918–1921, die Regierung der Zweiten Republik Polen oder die Verbrechen im ukrainisch-polnischen Konflikt 1943–1947 (Wolhynien, Aktion »Weichsel«) ging. Gleichzeitig herrschte die Meinung vor, dass es sich hier um Knotenpunkte der gemeinsamen Geschichte handelt, die die Ukrainer und die Polen auf Gedeih und Verderb einander nahe gebracht haben.

In Gruppendiskussionen im Rahmen der Untersuchung kamen positive Bewertungen der historischen Rolle Polens als Übermittler von Errungenschaften der europäischen Zivilisation in die Ukraine sowie der Polen als Muster und Inspiration für die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung deutlich zum Ausdruck. Allein in der westlichen Ukraine überwogen die negativen Bewertungen der Polen (hier wurde von der ehemaligen polnischen Herrschaft als »Besatzung« gesprochen), in der Zentralukraine waren die Bewertungen ausgewogen, in der Ostukraine hatten die positiven Bewertungen ein deutliches Übergewicht und im Süden war dieses geradezu überwältigend.

Man kann also von der allgemeinen Überzeugung der Ukrainer sprechen, dass das Spezifische des ukrainisch-polnischen Gefüges darin besteht, dass die beiden Seiten keine gleichen Positionen hatten und immer noch nicht haben, sie aber daraus positive Effekte schöpfen. Weitere Untersuchungen wurden Anfang 2018 durchgeführt (siehe Lesetipps am Ende des Textes), während des Höhepunktes des Konfliktes zwischen Polen und der Ukraine über die Novellierung des IPN-Gesetzes. Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass die Ukrainer zunehmend desorientiert waren, was die ukrainisch-polnische historische Versöhnung bedeuten und wie die Geschichte bei der Zusammenarbeit mit Polen berücksichtigt werden soll. In der Befragung wiederholten wir Fragen, die bereits in der Untersuchung des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten 2013 gestellt worden waren, und zwar zu historischen Ereignissen, in deren Zusammenhang sich die Polen schuldig gegenüber den Ukrainern fühlen sollten bzw. umgekehrt. Die nun zutage tretenden Veränderungen ergaben ein klares Bild: Während 2013 von 33 Prozent der Befragten bejahende Antworten auf beide Fragen gewählt wurden, waren es fünf Jahre später nur noch 15 Prozent. Der Anteil derer, die angaben, dass die Polen Schuld tragen und die Ukrainer nicht, sank von 18 auf 13 Prozent. Dagegen blieb der Anteil derjenigen, die sagten, dass die Ukrainer schuldig sind und die Polen nicht, unverändert bei sieben Prozent. Der Anteil der Befragten, die beide Fragen verneinten, reduzierte sich von 31 auf 24 Prozent. Dagegen stieg der Anteil derer, die die Antwort »ich weiß nicht« auf irgendeine dieser Fragen gaben, von 22 auf bis zu 42 Prozent beträchtlich. Die Ergebnisse von 2018 zeigen, dass die ukrainische öffentliche Meinung festzustellen begann, dass die Mehrheit der Polen eine gefestigte Meinung über die einseitige Verantwortung der UPA für die Verbrechen von Wolhynien hat. Dies bedeutete allerdings nicht Akzeptanz für den polnischen Standpunkt. Der Anteil derjenigen Ukrainer stieg, der infolge der Beobachtung des sich verschärfenden Erinnerungskonfliktes unsicher über die Überzeugungskraft der polnischen und ukrainischen Argumente wurde und sich für ein beiderseitiges »Einfrieren« der Vorwürfe aussprach. So deuten wir die Ursache für die so häufig gewählte Antwort »weiß nicht«.

In der Zeit zwischen 2018 und 2023 hat die ukrainische öffentliche Meinung bereits festgestellt, dass es nicht gelungen ist, das Thema »Wolhynien« zu bewältigen und den Streit über die Abrechnung historischen Unrechts und Leids in den Beziehungen zu Polen und den Polen abzuschließen. Die fehlende Verständigung in diesem Bereich betrachtete die ukrainische öffentliche Meinung allerdings als unwesentlich in der Gesamtbeurteilung der Beziehungen zu Polen. Die seit den 1990er Jahren hohen Sympathiewerte für die Polen und das Land Polen stiegen nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der polnischen Hilfsaktionen für die ukrainischen Flüchtlinge 2022 noch an. Die Ergebnisse der von dem ukrainischen Unternehmen Rating durchgeführten Umfragen zeigen, dass die Einschätzung, Polen sei für die Ukraine ein »eindeutig freundliches« und »eher freundliches« Land, von April 2021 bis September 2022 von 62 auf 97 Prozent stieg. Noch im Juni 2023 bewerteten 94 Prozent die Haltung der Polen ebenso, trotz wachsender Reibereien wegen des Transits von ukrainischem Getreide durch Polen.

Eine andere grundsätzliche Veränderung nach der russischen Invasion in die Ukraine war der große Anstieg der positiven Beurteilungen der UPA und der ukrainischen Helden der nationalistischen Bewegung während des Zweiten Weltkrieges, was zu der These führt, dass die zuvor bestehende regionale Differenzierung des ukrainischen Gedächtnisses in dieser Frage überwunden ist. Im April 2022 sprachen sich bis 80 Prozent mit den Antworten »eindeutig« oder »eher« für die »Anerkennung der OUN-UPA als Teilnehmer im Kampf um die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine« aus. Gegenüber der Person Stepan Banderas nahm die ukrainische Gesellschaft noch im Oktober 2018 eine ambivalente Haltung ein. »Eindeutig« und »eher« positiv betrachteten ihn 36 Prozent, 34 Prozent dagegen negativ. Im April 2022 waren die Angaben mit 74 bzw. 14 Prozent deutlich anders gelagert. Diese Entwicklung lässt sich zweifellos ausschließlich auf den antirussischen Kontext zurückführen und hat nichts mit den Überzeugungen der Ukrainer zum Thema Polen zu tun.

Fasst man den ukrainischen Blick auf Polen und die Polen zusammen, ist zu unterstreichen, dass aus makrogesellschaftlicher Perspektive die Geschichte einen der hinteren Plätze einnimmt. Insgesamt sehen die Ukrainer in Polen nicht ihre Vergangenheit, sondern ihre Zukunft. Sie kommen nach Polen wegen der Arbeit, der Ausbildung oder des Schutzes vor dem Krieg; in der überwiegenden Mehrheit der Fälle sind ihnen die strittigen historischen Angelegenheiten nicht bewusst. Falls sie aber davon wissen, herrscht die Meinung, dass der geeignete Austragungsort für solcherlei Konflikte gemeinsame Forschung und Diskussionen von Experten sind. In den Kreisen der ukrainischen humanistischen Intelligenz wiederum überwiegt die Erfahrung des historischen Austausches und der ukrainisch-polnischen Zusammenarbeit deutlicher als das Bild des Konflikts.

Hinzu kommt, dass es in der ukrainischen Gesellschaft nur wenige gibt, die Verständnis für die von polnischer Seite erwartete Anerkennung der Verantwortung für die Verbrechen von Wolhynien sowie die erwarteten offiziellen Entschuldigungen äußern würden. Diese Erwartungen werden eher als Ausdruck einer vorübergehenden Sturheit bestimmter Kreise in Polen und als Folge des Prestiges gesehen, dessen sich diese Kreise in der polnischen Gesellschaft erfreuen.

Gleichzeitig führt die Ukraine seit 2014 die »Entkommunisierung« im öffentlichen Bereich durch und seit 2022 auch die »Entrussifizierung«, sie bildet ihren Kanon historischer Persönlichkeiten und Ereignisse aus und entwickelt eine einheitliche Narration über die Vergangenheit. Die UPA gehört bereits als Hauptrepräsentantin des Unabhängigkeitskampfes der 1940er Jahre zu diesem Kanon und dieser Narration. 80 Prozent sprechen sich für die »Anerkennung der OUN-UPA als Teilnehmer im Kampf um die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine« aus und 93 Prozent betrachten den Holodomor als Völkermord an der ukrainischen Nation durch die Sowjetunion. Diese Zahlen zeigen, dass in der ukrainischen Deutung der Vergangenheit bereits Veränderungen eingetreten sind, die umzukehren kein Versuch politischer Einflussnahme in der Lage sein wird.

Unterschiedliche Herangehensweisen an das historische Gedächtnis

Dass die Einstellungen der beiden Gesellschaften zu den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges aneinander vorbeilaufen, ist auch damit verknüpft, dass die Polen in der Ukraine in den letzten 30 Jahren nicht ihre Zukunft, sondern ihre Vergangenheit gesehen haben. In Polen hat die Geschichte insbesondere in zwei Bereichen an großer Bedeutung gewonnen. Der eine Bereich ist die »Wiederentdeckung« der ehemaligen polnischen Ostgebiete in den 1990er Jahren und die sich entwickelnde Sympathie ihnen gegenüber in der polnischen Gesellschaft, der es materiell immer besser ging und die ihre historischen Wurzeln suchte. Zweitens: das stark in der polnischen historischen Kultur verwurzelte Bedürfnis, Geschichte auf »monumentalische« Art und Weise, wie Friedrich Nietzsche sagen würde, zu erzählen. Sowohl die zeitgenössische Erzählung über die polnisch-russischen Kriege vom 16. bis zum 20. Jahrhundert als auch über den Krieg Russlands gegen die Ukraine seit 2014 (an dem Polen auf seine Art teilnimmt) haben immer einen »monumentalischen« (glorifizierenden) Gesinnungscharakter.

Gleichzeitig ist in der polnischen Historiographie, die sich mit der Geschichte der Beziehungen Polens zu seinen östlichen Nachbarn beschäftigt, der Konflikt mit der Ukraine 1939–1947 inbegriffen, die von Nietzsche als »kritische« bezeichnete Umgangsform mit der Geschichte schwach repräsentiert. Dies ist vor allem deshalb so, weil entweder die kritische Art Geschichtsschreibung zu betreiben nur von der ukrainischen Seite verlangt wird oder die kritische Umgangsform den Charakter einer Abrechnung beider Seiten annimmt, mit Schwerpunkt auf faktographischen Befunden sowie der rechtlichen und moralischen Definition der Verantwortung für Verbrechen. Das wichtigste ist jedoch, dass die kritische Herangehensweise nur einen schwachen Wiederhall in der öffentlichen Meinung und Politik hat. Im Ergebnis gibt es in Polen kein Gleichgewicht zwischen dem »monumentalischen« und dem kritischen Umgang mit der Geschichte der polnisch-ukraini­schen Beziehungen.

Noch ein Blick auf die Dynamik der Beziehungen der Polen zu den Ukrainern in den letzten 30 Jahren und auf den Platz, den die Geschichte in diesem Bild einnimmt. Die alljährlichen Befragungen des polnischen Meinungsforschungsinstituts CBOS zur Einstellung der Polen gegenüber anderen Nationen weisen hier auf die größte positive Veränderung unter den 14 abgefragten Nationalitäten hin. In den Jahren 1993–2023 fand ein Anstieg der Sympathiewerte gegenüber den Ukrainern von 12 auf 51 Prozent statt. Zu beobachten sind ansteigende und fallende Sympathiewerte in Abhängigkeit von dem Kontext, in dem die Ukraine und die Ukrainer im betreffenden Jahr in den polnischen Medien erschienen. Ein Anstieg fand unter dem Einfluss großer Ereignisse in der Ukraine wie der Orangenen Revolution, dem Euromajdan und der russischen Invasion 2022 sowie infolge der zunehmenden direkten Kontakte zu den Ukrainern in Polen statt. Auch kein Zufall ist es, dass die beiden letzten vorübergehenden Reduzierungen der Sympathiewerte in den Jahren eintraten, als sich die polnische Regierung mit der Erinnerungspolitik gegenüber der Ukraine befasste – sie sanken auf 27 Prozent im Jahr 2016 und 2018 sogar auf 24 Prozent.

Man kann feststellen, dass die Polen im analysierten Zeitraum immer eine positivere Einstellung gegenüber dem Staat Ukraine als gegenüber den Ukrainern als Nation hatten (was im Übrigen auch in der Westukraine mit Blick auf Polen und die Polen zu beobachten war). Dies kam insbesondere bei der Unterstützung für die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union und in der NATO zum Ausdruck, die zeitweilig in Polen höher war als in der Ukraine selbst.

In den Unterschieden bei der Einstellung zum Staat und zur Nation kann man u. a. Überreste von historischen Vorurteilen sehen. Dennoch sollte auch in Betracht gezogen werden, dass mindestens bis zu den Feierlichkeiten des 70. Jahrestags für die Opfer von Wolhynien im Jahr 2013 und bis zum Euromajdan weniger die Erinnerungskultur und medial vermittelte Bilder der Vergangenheit die polnischen Ansichten über die Ukraine und die Ukrainer prägten als die persönlichen Kontakte (die überwiegend in Polen stattfanden). Die Polen gewannen eine immer bessere Meinung über die Arbeitnehmer, Vertragspartner und Studierenden aus der Ukraine und auf dieser Grundlage bildeten sie eine positive Ansicht über die gesamte Nation aus, unabhängig davon, dass beide Staaten bereits einen Streit über die Vergangenheit führten. Wie bereits erwähnt, wurde die Tendenz der wachsenden Sympathie in der Phase der »belehrenden« Erinnerungspolitik Polens gegenüber der Ukraine 2015–2019 gestört, und das Zurückstellen der problematischen historischen Themen 2020–2022 hob die Sympathiekurve wieder an.

Aus polnischer Perspektive verblieb in den Beziehungen zur Ukraine, welche die Vergangenheit betreffen, nur ein, indessen fundamentales, Problem – das Thema Wolhynien, das im Rhythmus des jährlichen Gedenkens im Juli ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt wird und umso mehr bei den alle fünf Jahre stattfindenden größeren Feierlichkeiten. Dieses Problem verschwand auch nicht nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Nach wie vor gilt die Regel, je mehr über das Verbrechen von Wolhynien gesprochen wird, desto mehr Polen erwarten offizielle Entschuldigungen von der Ukraine. Neu ist allein, dass laut Untersuchungen von CBOS im Jahr 2023 ungefähr die Hälfte der Gesamtbevölkerung Verständnis dafür zeigte, dass es nicht angemessen sei, eine Entschuldigung vom ukrainischen Präsidenten in einer Situation zu erwarten, in der die Ukraine täglich menschliche Verluste zu beklagen hat.

Die historischen Kulturen sowie das moralische Gedenkkapital Polens und der Ukraine

Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zeigen, dass große strukturelle Unterschiede zwischen den historischen Kulturen Polens und der Ukraine bestehen. Letztlich ist die Kultur Polens deutlich tiefer »in die Vergangenheit eingetaucht« als die Kultur der Ukraine. Unter dem Begriff in die Vergangenheit eintauchen verstehen wir die Sättigung des öffentlichen Lebens mit Darstellungen der Vergangenheit und Aktivitäten von Akteuren, die sich mit ihr beschäftigen (Gedenken und Rituale, Publikationen, Institutionen und Organisationen, die Erinnerung pflegen, Politiker, Medien), außerdem die häufige Bezugnahme auf die Vergangenheit im kulturellen, politischen und Identitätsdiskurs sowie die großzügige Finanzierung der Erinnerungspolitik, v. a. durch die öffentliche Hand. Etwas vereinfacht kann man feststellen, dass der Grad des »Eintauchens« Auskunft über den Entwicklungsstand der institutionellen Erinnerungsinfrastruktur des betreffenden Landes gibt.

In Polen sendet die Geschichte in einer solchen Vielzahl von Äußerungen, Denkmälern und Publikationen und ist der Kanon der eigenen Geschichte so gefestigt, integriert und gesellschaftlich breit angeeignet, dass manch einer das Gefühl der Übersättigung gegenüber der Präsenz der Bilder der Vergangenheit im öffentlichen Leben verspürt. Doch es liegt nur an einem Teil der Polen, vermutlich sogar nur an einer Minderheit, dass der Eindruck entsteht – häufig bei Ausländern, insbesondere bei Ukrainern –, die Polen seien eine Nation, die aufs Engste mit der Geschichte lebt. Allerdings schieben die strukturellen Eigenschaften der »tief in die Vergangenheit eingetauchten« polnischen Kultur diesen Umgang mit der Geschichte in den Vordergrund und garantieren ihren Repräsentanten eine Vorrangstellung bei Äußerungen im Namen der Nation, so dass sie für externe Beobachter deutlich wahrnehmbar werden. Im vergangenen Jahrzehnt strebten die Repräsentanten meistens danach, die große Rolle Polens in der Geschichte der Region und ganz Europas zu bestätigen. Es waren diese Kreise, die nach ungefähr zwei Jahrzehnten Transformation nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entschieden, der Ukraine eine Rechnung für Unterstützung und Hilfe auszustellen, sie über die angemessene Beurteilung der UPA belehren wollten und von der Regierung der Ukraine Genugtuung erwarteten, u. a. mit Hilfe von Parlamentsbeschlüssen wie in den Jahren 2016–2018.

Insgesamt führten unsere Untersuchungen der historischen Kulturen Polens und der Ukraine zu dem Ergebnis, dass in der Ukraine und in Polen der Gegenwart die Bilder der Vergangenheit, die historischen Narrationen und die Erinnerungspolitik unterschiedlichen politischen Projekten dienen, die auf ein jeweils anders geprägtes gesellschaftliches historisches Bewusstsein antworten. In der Ukraine dienen sie dem Aufbau der Zukunft. Diese Richtung erhielt eine noch größere Bedeutung nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges mit Blick auf die Pläne eines großen Wiederaufbaus des Staates nach Beendigung des Krieges. Die Geschichte wurde hier zu einer Quelle von Geschichten über Einheit und Erfolge, und einen solchen Glauben brauchen die Ukrainer zurzeit am meisten. In Polen hingegen dienen umgekehrt die Erzählungen von der Vergangenheit v. a. der Bestätigung der vergangenen Größe der Republik Polen. Mit anderen Worten: Sie sind darauf ausgerichtet, die Tradition zu bewahren und nostalgische Haltungen v. a. in Bezug auf die östlichen Gebiete der Ersten und Zweiten Republik zu verbreiten. Der Unterschied der Funktionen, welche die Bilder der Vergangenheit, die historischen Narrationen und die Erinnerungspolitik in beiden Staaten ausüben, weist auf das wichtigste Hindernis auf dem Weg zur Beilegung des Streites über die Vergangenheit zwischen ihnen hin.

Schließlich soll mit Blick auf den Streit noch gefragt werden, welche historischen Phasen, Phänomene und Ereignisse der gemeinsamen Geschichte Polen und die Ukraine aus ihrem kollektiven Gedächtnis verdrängen. Hier hilft das Konzept des »moralischen Kapitals des Gedenkens« (Michał Łuczewski). Zusammengefasst ist gemeint, dass Elemente der gemeinsamen Geschichte bereits tief in den Selbstbildern der Polen und der Ukrainer verwurzelt sind sowie auch in den Erinnerungspolitiken, die das internationale Bild Polens und der Ukraine gestalten. Polen, insbesondere seit 2015, stellt sich als wichtigster Erschaffer der Region Mittelosteuropa dar, als Zone der Freiheit, der Demokratie und gesellschaftlichen Harmonie, zum einen als Gegensatz zum Autoritarismus Russlands, zum anderen als Gegensatz zu den Staaten der »alten« EU, wobei es eine andere Variante der lateinischen Zivilisation entwickelt als Westeuropa. Übereinstimmend mit dieser Narration hebt Polen seine Rolle im Verhältnis zu seinen östlichen Nachbarn hervor und argumentiert, dass sie ohne den Einfluss Polens von Russland assimiliert würden und sich nicht als eigenständige Länder und Nationen entwickeln könnten. In diesem Kontext wird das Bild der Ersten und der Zweiten Republik Polen idealisiert. Für den Streit mit der Ukraine über die Geschichte bedeutet das, dass die Verantwortung für die Folgen der gesellschaftlichen Unterdrückung sowie der Polonisierungs- und Latinisierungmaßnahmen an der ukrainischen Bevölkerung während der jahrhundertelangen Herrschaft über ukrainisches Gebiet aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wird. Das grundlegende Motiv dieser Imagestrategie ist weniger die Verteidigung vor der Bedrohung durch Russland, sondern vielmehr die Verteidigung vor der Globalisierung und ihren Folgen in Gestalt der »Universalisierung« der Kultur und der Fragmentierung der nationalen Kulturen.

Anders dagegen die Ukraine, die die Berücksichtigung der historischen Verantwortung in den historischen Abrechnungen mit Polen will. Mehr noch, in ihren Publikationen erklären ukrainische Historiker die Ursache für die Beteiligung der ukrainischen Bauern an den Verbrechen der UPA gegenüber den Polen in Wolhynien mit der dort seit Jahrhunderten herrschenden Gewaltkultur, die sich unter dem Einfluss der über die ukrainischen Untergebenen herrschenden polnischen Gutsbesitzer entwickelte. Diese Interpretation überträgt die Hauptlast der Verantwortung für die Verbrechen von Wolhynien von der UPA auf gesellschaftliche Faktoren, d. h. auf die Bedingungen, unter denen die ukrainischen Bauern lebten und die in hohem Maße von Polen und den polnischen Eliten bestimmt wurden. Die relative Entlastung der UPA geht einher mit ihrer – bereits praktisch vollzogenen – Einführung in den Kanon der ukrainischen Geschichte.

Es lässt sich natürlich nicht vorhersagen, wie sich der polnisch-ukrainische Streit über die Vergangenheit entwickeln wird. Die Geschichte spielt zurzeit eine wesentliche Rolle in den Überzeugungen der beiden Nationen übereinander – also nicht mehr nur in Polen, wie es in den letzten 30 Jahren mehr oder weniger immer der Fall war, sondern auch in der Ukraine. Allerdings wird keine Verständigung möglich sein, wenn nicht beide Länder eine Veränderung ihres moralischen Kapitals des Gedenkens vornehmen und es den Erwartungen der anderen Seite gegenüber öffnen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Dieser Text basiert auf der ausführlichen Darstellung: Konieczna-Sałamatin, Joanna; Stryjek, Tomasz: Polacy i Ukraińcy 1989–2023: dlaczego nadal uwikłani w przeszłość? [Polen und Ukrainer 1989–2023: warum immer noch in der Vergangenheit verheddert?] ForumIdei, Fundacja im. Stefana Batorego 2023. https://www.batory.org.pl/publikacja/polacy-i-ukraincy-1989-2023-dlaczego-nadal-uwiklani-w-przeszlosc (abgerufen am 02.11.2023).

Lesetipps / Bibliographie

  • Konieczna-Sałamatin, Joanna: Polska-Ukraina. Wzajemny wizerunek. Warszawa: ISP 2001.

  • Stryjek, Tomasz; Konieczna-Sałamatin, Joanna; Zacharuk, Kamila: Ukraińcy o historii, kulturze i stosunkach polsko-ukraińskich. Raport z badania ilościowego i jakościowego. Warszawa 2018.

  • Stryjek, Tomasz; Konieczna-Sałamatin, Joanna; Zacharuk, Kamila: Ukraińcy o historii, kulturze i stosunkach polsko-ukraińskich. Raport z badania ilościowego i jakościowego. Warszawa 2018.

  •  Stryjek, Tomasz; Konieczna-Sałamatin, Joanna (eds.): Politics of Memory in Poland and Ukraine: From Reconciliation to De-Conciliation. London: Routledge 2022.

  • Konieczna-Sałamatin, Joanna and Sawicka, Maja (2020): The East of the West, or the West of the East? Attitudes toward the European Union and European Integration in Poland after 2008. East European Politics and Societies: and Cultures, 35(2), 363–383.

Zum Weiterlesen

Artikel

Der Umbau der polnischen Justiz

Von Marta Bucholc, Maciej Komornik
Die seit Ende 2015 in Polen amtierende nationalkonservative Regierungspartei PiS hat faktisch die Gewaltenteilung aufgehoben. Mit einer Welle neuer Gesetze hat sie erst das Verfassungsgericht ausgeschaltet und dann wider die Verfassung nahezu die gesamte Justiz unter die Kontrolle der Exekutive gestellt. Sie hat die Institutionen des Rechtsstaats diskreditiert, ihr nicht genehme Richter aller Instanzen und Gerichtszweige als Mitglieder eines post-kommunistischen Klüngels diffamiert und auf der Basis der neuen Gesetze die Unfolgsamen entlassen. Bei der Berufung der Nachfolger spielt die Regierungspartei erstmals seit 1989 wieder eine zentrale Rolle. Ganz im Sinne der Ideologie der PiS ist an die Stelle pluralistischer Machtverteilung ein starker Staat getreten, der vorgibt, im Namen des Volks zu handeln.
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS