Die polnischen Parlamentswahlen im Oktober 2023 lassen sich als fast idealtypisches Modell für einen demokratischen Machtwechsel charakterisieren. Von den Betroffenen wird man allerdings schwerlich eine solche Zusammenfassung hören. Ihre Einschätzungen klingen deutlich dramatischer, was den Gebrauch des Wortes »fast« rechtfertigt, das verwendet wird, wenn es darum geht, etwas sarkastisch zu negieren. Das allerdings ist hier nicht der Fall. Die Sache ist die, dass neben emotionalen Stürmen eine Reihe von außerordentlichen Umständen die Wahlen begleiteten. Jedoch abgesehen von diesen Bedingungen, die bis zu einem bestimmten Grade die emotionale Erschütterung der Beteiligten erklären, lief alles vollkommen glatt, so als hätte es die besonderen Umstände gar nicht gegeben. Dieses Paradox konzentriert wie in einer Linse das Besondere des polnischen politischen Lebens.
Umfragen und Mobilisierung
Die bisher regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) erhielt bei den Wahlen zum Sejm im Oktober 2023 die meiste Unterstützung. Dennoch hat sie 41 der 235 Mandate, mit denen sie in die Legislaturperiode 2019 gestartet war, verloren. Sie hat dabei nicht nur die absolute Mehrheit nicht weiter halten können, sondern es bestand auch nicht die Chance, einen Koalitionspartner zu finden, der ihr hätte helfen können, diese Mehrheit zu bilden. Alle übrigen Parlamentssitze wurden von Gruppierungen besetzt, die während des gesamten Wahlkampfes als Ziel ausgegeben hatten, die PiS aus der Regierungsverantwortung abzulösen. Das Übergewicht der Gegner ist so groß, dass keine Notwendigkeit bestand, eine Koalition aller gegen die PiS einzugehen. Die eindeutige Mehrheit wurde von drei Wahllisten erlangt, die von sechs prinzipiell selbständigen Parteien gebildet wurden. Sie hatten bereits vor den Wahlen erklärt, dass sie eine gemeinsame Regierung bilden werden. Der Kern der neuen Koalition sind die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) und die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), die bereits von 2007 bis 2015 gemeinsam regierten und weiterhin in mehr als der Hälfte der Woiwodschaftslandtage (sejmik) die Regierung stellen.
Die Mandatsverteilung und die politische Bedeutung der Wahlen entsprechen beinahe ideal den Simulationen, die auf Grundlage des vom Internetportal Politico veröffentlichten Umfragemittelwerts genau ein Jahr zuvor erstellt werden konnten. Allerdings erlebte Polen im Laufe dieses Jahres so viele große Schwankungen, Spekulationen, Hoffnungen und Befürchtungen, dass dieses Ergebnis als Überraschung aufgenommen wurde. Der Durchschnittswert der letzten Umfragen ergab ein besseres Abschneiden nicht nur für die PiS, sondern auch für die Konföderation (Konfederacja). Diese Gruppierung, formal eine Antisystempartei, war Gegenstand zahlreicher Mutmaßungen während des Wahlkampfes. Trotz offizieller Verneinung von beiden Parteien wurde über die Möglichkeit einer Verständigung zwischen der Konföderation und der PiS in dem Falle, dass beide Listen zusammen mehr als die Hälfte der Mandate erhalten würden, spekuliert.
Eine deutlich höhere Unterstützung als in den Umfragen sichtbar geworden war, erhielt dafür das Bündnis Dritter Weg (Trzecia Droga), eine Allianz aus der ältesten und der jüngsten polnischen Partei. Die Unterschiede zwischen der auf dem Land verwurzelten PSL und der Partei Polen 2050 (Polska 2050), gegründet vom Medienstar Szymon Hołownia, der erstmals 2020 mit 14 Prozent Unterstützung im ersten Wahlgang der Präsidentenwahlen in der polnischen Politik in Erscheinung getreten war, waren in mehrfacher Hinsicht offenkundig. Was beide Parteien allerdings verband, war ihre Position in der Mitte der polnischen politischen Bühne und die Angst vor der Möglichkeit, jede für sich die Fünfprozenthürde nicht zu überspringen. Ihre gemeinsame Liste belegte den starken dritten Platz, was als eindeutiger und überraschender Erfolg anerkannt wurde, auf dessen Ursachen im Folgenden noch eingegangen wird.
Die größte Überraschung war jedoch die Wahlbeteiligung, die eindeutig alles übertraf, was es jemals bei Wahlen nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems gegeben hat. Im Rückblick lassen sich dennoch deutliche Trends feststellen. Seit 2018 stellten die aufeinanderfolgenden Wahlen – der Selbstverwaltung, des Europäischen Parlaments, des polnischen Parlaments und die polnischen Präsidentenwahlen – jeweils Rekorde der Wahlbeteiligung auf. Es schien aber, als wäre die Rekordwahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen 2019 mit elf Prozentpunkten mehr als 2015 bereits der Gipfel des zivilgesellschaftlichen Engagements gewesen, den man hatte erwarten können, bzw. dass ein eventueller Anstieg zumindest geringer ausfallen würde als zuvor. Tatsächlich stellte sich aber der Anstieg als noch größer dar.
Die größte mediale Aufmerksamkeit erweckte der Anstieg der Wahlbeteiligung unter den jungen Großstadteinwohnern. Sie sind nicht nur die photogenste Wählergruppe, sondern auch die, welche – nicht nur in Polen – in der Regel seltener zur Wahl gehen als andere. Zusätzlich hatte der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung zur Folge, dass sich vor den großstädtischen Wahllokalen spektakuläre Warteschlangen bildeten. Indessen zeigen die Analysen nach den Wahlen, dass das Phänomen der Mobilisierung deutlich breiter war. Die meisten neuen Stimmen wurden in den Städten mittlerer Größe abgegeben. In Relation zum Ausgangsniveau stieg die Wahlbeteiligung am meisten unter der Landbevölkerung. Das Übergewicht an Beteiligung, das die Großstädte in Bezug auf die ländlichen Gebiete weiterhin aufrechterhielten, hat sich wie nie zuvor verringert. Und obwohl die PiS die stärkste Partei im am wenigsten urbanisierten Teil Polens blieb, war gerade dort der Zulauf für die Opposition am größten.
Der Anstieg der Wahlbeteiligung setzte sich aus vielen Faktoren zusammen. Die Gegner der Regierung wurden sowohl von deren Art des Regierens generell als auch vom aggressiven Ton des Wahlkampfes mobilisiert. Aber auch tiefere gesellschaftliche Veränderungen haben hier ihren Anteil – der Anstieg des Wohlstands und der Bildung und die älter werdende Gesellschaft. Es ist seit langem bekannt, dass Wohlstand, Bildung und das Alter individuell die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Wahlen teilzunehmen. So gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass sich generelle Veränderungen bei diesen Parametern nicht auf das Verhalten der betreffenden Gruppen auswirken.
Ein weiterer Faktor ist das zunehmende Gefühl der Einflussnahme. Die zwei Regierungsphasen der PiS haben gezeigt, dass Politik etwas ist, was auf das Leben des Einzelnen Auswirkungen hat, und auch, dass hier reale Alternativen zur Auswahl stehen. Die polnischen Parteien (die PiS an der Spitze) sind immer besser in der Gesellschaft verankert; sie bauen das Netz ihrer Aktivisten aus und optimieren die Art und Weise, wie sie die Wähler erreichen. Hinzu kommen umfangreiche Veränderungen im Bereich der gesellschaftlichen Kommunikation, angefangen von der Allgegenwärtigkeit der sozialen Medien, die es erleichtern, Menschen mit ähnlichen Einstellungen anzusprechen, bis zum online-Handel, der zielstrebig die Überzeugung erzeugt, dass jeder Kunde wichtig ist und seine Meinung Einfluss auf die anderen hat.
Der Verlust der Illusionen
Das Paradox des überrascht Seins von einem seit einem Jahr vorhergesagten Ergebnis hat seine Ursache auch in den Illusionen, in denen die Mehrheit der Parteien während dieses Jahres gelebt hat, von denen sie sich aber am Wahlabend unwiderruflich verabschieden mussten. Die Hoffnungen der Konföderation waren am jüngsten; die Unterstützung für sie war seit dem Frühjahr systematisch angestiegen. In den Umfragen im Juli erhielt sie 15 Prozent und etliche Simulationen und Spekulationen sahen sie bereits in der Rolle des Königsmachers, einer Partei, ohne die keine Regierung gebildet werden und die den beiden Hauptantagonisten Bedingungen stellen kann. Begleitet wurde dies von der Rhetorik des »umgestürzten Tisches«, was eine komplette Ummöblierung der politischen Bühne bedeuten sollte, um auf den Trümmern der PiS-PO-Spaltung eine Polarisierung aufzubauen, bei der die traditionell an der freien Marktwirtschaft ausgerichtete Rechte der Gegenspieler der traditionellen Linken wäre, die den Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt mit Sozialtransfers verbindet. So gesehen also die Abkehr von der seit 18 Jahren beobachtbaren Achse »von oben nach unten«, bei der sich der gesellschaftliche Konservatismus der PiS mit einer wirtschaftlichen Haltung, die an sich für die Linke typisch ist, verbindet. Größter Konkurrent ist dann die Partei, die liberalere Einstellungen sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch der Weltanschauungen hat.
Der Traum von einem Umbau war teilweise auch im linken Lager vorhanden, der allerdings vor allem die Hoffnung hegte, dass sich die Ereignisse der vorangegangenen Wahlen wiederholen könnten. Damals hatte das Bündnis dreier nicht allzu erfolgreicher Initiativen, das kurz vor den Wahlen geschlossen worden war, ein überraschendes, gut zweistelliges Ergebnis und 49 Sitze im Sejm erzielt.
Beide Illusionen lösten sich durch den sprunghaften Anstieg der Wahlbeteiligung in Luft auf, den zu nutzen der Konföderation und der Neuen Linken (Nowa Lewica) weniger gelang als den konkurrierenden Gruppierungen. Die Konföderation wurde nicht das »Zünglein an der Waage«, vielmehr kam sie wieder auf den fünften Platz des Wahlrankings und wird als einzige der bisherigen Oppositionsparteien eine solche bleiben. Wie zum Trost erhielt sie einige Mandate mehr als beim letzten Mal und ihre Fraktion stellt auch einen der Stellvertreter des Sejmmarschalls. Die Linke verlor die Hälfte ihrer Abgeordnetensitze, bekam aber nach 18 Jahren in der Opposition (vier davon außerparlamentarisch) die Chance, in die Regierung zurückzukehren. Der kleinere Partner des Bündnisses Neue Linke, die Partei Gemeinsam (Razem), verzichtete auf diese Chance. Das Übergewicht des oppositionellen Dreierbündnisses erwies sich jedoch als so groß, dass die neue Regierung auch ohne die sieben Mandate der Partei Gemeinsam die Mehrheit stellen kann. Das hat ihre Verhandlungsposition geschwächt, die ohnehin dadurch eingeschränkt ist, dass sie die kleinste Partei ist, sie ideologisch am weitesten von den anderen entfernt ist und die wenigsten Regierungserfahrungen im Siegerlager hat.
Die größte Oppositionspartei, die Bürgerplattform, musste sich ebenfalls von einigen Hoffnungen verabschieden. Das gesamte Jahr über zählte sie darauf, dass es ihr gelingen würde, die PiS im Wahlwettlauf zu überholen. Auch wenn der Plan fehlschlug und die Partei minimal mehr als 30 Prozent Unterstützung erhielt, hat der Erfolg ihrer Bündnispartner doch erlaubt, das finale Ziel zu erreichen: die Rückkehr Donald Tusks in das Amt des Ministerpräsidenten. Ganz offenkundig wurde als wichtigste Aufgabe erachtet, die PiS aus der Regierungsposition zu drängen. Allerdings rechneten PO-Politiker inoffiziell auch mit einer so dominierenden Rolle wie einst in den Parlamentswahlen 2007 und 2011. Obgleich die PO damals beide Male nicht die absolute Mehrheit erlangt hatte, hatte sie doch zwei bis drei kleinere Parteien als potentielle Koalitionspartner zur Auswahl. Das beschränkte offenbar die Erwartungen der PSL, mit der sie eine Regierung bildete. Manche kontroversen Projekte, etwa die Anhebung des Renteneintrittsalters, wurden nur dank dieses Manövrierfeldes durchgesetzt. Im Falle eines Auseinanderbrechens der Koalition hätte der kleinere Koalitionspartner PSL keinen anderen Anknüpfungspunkt gehabt, während für die PO ein potentieller neuer Partner bereit gestanden hätte. Jetzt muss sich die PO mit zwei weiteren Parlamentsfraktionen zusammentun und verfügt ihnen gegenüber nicht über ein solches Druckmittel.
Die meiste Zeit des vergangenen Jahres bemühte sich die PO ebenso nachdrücklich wie wirkungslos, als Opposition ein gemeinsames Wahlbündnis zu bilden. Im polnischen Wahlsystem kann dies bei der Umrechnung der Stimmen in Mandate zusätzlich belohnt werden. Die Bedingung ist allerdings, dass alle Wähler diesen Zusammenschluss akzeptieren und nicht eine alternative Gruppierung unterstützen. Hier fehlte es natürlich nicht an Analysen, die mögliche Verluste aufzeigten. Inoffiziell war aber auch die Meinung zu hören, dass eine gemeinsame Liste zu einer »Modernisierung« der Linken, der PSL und von Polen 2050 führen könnte. Dieses Wortspiel bezog sich auf das Schicksal der Partei Die Moderne (Nowoczesna), die 2019 zusammen mit der PO von einer gemeinsamen Wahlliste gestartet war und anschließend – sicherlich nicht allein aus diesem Grund – ihre Eigenständigkeit verlor. Sie wurde das, was in der polnischen Politik als »Anhang« bezeichnet wird, also eine formal selbständige Partei, die in der Praxis aber vollständig einem stärkeren Partner untergeordnet ist.
Es kam zu keiner »Modernisierung« der Partner, die alle als eigenständige Größen starteten. Ein Ausdruck dessen, dass die Position der kleineren Koalitionspartner stärker wird, ist die Wahl Szymon Hołownias, Parteichef von Polen 2050, zum Sejmmarschall. Seit einem Vierteljahrhundert ist es das erste Mal, dass dieses Amt nicht von der Partei des Ministerpräsidenten besetzt wird. Der einzige Verweis auf die Hoffnung der PO, die gesamte Opposition unter einem Schild zu vereinen, ist die Registrierung ihrer Wahlliste unter dem Namen Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO), was allerdings nur zur Folge hatte, dass es in der Medienberichterstattung zuweilen zu einem kleineren Durcheinander kam. In der Praxis sind »Bürgerplattform« und »Bürgerkoalition« Synonyme.
Die Bürgerplattform musste sich zusammen mit der Linken auch einer Tatsache stellen, die ihrer Überzeugung widerspricht, und zwar, dass die Polen auf eine Revolution in Weltanschauungsfragen dringend warten. Die abnehmende Unterstützung für die PiS setzte mit den Frauenprotesten gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts 2020 ein [Abtreibung ist demnach nur dann zulässig, wenn das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet sind oder wenn die Schwangerschaft die Folge einer Straftat ist, Anm. d. Übers.]. Formal war diese durch das Urteil des Verfassungstribunals begründet, aber im allgemeinen Verständnis kam sie durch eine Initiative von PiS-Chef Jarosław Kaczyński zustande, der damit den Aufstand der »Falken« in seiner Partei besänftigen wollte. So lebten die führenden Köpfe der beiden größten Oppositionsparteien in den letzten Jahren in der Überzeugung, dass es genüge, den freien Zugang zu Abtreibung zu vertreten, um sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedingung für einen Wahlerfolg zu erfüllen. Dies erwies sich als Irrtum – das prozentuale Wahlergebnis beider Listen insgesamt fiel geringer aus als 2019. Der entscheidende Zuwachs auf der Seite der Opposition kam dank der Liste des Dritten Weges zustande. Diese erklärte, zur Lösung der Abtreibungsfrage wie vor dem Jahr 2020 zurückkehren zu wollen, also nicht die vollzogene Änderung komplett umkehren zu wollen.
Letztlich glaubte die PiS, angefangen von ihrem Parteivorsitzenden bis hin zu ihren gewöhnlichen Anhängern, fest daran, dass sie sich an der Macht halten würde. Die Überzeugung von ihrer Überlegenheit und Autarkie wurde durch die Umfragen gestützt, in denen sie die Rankings anführte, sowie durch die von ihr kontrollierten Medien. Sie kreierten das Bild von der Regierung als »Ritter ohne Fehl und Tadel«, dem die selbstverständliche Überlegenheit gegenüber dem Sammelsurium niederträchtiger oppositioneller, zur unabwendbaren Niederlage verurteilter Nichtsnutze zukommt. Beendet wurde das Schwelgen in dieser verlockenden Phantasie mit einem schmerzhaften Erwachen nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses.
Die Anhäufung von Schwächen
Tatsächlich erlebte das Regierungslager sehr große Belastungen, es fehlte ihm allerdings der Wille, sich mit ihnen zu messen. 2019, vor den vorletzten Wahlen, erreichte die regelmäßig vom regierungsnahen Meinungsforschungsinstitut CBOS abgefragte Stimmung der polnischen Gesellschaft einen bis dato nicht erreichten Höhepunkt. Begleitet wurde dies von positiven Bewertungen der Regierung, ähnlich denen, die Ministerpräsident Donald Tusk und seiner PO-PSL-Koalition 2011 erlaubt hatten, die Regierungsverantwortung zu halten. Seit jenem Höhepunkt sanken jedoch schrittweise die Bewertungen des gesellschaftlichen Wohlbefindens sowie auch der Regierung. Die COVID-19-Pandemie, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Inflation sind die wichtigste, aber nicht die einzige Erklärung. Externe Probleme brachten ebenfalls eine Reihe von Fehlern und Konflikten im Regierungslager selbst mit sich. Obwohl es auch nicht an effektivem Handeln fehlte, bewirkte doch die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen und sich vor Kritik zu verteidigen – indem auf objektiv bestehende Schwierigkeiten verwiesen wurde –, dass die Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit wuchs. Das wiederum machte es unmöglich, die Fehler zu korrigieren. Insbesondere dann, wenn ihr Ursprung Entscheidungen des PiS-Chefs Jarosław Kaczyński selbst waren. Seine Autorität im eigenen Lager wollte, vielmehr wagte niemand infrage zu stellen. Diese mentale Zentralisierung der Partei hat sich von außen betrachtet in eine beispiellose Arroganz und Aggressivität gegenüber der Umgebung verwandelt. Gleichzeitig, parallel zum praktizierten Dogma der Unfehlbarkeit des Vorsitzenden, wurde das Regierungslager von einem Konflikt zwischen Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Justizminister Zbigniew Ziobro, dem Parteichef des kleineren Bündnispartners in der Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica), erschüttert. Aus heutiger Perspektive ist es Zeitverschwendung, alle Nuancen der internen Intrigen zu analysieren, welche die verzweifelten Versuche des Regierungslagers begleiteten, die Manövrierfähigkeit aufrecht zu erhalten. Es vermittelte den unstrittigen Eindruck, es sei des Regierens müde, während die Mehrheit der Polen immer stärker des Regierungslagers überdrüssig wurde.
Die Medien, die der PiS Rückhalt gaben, übten nicht nur keine Kontrollfunktion aus, im Gegenteil – in ihrer fieberhaften Erregung gestatteten sie keinen Schritt zurück, da dieser ein Ausdruck der Schwäche angesichts des dämonisierten Feindes gewesen wäre. Wahrscheinlich war es diese Fixierung, die sich als die größte Schwäche des Regierungslagers erweisen sollte. Die Konzentration auf die Bekämpfung Donald Tusks war auch mit Blick auf die formale Ausdifferenzierung der Kräfte des Antiregierungsbündnisses inadäquat. Der Druck der Opposition kam aus mehreren Richtungen, was den Sinn infrage stellte, alle Aufmerksamkeit allein auf den Anführer der größten Konkurrenzpartei zu fokussieren. Gewissermaßen selbstverständlich wurde die oppositionelle Botschaft mit dem Spiel des good cop, bad cop verknüpft. Die Linke versuchte an die zu appellieren, für die die Gegnerschaft zum ideologischen Profil der PiS in gesellschaftlichen Fragen Schlüsselbedeutung hatte. Beim Wahlbündnis Dritter Weg war es ganz anders: Es richtete seine Botschaft an die, die nicht so sehr aufgrund ideologischer Entscheidungen von der PiS enttäuscht waren, sondern wegen Ineffektivität, überflüssiger Konflikte und Machtmissbrauchs. Die Bürgerkoalition wiederum präsentierte sich generell als Alternative, sowohl weltanschaulich als auch mit Blick auf Effektivität, und reicherte das mit Aspekten der europäischen Beziehungen und ihrer starken Position in den Selbstverwaltungsorganen an.
Die Dämonisierung des Feindes, welche die Überzeugung von der außergewöhnlichen Bedeutung dieser Parlamentswahlen nährte, drängte die Regierung auch dazu, außerordentliche Mittel für die Sicherung der eigenen Überlegenheit zu suchen. Ohne jegliche Beschränkungen wurde nach Mitteln gegriffen, die den Machtorganen zur Verfügung standen, um sie für dieses Ziel einzusetzen. Die erste Geige spielte hier das öffentliche, regierungsnahe Fernsehen, das zu einem unglaublich aggressiven Instrument für Angriffe auf die Opposition, insbesondere Donald Tusk wurde. Die Bandbreite der Einfälle war jedoch noch deutlich größer. In der Hoffnung, die komplexe Geschichte der polnisch-russischen Beziehungen des letzten Vierteljahrhunderts ausnutzen zu können, wurde die Berufung eines parlamentarischen Sonderausschusses mit Sonderbefugnissen vorangetrieben, der »russische Einflussnahmen untersuchen« sollte [v. a. während der Regierungszeit von Donald Tusk, Anm. d. Übers.]. Zudem wurden die Parlamentswahlen mit einem Referendum verbunden, das am selben Tag stattfand und dessen Fragen so formuliert waren, dass sie sich eindeutig in den Tenor der Regierung einfügten. In diesem derart parteiischen Wahlkampf engagierten sich auch ohne Einschränkung staatliche Unternehmen. Ihre Leitungsgremien unterstützten ohne Ausnahme großzügig die Wahlfonds der Regierungspartei.
Ein weiterer, anders gelagerter Aspekt wäre hinzuzufügen: Es wurde rechtlich durchgesetzt, dass die lokalen Selbstverwaltungsbehörden Wahllokale auch in kleineren Ortschaften einrichten müssen, in der Hoffnung, dass sich die auf diese Weise angelockten Wähler dankbar der Regierungspartei gegenüber erweisen. Zugleich wurden Änderungen für die sich im Ausland aufhaltenden Polen eingeführt, die gewöhnlich gegen die PiS stimmen; die Änderungen wurden als Behinderung dieser Wählergruppe wahrgenommen. Solcherlei Maßnahmen erzeugten auf Seiten der Opposition (nicht immer rationalen) Widerspruch und Befürchtungen, ob die Stimmabgabe und die Auszählung ehrlich durchgeführt werden würden.
Letztlich lief es darauf hinaus, dass die PiS ihre Regierungsmacht trotz allen dafür eingesetzten Machtmissbrauchs verliert. Überdeutlich hat sich gezeigt, dass er keinerlei Nutzen brachte, sondern vielmehr die Motivation und Mobilisierung der oppositionell eingestellten Wähler stärkte. Man kann mit gezinkten Karten spielen und dennoch verlieren – was allerdings zusätzlich peinlich ist. Es bleibt die Hoffnung, dass diese Lehre in der Zukunft ähnliche Verlockungen unterbindet.
Hinzu kam, dass der Sieg des oppositionellen Dreierbündnisses so eindeutig war, dass er alle Zweifel in Bezug auf den Wahlvorgang zerstreute. Abermals bestätigte sich, dass dieser höchste Standards erfüllt. So wurden auch die organisatorischen Herausforderungen, die sich aus dem enormen Anstieg der Wahlbeteiligung und der zeitgleichen Durchführung des landesweiten Referendums ergaben – wenn auch mit Mühen – gemeistert.
Flut oder Tsunami?
Wenn das Wahlergebnis doch nicht komplett musterhaft ist, dann deshalb, weil es der PiS gelang, den ersten Platz im Wahlranking beizubehalten. Eine ähnliche Situation gab es bei den letzten Parlamentswahlen in Schweden sowie in Spanien. Allerdings unterscheidet sich der polnische Fall in wesentlichen Einzelheiten, und zwar zugunsten demokratischer Standards. In Schweden stützt sich der Regierungswechsel auf die im Parlament stark vertretene ultrarechte Partei Schwedendemokraten, welche die Minderheitsregierung duldet; eine Partei mit zweifelhafter Biographie, die bisher nicht einbezogen wurde. In Spanien wiederum war die Alternative zur gescheiterten Koalitionsbildung durch die größte Partei, die konservative Volkspartei, keineswegs selbstverständlich. Vermutlich wird es darauf hinauslaufen, dass eine sozialistische Minderheitsregierung extern von kontroversen Gruppierungen nationaler Minderheiten unterstützt wird. Die neue polnische Regierung wird eine eindeutige Mehrheit hinter sich haben, deren Akteure sich bereits vor den Wahlen zueinander bekannt haben und die aus ihren Reihen gemeinsam die Minister stellen.
Allerdings ruft die Haltung von Präsident Andrzej Duda Irritationen hervor. Er berief sich auf das spanische Beispiel und die heimische Tradition und entschied sich, die Aufgabe der Regierungsbildung dem bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki als Kandidat der größten Partei, der PiS, zu übertragen. Diese Entscheidung traf er trotz eindeutiger Erklärungen der Parteien, die zu dritt die Mehrheit im Sejm innehaben, dass sie einem eventuellen Angebot der PiS zur gemeinsamen Regierungsbildung nicht folgen und eine PiS-Regierung nicht unterstützen würden und dass sie sich bereits auf einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten geeinigt und einen Koalitionsvertrag unterzeichnet haben. Bestätigt wurde die Linie des Dreierbündnisses durch die eindeutige Abstimmung bei der Wahl des Sejmmarschalls sowie die Besetzung der parlamentarischen Ausschüsse.
Das Vorgehen bei der Regierungsbildung, für das sich der Präsident nun entschieden hat, ist nicht die stärkste Seite des polnischen Systems. Es ist allerdings eine Schwäche mit recht begrenzten Auswirkungen. Es handelt sich um eine nur einmonatige Verschiebung, bis die Mehrheit im Sejm ungeachtet des Präsidenten über ihren Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten abstimmen kann. Das ganze in Gang gesetzte Prozedere findet unter ständigen Warnungen statt, dass Morawieckis hoffnungslose Mission nur dazu diene, die Machtübergabe zu verzögern und Zeit zu geben, um die Spuren alten Machtmissbrauchs zu verschleiern und neuen auszuüben, indem zweifelhafte Verträge abgeschlossen und Prämien und Abfindungen ausgezahlt würden. Es scheint allerdings, als läge die Hauptursache für das gewählte Szenario anderswo. Die PiS hat ein Problem damit, die Nachricht vom Wahlausgang zur Kenntnis zu nehmen und eine Form zu finden, wie sie ihren treuen Wählern erklären, kann was »wirklich« passiert ist. Es geht ausschließlich darum, dass sich die Politiker selbst wie auch ihre Medien, die ihnen Rückhalt gaben, in ihrer selbstbetrügerischen Erzählung verstrickt haben. Erst der Kontakt mit den endgültigen harten Fakten kann sie von ihren Illusionen befreien. Wenn Donald Tusk an der Spitze der Regierung steht, gehen die letzten Hoffnungen verloren – warum sollte man sich schon früher von ihnen verabschieden?
Glücklicherweise gibt es keine realen Gründe für die Annahme, dass sich in Polen Ereignisse entwickeln könnten, wie sie nach der Niederlage von Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien zu beobachten waren. Es besteht nicht einmal die Notwendigkeit, auf die Vergeblichkeit solcherart Proteste hinzuweisen. Dessen ungeachtet ist die polnische Erregung sehr theatralisch, aber vor dem Übergang zu irgendwelchen realen Handlungen schützen die sehr starken Vorstellungen von der Notwendigkeit, die Stimmungen zu besänftigen und eine Verständigung zu suchen. Das bestätigt abermals das Wahlergebnis: Wenn im Allgemeinen der Dritte Weg, der dazu aufrief, den »polnisch-polnischen Krieg« einzustellen, als »Außenseiter« bezeichnet wurde, dann wird sein Wahlergebnis allgemein als Beweis dafür gelesen, dass die Wähler eine gesunde Vorstellung von Demokratie haben.
Das eingangs genannte fast idealtypische Modell eines demokratischen Machtwechsels setzt sich aus einer Reihe von Elementen zusammen. Es gibt ein etabliertes System von fünf Parteien, das um nur einen neuen Akteur, Polen 2050, bereichert ist, wobei dieser auf das Wurzelwerk der PSL aufgepfropft ist. Es gibt zwei Hauptparteien, die ihre Rollen tauschen – die Partei des Ministerpräsidenten gegen die größte Oppositionspartei. Es gibt die Partei, die »noch nie regiert hat« und auf ihre Chance wartet und sich dabei gestattet, ihren Einspruch gegen das »verfestigte System« zu erheben. Es gibt auch die Überzeugung, dass die Regierenden für ihre Fehler und ihren Missbrauch bezahlen werden, dass allerdings, um sie aus der Machtposition zu drängen, die Opposition Schlussfolgerungen aus ihren eigenen früheren Niederlagen und Schwächen ziehen muss. Es gibt schließlich die sehr starke Überzeugung, dass Manipulationen der Spielregeln keinerlei Nutzen bringen, sondern allein Verluste. Zu hoffen bleibt, dass weder die neue Regierungsmehrheit noch die Politiker des abtretenden Lagers, die die Hoffnung auf eine Rückkehr an die Macht in der Zukunft hegen, diese Lektionen nie vergessen werden.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate