Der langweiligste Wahlkampf der letzten Jahre?
Bislang hatte ich meinen Studierenden beigebracht, dass in den EU-Mitgliedsländern die Wahlen zum Europäischen Parlament gewöhnlich weniger Beachtung finden als die Wahlen der Nationalparlamente und dass häufig Politiker der zweiten Reihe nach Brüssel und Straßburg geschickt werden. Ich hatte mich über Diskussionen im Wahlkampf empört, die sich mit nationalen Angelegenheiten beschäftigten, für die das Europäische Parlament gar keine Kompetenzen hat, die aber Emotionen hervorriefen und zur Polarisierung der öffentlichen Meinung führten, so auch in Polen. In dieser Hinsicht waren die Wahlen zum Europäischen Parlament 2024 in Polen anders als jemals zuvor. Die ersten Plätze auf den Wahllisten der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO) waren mit Ministern der Regierung von Donald Tusk besetzt und eben nicht mit zweitrangigen Politikern, und die Listen von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Srawiedliwość – PiS) strotzten nur so vor Politikern der ersten Liga oder zumindest bekannten Namen. Die öffentliche Debatte betraf mit Fragen der Sicherheit, der gemeinsamen Verteidigung und des Europäischen Green Deal sehr europäische Themen. Überhaupt legten viele Experten angesehener Denkfabriken nahe, dass sich die demokratischen Gruppierungen in den EU-Mitgliedsstaaten Themen widmen sollten, die in den betreffenden Ländern wichtig sind – auch oder sogar insbesondere, wenn diese die Öffentlichkeit polarisieren. Die dahinter stehende Absicht war, auf diese Weise den stärker werdenden antieuropäischen Populisten entgegenzutreten. Viele Experten, auch ich gehörte dazu, sprachen von der überaus wichtigen Bedeutung dieser Europawahlen und der absoluten Notwendigkeit, sie im Wahlkampf als Kampf des Guten mit dem Bösen darzustellen und nicht nur als Wettbewerb zwischen zwei Visionen der Europäischen Union. Es ging darum, die polnische, konsequent proeuropäische, Gesellschaft zur Stimmabgabe zu mobilisieren, insbesondere die junge Generation und die Frauen. Es ging außerdem darum, die Bedrohung durch den Populismus zu verdeutlichen, der zu einer Stärkung der Nationalismen und sogar zu einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union führen kann. In einem Staat, in dem vor einem guten halben Jahr fast drei Viertel der Stimmberechtigten an den Sejmwahlen teilgenommen und unter Beteiligung großer Emotionen die Populisten aus der Regierung gedrängt hatten, schien es, dass die demokratischen Parteien alle Anstrengungen unternehmen sollten, um die Emotionen erneut anzuheizen und den Wahlkampf intensiv zu nutzen. Doch abgesehen von einigen wenigen Versuchen, zufällig auftretende günstige Gelegenheiten im Wahlkampf aufzugreifen (z. B. die Flucht eines Richters aus dem Umfeld des ehemaligen Regierungslagers der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) nach Belarus; er wird der Spionage verdächtigt, oder die Milliardenverluste des Mineralölkonzerns Orlen infolge des schlechten Managements seines Vorstands Daniel Obajtka, der ganz offenkundig die Interessen der PiS verfolgt), war der Wahlkampf der aktuellen Regierungspartner, der KO, des Dritten Weges (Trzecia Droga) und der Linken (Lewica), kurz, langweilig und ideenlos und richtete sich nur an die jeweilige Kernwählerschaft. Genauso wenig anregend war der Wahlkampf der PiS. Der Wahlkampf der Konföderation (Konfederacja) war traditionell in bestimmten Aspekten am interessantesten und engagiertesten, vor allem im Internet.
Wie kam es dazu? Es gibt hierfür einige wesentliche Gründe.
Erstens. Der Wahlmarathon mit den Parlamentswahlen im Oktober 2023, den Kommunalwahlen im April 2024 und den anstehenden Europawahlen im Juni war für die polnische Gesellschaft etwas ermüdend. In Polen besteht keine Pflicht, an den Wahlen teilzunehmen, und für viele Menschen ist es schlicht etwas Unangenehmes, da es mit Politik zu tun hat, nach der sich die Polen ohnehin nicht reißen. Die polnische Zivilgesellschaft ist durchaus in der Lage sich zu mobilisieren, was bei den letzten Sejmwahlen zum Ausdruck kam, aber außerhalb solcher Phasen intensiver Mobilisierung nutzen die Polen ihre Instrumente zur Einflussnahme auf die Regierung nicht besonders gern. Auf der anderen Seite teilt auch die Regierung nur ungern ihre Macht mit den Bürgern (die Mittel der direkten Demokratie sind recht eingeschränkt und die aktuelle Regierung hat nicht einmal einen Beauftragten benannt, welcher der Gesellschaft systematisch Informationen über das Regierungshandeln mitteilen würde). Zwar hatten neun andere EU-Mitgliedsstaaten eine niedrigere Wahlbeteiligung als Polen (40,65 Prozent) bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, aber Polen lag deutlich unter dem EU-Durchschnitt (51,08 Prozent). Viele, vor allem junge Polen waren der Meinung, dass die »Auflehnung« im Oktober, als wählen zu gehen ganz einfach in Mode und nicht wählen zu gehen peinlich war, ihr zivilgesellschaftliches Pflichtgefühl erschöpft hat. Die Kommunalwahlen verzeichneten bereits eine recht niedrige Beteiligung (51,94 Prozent) und für die Europawahlen war bei gutem Wetter und einem vorangegangenen langen Wochenende Ähnliches zu erwarten.
Zweitens. Die PiS hat ihre Wähler in den acht Jahren Regierungszeit so »einbetoniert« (mit einer Mischung aus Populismus, Nationalismus und Fürsorge), dass ihnen als einzige »Bestrafung« für ihre Partei blieb, nicht zur Wahl zu gehen oder für eine sehr ähnliche Gruppierung zu stimmen, die zudem mutmaßlich keine von Affären belastete Vergangenheit hat – die rechtsnationale Konföderation. In den Umfragen und Untersuchungen war daher eine Wählerwanderung von der PiS zur Konföderation zu sehen.
Drittens. Insbesondere im Zusammenhang mit den Bauernprotesten und der Infragestellung des Europäischen Green Deal, aber auch mit Blick auf die polnische Position zum sog. EU-Migrationspakt hat sich Ministerpräsident Donald Tusk keineswegs so proeuropäisch gezeigt, wie man es hätte erwarten können. Tusk ist schon immer dafür bekannt gewesen, dass er die Umfragen und die Stimmung der öffentlichen Meinung aufmerksam beobachtet, und diese zeigten Unterstützung für die Bauernproteste und Ablehnung der EU-Migrationspolitik. Daher konnten viele europabegeisterte nicht-PiS-Wähler die Europapolitik der Regierung nicht verstehen und wollten schlicht und einfach überhaupt nicht ihre Meinung dazu kundtun, was bedeutete, dass sie nicht wählen gingen. Auch viele (v. a. junge) prodemokratische Wähler, die bei den Parlamentswahlen im Oktober 2023 abgestimmt hatten, nahmen an den Europawahlen nicht teil, denn keine der kandidierenden Gruppierungen zeichnete sich dadurch aus, die Forderungen in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche, LGBTQ+ und die tatsächliche Trennung von Kirche und Staat entschieden umzusetzen zu wollen. Hier kam es insbesondere bei Szymon Hołownia (Polen 2050/Polska 2050) zu Verlusten – von einem Star, der ein Massenpublikum für die übertragenen Parlamentsdebatten begeistert hatte, wandelte er sich in einen »kirchennahen Aussitzer«, der keinen Mut hatte, sich von seinen privaten Ansichten zu lösen und die jungen Polen zu vertreten. Zweifelsohne hatten seine Entscheidungen, die Diskussion über die Gesetzesentwürfe zur Liberalisierung des Abtreibungsrechtes zurückzustellen, zur Folge, dass ein Teil seiner progressiveren Wählerschaft verlorenging. Die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL) ist traditionell auch keine Partei, die bei den Wahlen zum Europäischen Parlament triumphiert. Ihre ländliche Wählerschaft zeigt sich in diesem Bereich nicht besonders aktiv und der Europäische Green Deal war eher ein Thema, das die Bauern von der Europäischen Union abschreckte, als dass die Perspektive des wachsenden Wohlstandes und der Gegenmaßnahmen gegen Dürre im Vordergrund gestanden hätte. Zudem hat die PiS auf dem Land nach wie vor einen starken Einfluss.
Viertens. Die polnische Gesellschaft hält die Europawahlen nicht für wesentlich, denn sie weiß immer noch wenig über das Europäische Parlament und die Europäische Union. Das ist das Ergebnis einer schwachen EU-Informationspolitik in den Mitgliedsstaaten und auch fehlender Informationen vonseiten der Landespolitiker. Zudem verfolgten Letztere in den vergangenen Jahren häufig die Strategie, die EU für Krisen verantwortlich zu machen, während der nationalen Regierung die Erfolge der Europäischen Union zugeschrieben wurden. Von Bedeutung ist auch, dass in der vergangenen achtjährigen Regierungszeit der PiS wenig oder abwertend über die Europäische Union gesprochen wurde, sowohl in den Medien als auch im politischen Diskurs aufseiten der Regierung. Ihre antieuropäische Haltung hatte verschiedene Ausprägungen und zweifellos hat die Botschaft, dass die PiS-Regierung der »Macher« ist und die EU vor allem stört, in vielen gesellschaftlichen Gruppen ihre Spuren in Form von Apathie und Desinteresse der EU gegenüber hinterlassen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass der Populismus der PiS ein Anti-Elitismus ist und das Europäische Parlament als Ort gesehen wird, wo von der Wirklichkeit abgehobene Eliten für nicht allzu schwere Arbeit gut bezahlt werden. Insofern finden viele Wähler, dass sie den Elitismus potentieller Europaabgeordneter »bestrafen«, indem sie nicht zur Wahl gehen.
Fünftens. Die populistische und antieuropäische Welle hat die Konföderation in die Höhe getragen und zeigt sich auch in weiterhin hohen Umfragewerten für die populistische PiS. Es ist eine Welle einfacher und radikaler Antworten auf schwierige und komplexe Fragen (z. B. dass die EU und die Ukraine für die Probleme der polnischen Bauern verantwortlich sind und nicht letztlich Russland). Zwar schwappt die Welle in den verschiedenen Ländern der Europäischen Union über unterschiedliche Themen (z. B. steht in Italien und Frankreich das Thema Migration im Vordergrund, in Deutschland die Kosten für die Energiewende und die ökologische Transformation, in Spanien die fehlende Perspektive für die jungen Menschen), aber überall, auch in Polen, bringt sie die Hinwendung zum Nationalismus und Euroskeptizismus mit sich.
Sechstens. Die Konföderation, eine antiukrainische, antieuropäische, gegen Frauen und Gleichstellung gerichtete Partei, versteht es hervorragend, sich im Internet zu bewegen und hat damit Zugang zu den jüngsten Wählern. Ihre Internetauftritte haben gewöhnlich einige Hunderttausend Follower (zum Vergleich: TVP Info, der Informationskanal des Polnischen Fernsehen (Telewizja Polska), verzeichnet einige Hundert, bestenfalls einige Tausend). Die Konföderation ist außerdem antisemitisch, was von Bedeutung ist, denn im Zuge der jüngsten Ereignisse im Gazastreifen und der ohnehin recht verbreiteten Israelkritik in der polnischen Gesellschaft war das Zeigen antisemitischer Einstellungen nichts mehr, wofür man sich hätte schämen müssen. In Polen sind das Verhalten Israels im Gazastreifen, an dem Kritik zu üben erlaubt ist, und der verborgene Antisemitismus, der sich noch auf Ereignisse des 20. Jahrhunderts bezieht, zu einem Ganzen zusammengeflossen, das die Konföderation für sich nutzte und das von dem soliden Wahlergebnis des erklärten Antisemiten Grzegorz Braun (gegen den die Staatsanwaltschaft Vorwürfe erhoben hat) bestätigt wird. Die Konföderation hat Braun nicht nur auf ihrer Wahlliste stehen gelassen, trotz antisemitischer Straftaten, sie hat auch verstanden, dass sie damit die Zustimmung zu ihrer Gruppierung wesentlich erhöhen kann, was letztlich auch der Fall war.
Eine Spezifik der Wahlen zum Europäischen Parlament besteht darin, dass man keine lokalen Strukturen zu haben braucht, um Unterstützer zu gewinnen. Die Konföderation konnte ohne besondere Anstrengungen eine umfangreiche Wählerschaft gewinnen. Es besteht keine Klarheit über Kontakte dieser Partei zu Vertretern des Kremls und über dessen mögliche Finanzierung ihrer Tätigkeit, insbesondere im Internet. Bekannt ist aber, dass die Konföderation in sehr vielen Bereichen die Propaganda des Kremls verbreitet hat. Das ist kaum zu übersehen.
Siebtens. Die Wahlen zum Europäischen Parlament waren eine Auszeichnung für die Minister der Regierung von Donald Tusk sowie für die Akteure der PiS und der Konföderation eine Möglichkeit, sich der Verantwortung (sich anbahnender) strafrechtlicher Vorwürfe zu entziehen. Wie also sollte die polnische Gesellschaft diese Wahl vollkommen ernst nehmen, wenn die Gesellschaft in der Wahl nicht vollständig ernst genommen wurde? Paradoxerweise war es die Konföderation, die ein Programm vorgestellt und einen richtigen Wahlkampf geführt hat (mit Ausnahme des Kandidaten Braun), womit sie unterstrichen hat, dass sie es ist, die ihre Wähler ernst nimmt. Wahrscheinlich hat das darüber mitentschieden, dass sich ihre Wähler diszipliniert verhalten haben.
Insgesamt aber war der Wahlkampf sehr kurz und dauerte nur einige Wochen, was auch damit zusammenhing, dass die Kommunalwahlen erst Mitte April abgeschlossen wurden und die Umfragen kein großes Interesse an Themen der europäischen Agenda erkennen ließen. Sogar Ereignisse, welche die PiS potentiell hätten stärken können wie das Treffen in Madrid, zu dem die rechtspopulistische Partei VOX eingeladen und an dem die Parteienvertreter Marine Le Pen, Giorgia Meloni, Viktor Orbán und auch Jarosław Kaczyński teilgenommen hatten, riefen kein größeres Echo hervor, denn die antiukrainische Haltung dieser Politiker passte nicht richtig zum dominierenden und gesellschaftlich akzeptierten Sicherheitsdiskurs in Polen. Des Weiteren scheint es keine Gruppierung außer der Konföderation geschafft zu haben, eine stringente Idee für den Wahlkampf auszuarbeiten; vielmehr scheint man einfach anhand der Umfragen die Unterstützungsdynamik geprüft zu haben, um sich daraufhin mit Einzelthemen in die Diskussionen einzubringen. Hier ist auch ein Teil der Journalisten, Experten und Aktivisten in eine Falle getappt, was der Vergleich mit Israel illustrieren kann: Zwar wird die Regierung in Polen wegen einer mangelnden transparenten Informationspolitik, fehlender spektakulärer Erfolge und nicht eingelöster Versprechen kritisiert, aber es ist keine scharfe Kritik, denn das Beispiel Israels zeigt, dass zu starker Druck auf eine demokratische Regierung, damit sie spektakulär tätig werde, zur Rückkehr von Radikalen und Populisten führen kann, siehe Benjamin Netanjahu.
Allerdings konnten einige Ereignisse auf Nebenschauplätzen eine wesentliche Rolle in der letzten Etappe des Wahlkampfes spielen. Beispielsweise scheint sich der Tod eines jungen polnischen Soldaten an der polnisch-belarusischen Grenze (der mutmaßlich an den Verletzungen gestorben ist, die ihm eine Immigrant zugefügt hatte) positiv auf die Unterstützung der harten Grenzschutzpolitik Donald Tusks ausgewirkt zu haben, die im Grunde die Fortsetzung der Politik der PiS auf diesem Feld ist.
Wer hat die Wahlen wirklich gewonnen?
Weil es deutlich einfacher ist zu sagen, wer die Wahlen zum Europäischen Parlament in Polen verloren hat, beginne ich mit dieser Frage. Verloren haben die Demokratie und die proeuropäische Einstellung, denn die demokratischen Gruppierungen in Polen haben keine spektakulären Erfolge eingeholt und die kleineren wie Polen 2050, Die Linke und die PSL können sogar von einer deutlichen Niederlage sprechen. Der Dritte Weg als gemeinsames Wahlbündnis erhielt 6,91 Prozent der Stimmen, was nur drei Mandate im Europäischen Parlament bedeutet (zwei Mandate für die PSL und ein Sitz für Polen 2050). Die Linke erhielt mit 6,3 Prozent ebenfalls drei Mandate. Die Grünen (Zieloni) gibt es in Polen im Grunde nicht; sie verstärkten die Reihen der Linken, aber ihre Forderungen hatten keine Durchschlagskraft und waren daher kein wesentlicher Faktor im Wahlkampf. Insgesamt nehmen die kleineren demokratischen Gruppierungen sechs Mandate von den 53 Polen zustehenden Sitzen im Europäischen Parlament ein. Im Vergleich zur letzten Wahlperiode haben die Parteien Polen 2050 und PSL ihren Besitzstand wahren können, so dass Polen 2050 die Fraktion Renew Europe und die PSL die Fraktion der Europäischen Volkspartei so stärken wie bisher. Die Linke hat einen Verlust zu verzeichnen: Zuvor waren sieben Europaabgeordnete, die sich der Linken und Frühling (Wiosna) zugeordnet hatten, gewählt worden und aktuell sind es drei. Die Fraktion der Sozialisten und Demokraten hat also vier Vertreter aus Polen verloren.
Verloren hat auch die Aussöhnung, die Donald Tusk den Polen nach den Sejmwahlen versprochen hatte – sie wurde durch die Notwendigkeit, die Wähler mittels Polarisierung zu mobilisieren, ausgebremst. Auch die Europäische Union selbst hat verloren: Ihren Institutionen und Eliten ist es nicht gelungen, bei den Polen (wie auch in den Gesellschaften vieler anderer EU-Mitgliedsländer) eine höhere Wahlbeteiligung hervorzurufen.
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die Nachwahlbefragungen bei der Einschätzung der Ergebnisse für die PiS und die KO daneben lagen (der Unterschied zwischen den beiden schmolz von 4,3 auf 0,9 Prozentpunkte). Zum wiederholten Male zeigt es sich, dass entweder die Wähler ein Problem damit haben, sich dazu zu bekennen, dass sie für eine populistische Gruppierung gestimmt haben, oder dass die Meinungsforschungsinstitute die Proben nicht richtig auswählen, d. h. Schwierigkeiten haben, eine repräsentative Wählerschaft zu befragen.
Wer hat nun aber die Europawahlen in Polen gewonnen? Zweifellos die Partei der Nichtwähler, d. h. diejenigen, die der Politik gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen, allerdings ist das ein Scheinsieg. Diejenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, haben den jetzigen Ministerpräsidenten Donald Tusk und seine KO zum Sieger gemacht. Den Nachwahlbefragungen zufolge hätte sie sogar einen Vorsprung von rund vier Prozent gegenüber der PiS haben sollen. Die offiziellen Wahlergebnisse zeigen jedoch ein Plus von nicht einmal einem Prozent. Für Tusk ist es ein symbolischer Sieg, denn zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt hat seine Partei in den Wahlen gesiegt und damit die PiS deklassiert. Man könnte meinen, dass der Wahlsieg der KO deutlicher hätte ausfallen können, denn die letzten Monate in Polen waren von Enthüllungen immer neuer Affären der PiS und der Menschen aus ihrer Umgebung geprägt. Das scheint für die PiS-Wähler im Kontext der Europawahlen jedoch kein so ausschlaggebendes Kriterium für ihre Wahlentscheidung gewesen zu sein. Im Übrigen hat die PiS, wie bereits erwähnt, einen Teil ihrer Unterstützer an die Konföderation verloren, was bedeutet, dass die Wählerwanderung von der PiS (wenn sie auch nicht groß ist) nicht in Richtung demokratischer, nicht-populistischer Parteien verläuft. Acht Jahre PiS-Regierung haben einen loyalen Wähler hervorgebracht, der nicht auf die Schwächen seiner Gruppierung achtet. Dessen ungeachtet brachten der symbolische Sieg und die Möglichkeit, den Besitzstand in der Fraktion der Europäischen Volkspartei zu vergrößern (die KO ist dort mit 20 Europaabgeordneten vertreten), Donald Tusk eine große Dosis Zufriedenheit.
Zu den Siegern der Europawahl zählt zweifellos auch die Konföderation, d. h. eine extrem rechte, antieuropäische, antiukrainische und populistische Gruppierung. Bei den Sejmwahlen im Oktober 2023 mit der sehr hohen Wahlbeteiligung von 74,38 Prozent bekam sie das überraschend niedrige Ergebnis von 7,16 Prozent der Stimmen. Bei der Wahlbeteiligung von gut 40 Prozent für die Europawahlen erlangte sie 12,08 Prozent und zog mit sechs Abgeordneten ins Europaparlament ein.
Die PiS gehört eher zu den Verlierern. Was jedoch paradox erscheint, ist, dass ihr nur knapp unter dem KO-Erfolg liegendes Wahlergebnis kein großer Grund für Enttäuschung ist, wenn man die große Zahl der Affären berücksichtigt und bedenkt, dass Donald Tusk und seine Regierung in vielen Bereichen staatlichen Handelns im Grunde so weitermachen wie vorher die PiS-Regierung (insbesondere mit Blick auf die Grenze zu Belarus und die Maßnahmen gegenüber Flüchtlingen an dieser Grenze oder mit Blick auf große Investitionsprojekte wie z. B. Kernkraftwerke).
Die Spezifik der polnischen Europawahlen 2024
Viele Experten waren bestürzt vom doppelt so hohen Wahlergebnis des Rassemblement National Le Pens und Bardellas (31,4 Prozent) gegenüber Macrons Bündnis Besoin d’Europe (14,6 Prozent) in Frankreich, dem unerwartet guten Ergebnis der AfD in Deutschland (knapp 16 Prozent) und dem deutlichen Wahlsieg Orbáns in Ungarn (44 Prozent). Polen deuteten sie als Land, in dem es einer demokratischen Gruppierung schließlich gelungen ist, eine rechte populistische Gruppierung zu überholen, die in ihrer achtjährigen Regierungszeit Polen der Demokratie beraubt hat. Blickt man aber aus einer etwas anderen Perspektive auf die Lage, wird deutlich, dass die Unterstützung für die extreme Rechte in Frankreich mit gut 31 Prozent, in Deutschland mit knapp 16 Prozent und sogar die Unterstützung für die populistische Fidesz-Partei in Ungarn nicht so hoch ist wie die Unterstützung in Polen für die rechtspopulistische PiS und Konföderation, die insgesamt mehr als 48 Prozent geholt haben. Man kann also feststellen, dass Polen immer noch sehr stark und fast hälftig zwischen den sehr (Konföderation) bzw. gemäßigten (PiS) rechten Populisten und den demokratischen Gruppierungen (KO, Dritter Weg, Die Linke) aufgeteilt ist. Überträgt man das Wahlergebnis der Europawahlen in einer Simulation auf die Mandatsverteilung im polnischen Parlament, wären die demokratischen Gruppierungen wahrscheinlich nicht imstande, eine parlamentarische Mehrheit zu bilden.
Insgesamt hat sich Polen also nicht aus den Fängen des Radikalismus und Populismus und vor allem nicht der Polarisierung befreit, denn die PiS wird jetzt sicherlich noch weiter nach rechts ziehen. Donald Tusk wird vermutlich die Chancen des Kandidaten seiner Gruppierung für die Präsidentschaftswahlen erhöhen und dafür die Chancen von Szymon Hołownia beschränken wollen. Die Linke kämpft bereits um ihr Überleben und ihre Identität und hat im Übrigen keine Idee, wen sie als Kandidaten mit einer realistischen hohen Unterstützung aufstellen könnte. All das kann einen Schatten auf die Beständigkeit und Einmütigkeit der Arbeit der Regierungskoalition werfen, was gefährlich werden könnte. Ein Präsident aus dem demokratischen Lager ist unerlässlich, damit die gegenwärtige Regierung überhaupt effektiv arbeiten kann. Aktuell zeigt die Kohabitation mit Präsident Andrzej Duda, dass er in so gut wie keinem Aspekt der Wiederherstellung der Demokratie mit der Regierung zusammenarbeiten will, sondern die Interessen der PiS verfolgt.
Die polnischen Besonderheiten der Europawahlen betreffen sowohl den Wahlkampf als auch das Kräfteverhältnis nach den Wahlen. Einiges davon ist paradox. Beispielsweise haben viele Kandidaten der unteren Listenplätze die Listenanführer überflügelt, die als »Selbstläufer« gegolten hatten. So errang Jacek Kurski, ehemaliger Chef des TVP und der PiS vollkommen zu Diensten, kein Mandat, obwohl er zweifellos bekannt ist und auf Listenplatz zwei stand. Politiker, die nicht oben auf den Wahllisten standen wie die ehemalige Familienministerin Marlena Małąg, der ehemalige Regierungssprecher der PiS, Piotr Müller, oder der ehemalige Minister für Entwicklung und Technologie (und eventuell Präsidentschaftskandidat der PiS), Waldemar Buda, erlangten dagegen Mandate, womit sie die persönlichen Favoriten von PiS-Chef Kaczyński und Präsident Duda deklassierten und enthüllten, dass Kaczyński und Duda kein gutes Gespür für die gesellschaftliche Stimmung und keine Intuition mehr haben, die bisher bei ihnen untrüglich funktioniert haben. Ähnliche Situationen gab es mit den Wahllisten der Konföderation (Ewa Zajączkowska-Hernik überholte den Listenanführer) sowie der KO (Kamila Gasiuk-Pihowicz »übersprang« die ehemalige Stadtpräsidentin von Warschau, Hanna Gronkiewicz-Waltz). Beim Dritten Weg und der Linken wurden die Listenanführer jedoch meistens auch gewählt, was mit der geringen Anzahl der aufgestellten Kandidaten oder auch der geringen Bekanntheit der Personen auf den unteren Plätzen erklärt werden kann. Darüber hinaus zogen auch viele Kandidaten, die seit Jahren Abgeordnete im EU-Parlament sind, nicht mehr dort ein, beispielsweise Róża Thun, Ryszard Czarnecki und Włodzimierz Cimoszewicz.
Interessant ist außerdem, dass recht viele Frauen ins Europaparlament eingezogen sind. In Polen müssen mindestens 35 Prozent der Listenplätze mit dem unterrepräsentierten Geschlecht besetzt werden, wobei die Parteien die Frauen häufig auf die hinteren Plätze setzen. Paradoxerweise zogen für die KO relativ betrachtet ebenso viele Frauen wie für die frauenfeindliche, ultrakonservative Konföderation ins Europäische Parlament ein (allerdings mehr als für die Linke und deutlich mehr als für die PiS).
Eine weitere Besonderheit der polnischen Europawahlen war, dass Kandidaten mit einer kriminellen Vergangenheit oder sogar Gegenwart auf die Wahllisten gesetzt wurden, worin sich die PiS und die Konföderation auszeichneten. Auf den ersten Listenplätzen fanden sich u. a. Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik, beide rechtskräftig verurteilt, und obgleich von Präsident Duda begnadigt, begehen sie weiterhin Rechtsbruch. Auf Listenplatz eins stand auch Daniel Obajtek, dem noch keine Anklage gemacht wurde, der sie aber erwarten kann, vor allem weil ihm die Veruntreuung von mehr als 1,5 Milliarden Zloty aus den Mitteln des Konzerns Orlen vorgeworfen wird. Auf einem vorderen Listenplatz befand sich auch Grzegorz Braun von der Konföderation, obgleich ihn ernste Vorwürfe belasten. Auch wenn es schon früher solche Fälle gegeben hatte (auch in anderen Ländern), ist die Häufung solcher Kandidaten (die übrigens Mandate erhalten haben) in Polen bisher beispiellos. Auf der anderen Seite zog auch ein Rechtsanwalt, der Mitbegründer der die Rechtsstaatlichkeit in Polen verteidigenden Organisation »Freie Gerichte« (Wolne Sądy), ins Europaparlament ein, obwohl er weder auf Listenplatz Eins war noch besonders von der Gruppierung, die er repräsentiert, der KO, unterstützt wurde.
Zum Schluss
Die Wahlen zum Europaparlament im Juni 2024 waren deutlich wichtiger, als ihr vorangehender Wahlkampf in Polen erahnen ließ (ähnlich war es auch in anderen EU-Ländern). Der Krieg hinter der östlichen Grenze, das immer noch starke Russland, das eine ungeheure Gefahr für die Europäische Union darstellt (insbesondere durch Desinformation, was die Fundamente einer liberalen Demokratie bedrohlich untergraben kann), der nicht schwindende Migrationsdruck, der Klimawandel und die in Zweifel gezogenen Gegenmaßnahmen, die unklare politische Zukunft der Vereinigten Staaten, zunehmende antieuropäische Einstellungen und (rechter) Populismus, die Notwendigkeit der EU-Erweiterung bei gleichzeitigen immensen institutionellen Herausforderungen – all das hätte sich in diesen Wahlen als tödlich für die EU erweisen können. Jedoch hat sich die Landschaft des Europäischen Parlaments nicht so drastisch verändert, als dass man sagen müsste, die Populisten würden fortan die Bedingungen für das Handeln der EU diktieren. Die Wahlergebnisse in Polen zeigen nicht nur die Schwächen der EU, sie machen auch Hoffnung, dass sich die Schwächen überwinden lassen.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate