Bevor wir jedoch zu den Unterschieden in der Haltung zur Moderne kommen, sollten wir uns anschauen, wie dieser Begriff nach dem Fall des Kommunismus verstanden wurde. Innerhalb der Solidarność, der Bewegung also, die 1988 die Veränderungen einleitete, welche im Februar 1989 zum Kontakt mit der kommunistischen Partei führten und in der Folge die ersten teilweise freien Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichten, gab es ein weites geistiges Spektrum, das von der Linken über die Liberalen bis zu verschiedenen Flügeln der Rechten reichte. Allerdings waren diese Unterschiede eher ideologischer und theoretischer Natur, denn niemand konnte vorhersehen, dass man in naher Zukunft die Verantwortung für die Lenkung des Staates übernehmen und eine normale demokratische Politik würde betreiben müssen.
Es ging dann sehr schnell mit den Veränderungen. Am 4. Juni 1989 brachten die Polen – obwohl sie nur über die Besetzung von einem Drittel der Sitze im Sejm sowie über die Zusammensetzung des nach dem Fall des Kommunismus wiederhergestellten hundertköpfigen Senats demokratisch entscheiden konnten – unmissverständlich ihren Willen zum Ausdruck, dass sie jene Macht nicht länger wollten, und so sprengten sie mit Hilfe ihrer Stimmzettel die Gitter, hinter denen sie seit 1945 eingesperrt gewesen waren. Die Erosion des Systems ging so schnell vonstatten, dass bereits im September eine Regierung gebildet wurde, mit einem Vertreter der Opposition als Ministerpräsident, während der Oppositionsführer einige Monate später in den ersten freien Parlamentswahlen zum Staatspräsidenten gewählt wurde.
Den Westen einholen
Die Wirklichkeit des realen Sozialismus war so grau und trist gewesen, dass die Richtung der Veränderungen offensichtlich war. Man wollte den Westen einholen und der Rückständigkeit des Kommunismus entkommen. Debatten über die Zukunft wurden damals praktisch nicht geführt. Der Kommunismus hatte in Polen in vielen Bereichen die Zeit angehalten – der wirtschaftliche und technologische Rückstand war immens. Dabei geriet den Polen jedoch aus dem Blick, dass das kommunistische System in vier Jahrzehnten einen vollständigen Umbau der Gesellschaft vollzogen hatte. Die soziale Schichtung war verschwunden, ein Großteil der Vorkriegseliten war entweder den deutschen Nazis oder den Kommunisten zum Opfer gefallen. Die jüdische Gemeinschaft, die im Vorkriegspolen mehr als drei Millionen Menschen umfasst und eine enorme wirtschaftliche und kulturelle Rolle gespielt hatte, war ebenfalls verschwunden. Der Philosoph Andrzej Leder nannte dies eine verschlafene Revolution – die tiefgreifenden sozialen Veränderungen, die eine völlig neue Gesellschaft geschaffen hatten, waren von den Aggressoren herbeigeführt worden.
In den ersten Jahren der Transformation spielten Personen, die dem rechten Flügel zuzurechnen waren, in der Regel keine wichtige Rolle. Infolge der wirtschaftlichen Turbulenzen gewann die Partei der postkommunistischen Linken 1993 die Wahlen, ihr Kandidat wurde 1995 für zwei Amtszeiten Präsident. Die politische Spaltung verlief zwischen dem Post-Solidarność-Lager (dominiert von der Post-Solidarność-Linken) und dem postkommunistischen Lager, erst 2005 begann sich diese Linie zu verschieben auf den Gegensatz zwischen dem Lager der Rechten und dem der liberalen Mitte. Daher bezeichneten einige konservative Vordenker die ersten Jahre des Übergangs als Phase einer Copy-Modernisierung. Alles wurde aus dem Westen übernommen und eins zu eins kopiert, ohne sich die Frage zu stellen, ob es zu den polnischen Besonderheiten passte. Damals kam auch die Sorge um die Form auf, die die Moderne annahm.
Eine weitere Quelle der Besorgnis war die Lehre von Johannes Paul II. Während seiner ersten Pilgerreise nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1991 war der Papst äußerst frustriert, als er sah, wie schnell die Polen dem Westen hinterherlaufen wollten, was für ihn einer Verleugnung des christlichen Erbes gleichkam. Deshalb billigte er einerseits den Übergang zu Demokratie und Kapitalismus, wandte sich aber andererseits gegen die Abtreibung sowie die Ausgrenzung von Arbeitslosen und älteren Menschen, die die größten Verlierer der Transformation wurden.
Dennoch herrschte im ersten Jahrzehnt der Transformation ein parteiübergreifender Konsens darüber, dass es notwendig sei, sich in die Strukturen des Westens zu integrieren, also Teil der NATO und Mitglied der Europäischen Union zu werden. Als Letzteres 2004 gelang, entstand in der polnischen Politik eine Art Vakuum. Das wichtigste zivilisatorische Ziel war erreicht – der Fairness halber muss man zugeben, dass auch das postkommunistische Lager die EU-Beitrittsbestrebungen loyal mitgetragen hatte – und nun stellte sich die Frage, wie es weitergehen sollte.
Zu diesem Zeitpunkt drängte eine Debatte, die zuvor nur am Rande stattgefunden hatte, in den Vordergrund. Vor dem Referendum von 2003, das über den Beitritt Polens zur Europäischen Union entscheiden sollte, wurden auf der rechten Seite Stimmen laut, die heute noch viel stärker sind. Es war die Überzeugung, dass die Richtung, in die der Westen sich entwickelte, keineswegs ideal sei. Dass die Moderne nicht nur traditionellen Auffassungen vom Glauben, sondern auch von der nationalen Identität der Polen widerspreche.
Das Verhältnis zur Moderne als Grund der Spaltung
Auch aus diesem Grund bezeichnen Politikwissenschaftler die Wahlen von 2005 als den Moment, in dem der frühere Streit zwischen Postkommunismus und Post-Solidarność durch eine neue Spaltung ersetzt wurde, verkörpert von zwei Persönlichkeiten, die auch bei den Wahlen 2023 aufeinandergetroffen sind: Donald Tusk, dem Führer des liberalen Lagers, und Jarosław Kaczyński, dem Führer des nationalkonservativen Lagers. Das Paradoxe daran ist, dass Kaczyński und Tusk 2005 eine gemeinsame Regierung nach den Wahlen geplant hatten, bei denen die postkommunistische Linkspartei schließlich auseinanderfiel. Beide entstammten antikommunistischen Milieus. Kaczyński kam aus einer Familie der Warschauer Intelligenz, Tusk aus einer Arbeiterfamilie, er war von Anfang an mit den Danziger Liberalen verbunden gewesen. Beide hatten sich gut ergänzt.
Doch ihr Bündnis kam 2005 nicht zustande. Im Gegenteil, Tusk und Kaczyński wurden zu erbitterten Gegnern. Kaczyński bewegte sich allmählich von einer großstädtischen Mitte-Rechts-Position hin zu einem volkstümlichen Katholizismus, während Tusk langsam nach links rückte. Kaczyński, der anfangs vor zu kirchennahen Parteien gewarnt hatte, verbündete sich mit katholischen Kreisen, was zu einer Radikalisierung der Rechten führte. Tusk ging zunehmend Bündnisse mit Kreisen der liberalen Linken ein.
Das liberale Lager sah in der Moderne eine Chance, die Gesellschaft zu modernisieren und Merkmale zu verändern, die entweder aus früheren Zeiten in der Gesellschaft übriggeblieben oder unter dem Einfluss des Kommunismus entstanden waren. Das rechte Lager hingegen begann, die Moderne als Bedrohung für seine Identität zu sehen und übernahm das Narrativ von der Copy-Modernisierung, der Nachäffung des Westens und der gedankenlosen Fixierung auf Deutschland als zivilisatorisch überlegener Nation. All dies hat dazu geführt, dass sich die von Kaczyński dominierte Rechte heute in einer zunehmend antiwestlichen, EU-feindlichen und antideutschen Haltung verschanzt.
Ein guter Prüfstein für die Einstellung der verschiedenen rechten Strömungen im heutigen Polen zur Moderne ist die Frage, wie sie sich innerhalb des katholischen Spektrums positionieren. Die traditionalistische Strömung, ideologische Erbin der Philosophie von Joseph de Maistre, ist fest davon überzeugt, dass der Westen vor zwei Jahrhunderten vom rechten Pfad der Entwicklung abgewichen ist und sich mit der Aufklärung verirrt hat. In diesem Sinne hat der Begriff der Moderne etwas grundlegend Böses an sich; er ist ein Kind der Aufklärung, eine Rebellion der überheblichen menschlichen Vernunft gegen die dem Menschen von Gott gegebene Ordnung. In dieser traditionalistischen Strömung vereinen sich somit mehrere für das dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts charakteristische Phänomene. Dies sind erstens die Überzeugung vom moralischen und intellektuellen Verfall der katholischen Kirche, die Ablehnung der Reformen des Vatikanischen Konzils, die Treue zur traditionellen Liturgie und der Kampf gegen Erscheinungsformen des Modernismus im Katholizismus. Zweitens herrscht die Meinung vor, dass alles, worauf der Westen so stolz ist, Ausdruck einer neuen Versklavung sei. Es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Kreisen – in der weicheren Version – die Protestbewegungen gegen die gesundheitspolitischen Einschränkungen während der Coronavirus-Pandemie populär waren oder gar – in der härteren Version – die Überzeugung vorherrschte, der Coronavirus solle dazu dienen, eine neue Ordnung, ja Weltordnung zu schaffen. Hier verband sich das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft – der fehlende Glaube an die Wirksamkeit der Impfungen und die Auffassung, dass mit diesen versucht werden solle, einen neuen Menschen zu schaffen – mit dem Misstrauen gegenüber der Technologie, gegenüber neuen Entwicklungen sowie der Warnung vor der Schädlichkeit der angeblich noch nicht erforschten Wellen, die von Windrädern, WiFi-Routern oder 5G-Mobilfunkmasten der fünften Generation ausgehen.
Diese Fraktion begegnet interessanterweise sowohl der Europäischen Union als auch den Vereinigten Staaten mit Abneigung, denn in diesen beiden Organismen werden die neuen Entwicklungen in überspitzter Form angeblich besonders deutlich.
Das Heilmittel für die Krise der Kirche und der christlichen Identität suchen die Traditionalisten eher in einer Rückkehr zur Orthodoxie als in Versuchen, sich der Moderne »anzudienen«. Deshalb entscheiden sich traditionalistische Kreise, die gar nicht so marginal sind, für eine Art Eskapismus. Sie glauben nicht, dass es möglich ist, von der Moderne infizierte Systeme zu heilen und versuchen daher, sich so weit wie möglich aus ihnen zurückzuziehen. Dies gilt insbesondere für den Bildungsbereich, der für die Traditionalisten der kritischste Bereich ist; deshalb ist die Heimerziehung in diesen Kreisen populär, bedeutet sie doch, dass man keine Kompromisse mit der Realität eingehen muss, vor nichts zurückweichen muss, nicht so tun muss, als sei es möglich, etwas so Wichtiges wie die Erziehung und Bildung von Kindern nach einem die Moderne ablehnenden Modell mit einem Bildungssystem zu vereinbaren, das Teil der Moderne ist. Das Paradoxe in Polen ist jedoch, dass die Organisationen des Bildungssystems durch und durch veraltet sind. Diese Art des Denkens ist typisch für die rechtsnationalistische Konföderation (Konfederacja) und den rechten Flügel von Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), der mit Zbigniew Ziobro, dem Vorsitzenden der Partei Souveränes Polen (Suwerenna Polska) verbunden ist, mit der Kaczyński von 2015 bis 2023 regierte.
Der rechte Gegenentwurf zur Moderne
Einen anderen Zugang zur Moderne hat das einflussreichste konservative Lager um die PiS. Für dieses Lager sind Katholizismus oder Patriotismus lediglich Mittel zum Zweck politischer Mobilisierung. Die Kirche wird hier als ein Instrument zur Kontrolle der Gesellschaft und als Organisatorin der sozialen Ordnung gesehen, nicht als Hüterin der Wahrheit oder des Glaubens im metaphysischen Sinne. Insofern dient die in Polen vorherrschende Auffassung von der Moderne eher politischer Funktionalität als dem Glauben an eine zeitlose Ordnung. Die Angst vor dem Westen, vor Modernisierung und Säkularisierung, entspringt eher der Überzeugung, dass es einfacher ist, eine Gesellschaft zu regieren, in der es klare moralische Prinzipien gibt und deren Ordnung hauptsächlich auf der Religion basiert, als eine Gesellschaft, in der Vermassung, Säkularisierung oder andere Merkmale der Moderne so weit fortgeschritten sind, dass die bisher bestehenden Normen gewissermaßen verkümmert sind. Die Moderne, die mit der Europäischen Union, mit Brüssel und Berlin verbunden wird, wird als Bedrohung dieser traditionell polnischen Ordnung und der polnischen Identität gesehen.
So betrachtet ist diese Identität jedoch vor allem reaktiv. Ein derartiger Konservatismus ist ohne missionarischen Eifer, entgegen dem Anschein will er niemanden bekehren. Sehr gern erklärt er sich jedoch zum Verteidiger der christlichen Welt, die angeblich vom Westen, der Europäischen Union, der progressiven Linken und allen anderen Bedrohungen – der LGBT-Ideologie, Gender u. ä. – attackiert wird. Das ist das Ergebnis einer spezifischen Mixtur aus einem volksnahen, gegenüber sittlichen »Neuerungen« misstrauischen Konservatismus und einem populären Katholizismus, der daran gewöhnt ist, dass die Religion die Basis einer bestimmten Ordnung ist; und selbst wenn Konservative persönlich nicht im Einklang mit der christlichen Moral leben, verteidigen sie die Kirche als sicheren Hort der Ordnung.
Gemäß dieser Vorstellung ist der Umgang mit der »Moderne« eher paradox. Auf der einen Seite steht eine deutliche Faszination für die Effizienz der Moderne, für moderne Methoden der Unternehmensführung, für die Kultur der Start-ups und der modernen Technologie, welche als Verheißung erscheinen, um die zivilisatorische Entwicklung nachholen zu können, aus der Rückständigkeit auszubrechen, in die Polen im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Teilungen durch Preußen, Österreich und Russland verfiel, aber auch im 20. Jahrhundert infolge der Kriegszerstörungen durch Nazideutschland und der darauffolgenden Konservierung in den Absurditäten der kommunistischen Wirtschaft. Wenn es also möglich wäre, eine moderne, digital basierte Wirtschaft zu kopieren und diese aus Finnland, Estland oder direkt aus dem Silicon Valley zu importieren, aber gleichzeitig den moralischen Wandel einzufrieren, die Säkularisierung zu verlangsamen und Polen zu einer Art gesellschaftlichem Reservat zu machen, dann wäre dies die Vision der Moderne, von der die Anhänger der PiS-Partei träumen.
Ich habe die Kriegszerstörungen erwähnt, weil in diesem Narrativ die Forderung nach Reparationen von Deutschland oder generell ein starkes Eintauchen in ein identitätszentriertes Geschichtsbild paradoxerweise nicht von einer Fixierung auf die Vergangenheit zeugt, sondern gerade den Versuch darstellt, eine einigermaßen faire Wettbewerbssituation für eine Wirtschaft wiederzuerlangen, die zur Isolation im Ostblock verurteilt war und nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ohne Marshallplan oder externe Hilfe aufgebaut werden musste.
Übrigens spielt die Vergangenheit für die polnische Rechte generell eine ziemlich paradoxe Rolle. Diverse Jahrestage wichtiger Ereignisse, historische Feierlichkeiten und die Eröffnung neuer Museen dienen nicht der Aufarbeitung historischer Traumata, sondern dazu, nationales Heldentum nachzuerleben. Indem sie die Jahrestage der Schlacht vom 15. August 1920 feiert, als die Truppen von Marschall Józef Piłsudski die bolschewistische Armee besiegten, die die kommunistische Revolution in den Westen tragen wollte, besiegt die Rechte Russland erneut. Indem sie den Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands vom 1. August 1944 feiert, triumphiert die Rechte einmal mehr moralisch über die Deutschen, obwohl dieser Aufstand mit dem beispiellosen Niedermetzeln Zehntausender Warschauer Zivilisten und der fast völligen Zerstörung einer der größten Städte in diesem Teil Europas sowie zahllosen Kriegsverbrechen endete. Mit einer solchen Einstellung zur Vergangenheit ist es jedoch schwierig, aus Fehlern zu lernen; eher geht es darum, sie nachzuerleben. Doch dieses paradoxe Verhältnis zur Vergangenheit spiegelt die Haltung zur Moderne wider. Sie erscheint einerseits als Möglichkeit, all dem zu entkommen, was in der Vergangenheit misslungen ist, aber zugleich weckt sie Ängste angesichts des rasenden Tempos, in dem sich der Wandel in den westlichen Gesellschaften vollzieht.
Diese Art des Denkens war im Übrigen im letzten Wahlkampf in Polen gut zu beobachten. Der stellvertretende Vorsitzende der Regierungspartei PiS, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, sagte in einem Interview mit dem Fernsehsender Polsat News: »Wir wollen, dass das Leben in Polen wie das Leben im Westen ist, aber ohne die dortigen Fehler.«
Bei anderer Gelegenheit äußerte er auf einer Wahlveranstaltung im ostpolnischen Kraśnik: »In vier bis acht Jahren werden wir in der Lage sein, auf dem Niveau der westlichen Länder zu leben, aber ohne ihre entsetzlichen Fehler, ohne Horden muslimischer Migranten, ohne ideologisch bedingte Revolutionen.«
Solche Gedanken werden in der polnischen Rechten immer populärer. Ihnen zufolge hat Europa aufgehört, Europa zu sein, und der Westen ist nicht mehr der Westen, sondern ist zu einer Art post-europäischem und post-westlichem Gebilde mutiert. Das Erbe des Westens, Europas usw. bleibe jedoch in der polnischen politischen Kultur unverändert erhalten. Daher rührt die Überzeugung eines großen Teils des PiS-Lagers, dass der Westen sich unnötig um den Zustand der Demokratie in Polen sorge und sich zu Unrecht in die eigenständige polnische Politik einmische. Deshalb fühlt sich die Rechte vom Westen verfolgt und hält die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit oder an den Versuchen, einen demokratischen Staat mit illiberalen Mitteln aufzubauen, für eine Art Strafe der einflussreichsten Akteure in der EU, also von Berlin oder Paris, dafür, dass Polen katholisch bleibe und von einer Rechtskoalition regiert werde, die stolz darauf ist, sich nicht den Grundsätzen der politischen Korrektheit zu beugen, was aber in Wahrheit nur die Duldung einer immer stärkeren politischen Radikalisierung kaschiert.
Dieser Teil des rechten Lagers ist davon überzeugt, dass das aktuelle Modell der Moderne, das wir in vielen Ländern des Westens sehen, eine Art Betriebsunfall ist, eine Entgleisung des Zugs der Geschichte. Er ist nicht so radikal wie de Maistres Ultra-Traditionalisten, hält aber dennoch ständig Ausschau nach Anzeichen für eine Ermüdung dieser Richtung der Moderne auch in anderen Ländern. Mit Bewunderung blickt er auf die amerikanische Alt-Right, die sich gegen den Einfluss der Gender-Ideologie wehrt und den Wokeismus bekämpft, das heißt die auf der Linken verbreitete Überzeugung, dass die Kultur, Tradition und Religion der westlichen Welt mit der Diskriminierung verschiedener Gruppen einhergehe – von Frauen über nicht-weiße, nicht-heteronormative Menschen bis hin zu religiösen und kulturellen Minderheiten. Mit anderen Worten, dass Religion, politische Traditionen und kulturelle Muster dafür da seien, die Vorherrschaft heterosexueller, weißer, christlicher Männer zu stärken. Deren Interessen seien auch die Institution der Familie, die Sexualmoral, Ethik und Religion, der Kult der Arbeit, die Einstellung zur Sklaverei und die Ausbeutung der Arbeitskraft von Menschen anderer Hautfarbe untergeordnet. Deshalb hört dieser Teil der Rechten so gerne auf jene republikanischen Politiker, die davor warnen, die Linke wolle Amerika seiner Identität, seiner Geschichte, seiner Traditionen und seiner Kultur berauben, und dieses solle sich für alles schämen, was Amerika zu Amerika macht. Denn genau die gleichen Tendenzen sehen sie in Westeuropa, in der Europäischen Union.
Und wenn in den USA die radikale Rechte das Kapitol stürmt, Literatur aus Schulbibliotheken wirft, die ihrer Meinung nach schädlich ist, wenn sich Proteste gegen die Geschlechtsumwandlung von Transgender-Jugendlichen erheben, dann reibt sich dieser Teil der Rechten die Hände und überlegt, ob vielleicht der geeignete Zeitpunkt gekommen ist, an dem die westlichen Gesellschaften »aufwachen« und genug haben von ideologischen Umwälzungen, moralischen Revolutionen und all dem, was schlecht ist an der Moderne.
Einer der Triebkräfte für diesen Kreuzzug ist die Ablehnung der Migration. Ob in Polen, den Ländern Westeuropas oder den USA, gerade der Widerstand gegen unkontrollierte Migration ist eines der wichtigsten Motive der identitären Rechten. Im radikalen Flügel der amerikanischen Alt-Right herrscht der Glaube vor, es gebe einen Plan, die gegenwärtige amerikanische Bevölkerung durch Neuankömmlinge aus anderen Ländern zu ersetzen, die – nach der Theorie des Wokeismus – eine völlig neue Gesellschaft und Kultur schaffen und den Boden für eine neue, diskriminierungsfreie Zivilisation bereiten sollen. Aber auch die polnische identitäre Rechte ist davon überzeugt, dass es einen geheimen Plan gibt, die Polen zu entnationalisieren, sie ihrer eigenen Identität zu berauben und polnische Straßen in No-go-Areas zu verwandeln, in denen arabische Banden herrschen und polnische Frauen sich nach Einbruch der Dunkelheit aus Angst vor Gewalt nicht mehr auf die Straße trauen. Hier erscheint wieder das Motiv eines gescheiterten Europas, das nicht in der Lage ist, mit den Neuankömmlingen aus den arabischen oder allgemein aus muslimischen Ländern fertig zu werden, ein Motiv, das den bevorstehenden Zusammenbruch des Westens belegen soll.
Gibt es einen offenen Konservatismus?
Es gibt aber auch eine andere Strömung des polnischen Konservatismus, die heute politisch eher isoliert scheint. Diese ist – wenn auch immer seltener – am Rand von Tusks Partei zu finden, auch am Rand der PiS oder des von der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) gebildeten Bündnisses aus christlichen Parteien und denen der politischen Mitte. Sie ist ein mit dem Katholizismus verbundener Teil des Konservatismus, der glaubt, dass ein Bündnis mit der nationalpopulistischen Rechten von Jarosław Kaczyński sehr schlecht für die Kirche ist. Erstens, weil sich ein Teil der Konservativen nicht mit dessen Programm identifizieren kann, zweitens, weil viele Polen, die die Verstrickung des Klerus mit der Politik der identitären Rechten sehen, aus Opposition gegen die Politik der PiS auch Kirche und Katholizismus ablehnen, obwohl sie in der christlichen Tradition aufgewachsen sind.
Diese Ablehnung geht jedoch viel tiefer als ein rein taktisch bedingter politischer Schachzug. Denn es gibt konservative Kreise, die mit der Radikalität von Kaczyński, Orbán oder Trump nichts zu tun haben wollen. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst, berufen sie sich auf das Denken von Edmund Burke, der den gesellschaftlichen und zivilisatorischen Wandel für unvermeidbar hielt.
Die gesellschaftliche Realität müsse sich ändern, so ihre Haltung, und die Rolle der Konservativen bestehe darin, dafür zu sorgen, dass diese Veränderungen evolutionär und nicht revolutionär ablaufen. Der Glaube, dass jede Veränderung ein Übel sei und eine Entscheidung für etwas Schlechteres bedeute, ist nicht das einzige Verständnis von Konservatismus. Eben für diese Gruppe der polnischen Rechten gibt es einen gewissen Spielraum für den Dialog mit der Moderne. Diese Strömung begreift, dass auf soziale Veränderungen auch Wandlungen von Moralvorstellungen folgen, und glaubt daher nicht, dass man den zivilisatorischen Fortschritt des 21. Jahrhunderts mit einer Gesellschaftsordnung aus dem 19. Jahrhundert kombinieren kann. Sie kritisiert beispielsweise die Radikalität der Neudefinition der sozialen Rollen unter dem Einfluss des Genderismus, leugnet aber nicht, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft jahrhundertelang völlig zu Unrecht eine untergeordnete war. Daher könne man heute nicht behaupten, dass es möglich sei, die alte Gesellschaftsordnung wiederherzustellen und gleichzeitig die von den Frauen für sich selbst erkämpften Rechte und Freiheiten zu bewahren. Diese Strömung bekennt sich zur Rolle der Familie und zur Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau, lehnt aber die homophobe Sprache des dominierenden Teils der Rechten ab, der das LGBT-Milieu zum Hauptfeind macht. Sie zieht es vor, über die sozialen und kulturellen Folgen eines gesellschaftlichen Wandels zu diskutieren, demzufolge jeder Mensch seine eigene Geschlechtsidentität definiert, wodurch schwierige Situationen im Sport, in Krankenhäusern usw. entstehen. Sie hält das Leben für etwas Heiliges, unterstützt aber deswegen nicht unbedingt das Lager der PiS, das aus rein politischen Gründen Restriktionen im geltenden Abtreibungsgesetz eingeführt und damit schwere soziale Unruhen hervorgerufen hat.
Deshalb stört sich diese Strömung am Radikalismus der rechten Mehrheit, aber sie ist auch in der Lage zu erkennen, dass dies das Ergebnis eines umfassenderen Phänomens ist, nämlich der Radikalisierung der identitären Rechten, mit dem wir es in den USA, Großbritannien, Frankreich oder Deutschland (in Gestalt der AfD) zu tun haben. Dieser Teil der konservativen Rechten glaubt – im Gegensatz zu den katholischen Traditionalisten oder der mit der PiS verbundenen Rechten – nicht, dass die christliche Ordnung heute wiederhergestellt werden kann. Dafür haben sich die Gesellschaften zu sehr verändert. Deshalb glaubt er, dass in den wichtigsten Fragen ein politischer und gesellschaftlicher Konsens gefunden werden muss. Für die radikale Rechte hingegen ist ein solcher Konsens ein Zeichen der Schwäche, des Nachgebens, eines Zurückweichens vor der Gegenwart. Und wenn diese böse ist, so die vorherrschende Meinung der Radikalen, dann dürfen mit dem Bösen keinerlei Kompromisse eingegangen werden. Der gemäßigte Konservatismus lehnt ein solches Schwarz-Weiß-Denken ab. Doch solange die Polarisierung zwischen der identitären radikalen Rechten und dem linksliberalen Lager anhält, wird es für einen gemäßigten Konservatismus nicht viel Raum geben.
Übersetzung aus dem Polnischen: Uli Heiße