Eigentlich betreibt Karol Modzelewski einen erfolgreichen YouTube-Kanal mit knapp 200.000 Abonnenten und dem Hauptformat »Nachrichten ohne Virus« (Newsy bez wirusa). Auf seine spöttische Art präsentiert der Stand-up-Künstler und Satiriker dort ausgewählte Ereignisse aus Politik, Gesellschaft und Showbiz. Zu einem neuerlichen Bekanntheitsschub hat im Sommer 2023 sein Rechtsstreit mit dem einflussreichen Thinktank fundamentalistisch-katholischer Juristen Ordo Iuris (zu Deutsch »Rechtsordnung«) geführt. In einem vorgerichtlichen Unterlassungsschreiben, verbunden mit einer finanziellen Forderung an Modzelewski, verlangt jener die Entfernung eines YouTube-Films, der die außerehelichen Affären von Ordo Iuris-Mitarbeitern zum Thema macht und somit ihre Doppelmoral offenlegt.
Angesichts der legislativen Durchsetzungsfähigkeit von Ordo Iuris und des Einflusses seiner Mitglieder in Kreisen der damaligen Regierungskoalition der Vereinigten Rechten (Zjednoczona Prawica) erscheint dies wie der ungleiche Kampf zwischen David und Goliath. Umso beeindruckender mutete die Entschlossenheit des Satirikers an, sich von dem Juristenverband nicht einschüchtern zu lassen, sondern in die Offensive zu gehen. Modzelewski nutzte dabei die Instrumente der sozialen Medien und antwortete öffentlichkeitswirksam, dass er nicht beabsichtige, den Film zu entfernen. Zudem kündigte er an, eine ganze Reihe von Filmen unter dem Motto »So wie bei Ordo Iuris« zu produzieren, in denen es um Heuchelei und Doppelmoral im öffentlichen Leben gehen soll. Durch dieses Vorgehen erlangte das Thema der Seitensprünge der Ordo Iuris-Mitarbeiter eine weitaus größere Bekanntheit, als es wohl ohne den Rechtsstreit der Fall gewesen wäre.
Eine Strategie der Einschüchterung: SLAPP-Verfahren
Die Strategie der Einschüchterung über den juristischen Weg, die in diesem Fall nicht ansatzweise aufgegangen ist, ist nicht neu und nur eine von vielen Methoden von Ordo Iuris. Solche SLAPP-Verfahren (Strategic Lawsuit Against Public Participation) zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Ziel nicht darin besteht, vor Gericht zu gewinnen oder mit stichhaltigen Argumenten zu überzeugen. Vielmehr sollen sie Aktivisten zermürben und einschüchtern, um sie davon abzuhalten, sich weiterhin öffentlich zu äußern und andere zu ermutigen, ebenfalls Stellung zu beziehen. Organisationen und Institutionen, die solche Klagen einreichen, verfügen oft über ausreichend Ressourcen, um eine Flut von Klagen zu führen. Der betroffene Aktivist hingegen steht vor der Herausforderung, zu entscheiden, ob er noch die Kraft und die Zeit hat, diesem juristischen Druck standzuhalten. Ordo Iuris hat in den letzten Jahren mehrere Prozesse gegen Personen des öffentlichen Lebens, insbesondere gegen Frauenrechtsaktivistinnen und kritische Journalistinnen, geführt. Besonders hervorzuheben sind die rechtlichen Auseinandersetzungen mit Marta Lempart, der Mitbegründerin der polnischen Frauenrechtsbewegung Frauenstreik (Strajk Kobiet). Im Dezember 2023 wurde sie in einem aufsehenerregenden Prozess vom Vorwurf der Verleumdung freigesprochen. Anlass der Klage war ein Interview, in dem Lempart die Mitglieder des Ordo Iuris als »Sadisten« bezeichnete und ihnen vorwarf, durch ihr Handeln dazu beizutragen, dass Frauen wegen Fehlgeburten strafrechtlich verfolgt werden könnten. Diese scharfe Kritik führte dazu, dass Ordo Iuris eine Klage gegen sie einreichte. Der langwierige Prozess, der sich über fünf Jahre erstreckte, endete mit einem Freispruch für Lempart. Die Richterin betonte in ihrer Urteilsbegründung, dass Lemparts Äußerungen im Rahmen zulässiger Kritik an den Aktivitäten von Ordo Iuris zu sehen seien.
Ob in polnischen Kleinstädten, in Warschau, Brüssel oder Genf – wo immer der Kampf zwischen einer vermeintlich natürlichen Ordnung und gesellschaftlichem Fortschritt auftritt sind die Anwälte von Ordo Iuris präsent. Sie beschreiben sich selbst auf ihrer Webseite als »Thinktank von Anwälten, die konservative Werte in der praktischen Rechtsanwendung verteidigen«. Die Organisation hat ihre Position über die Jahre durch die Gründung und Finanzierung ähnlicher Gruppen im Ausland gestärkt und koordiniert internationale Bemühungen, um ihre ideologische Agenda voranzutreiben.
Die strategische Ausrichtung: auf dem Weg zur kulturellen Hegemonie
Es hat sich schnell gezeigt, dass Ordo Iuris, das im August 2023 sein zehnjähriges Gründungsjubiläum feierte, keine gewöhnliche Nichtregierungsorganisation ist. Die Ziele des Netzwerks sind zu ehrgeizig: Es geht um nicht weniger als um Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie im Namen der vermeintlichen Mehrheit, die das Netzwerk zu repräsentieren beansprucht – das national-katholische Polen mit einem traditionellen Rollenverständnis in der Familie als Bund zwischen Mann und Frau mit mehreren Kindern. Um diese im Kern antipluralistische Agenda durchzusetzen, bedient sich das Netzwerk bewusst einer Kombination aus rechtlichen, politischen, medialen und gesellschaftlichen Aktivitäten. So betonte eine Vertreterin von Ordo Iuris in Interviews, dass die Organisation gerade durch ihre juristische Expertise und konkrete dynamische politische Aktionen in Ostmitteleuropa als konservativer Meinungsführer wahrgenommen wird.
Der Vorstandsvorsitzende des Thinktanks und Anwalt Jerzy Kwaśniewski, gerade einmal 41 Jahre alt, wurde bereits 2021 im Ranking des US-amerikanischen Magazins Politico zu den 28 einflussreichsten Menschen in Europa gezählt. Die aktuelle Führung von Ordo Iuris besteht aus sehr jungen, in den 1990er Jahren geborenen Personen. Sie besetzen eine Lücke, die durch die Schwäche christlicher Kräfte in Europa entstanden ist; die angebotene Führung wird von bestimmten konservativen Gruppen angenommen. Mit Ordo Iuris verbundene Experten haben sich in den letzten Jahren erfolgreich Machtpositionen in polnischen Regierungskreisen der Nationalkonservativen (2023 abgewählt) erarbeitet. So sind aus ihren Reihen bereits zwei Richter des Obersten Gerichtshofs (Sąd Najwyższy) hervorgegangen (darunter der Gründer des Thinktanks und dessen erster Direktor Aleksander Stępkowski), außerdem ein stellvertretender Außenminister, ein Mitglied des Beirates des Nationalen Instituts für Freiheit (Narodowy Instytut Wolności) und ein Mitglied des Nationalen Entwicklungsbeirats beim Präsidenten der Republik Polen.
Seit dem vergangenen Jahr ist Karina Bosak in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Seit 2014 arbeitet sie als Anwältin und Analytikerin für das Ordo Iuris Institut, wo sie unter anderem das Zentrum für Religionsfreiheit leitete. Parallel zu ihrer Tätigkeit bei Ordo Iuris ist sie eine prominente Figur in der rechtsnationalen Partei Konföderation. Bei den Parlamentswahlen 2023 gelang ihr der Einzug in den Sejm, wo sie überraschend mehr Stimmen erhielt als der auf der Wahlliste der Konföderation vor ihr platzierte bekannte Politiker Janusz Korwin-Mikke. Darüber hinaus ist sie die Ehefrau von Krzysztof Bosak, einem führenden Politiker der Konföderation, was ihre politische Bedeutung weiter unterstreicht.
Frauen- und LGBT-Rechte auf der Zielscheibe
Auch Karina Bosak vertritt fundamentalistische, antifeministische Positionen: Im Sejm äußerte sie die Ansicht, dass das Töten ungeborener Kinder als das ultimative Böse zu betrachten sei. Sie betonte, dass es auch das reine Böse sei, Bedingungen zu schaffen, unter denen Frauen dazu ermutigt werden, eine Abtreibung vorzunehmen. Gleichzeitig versucht sie den Spagat, gerade Frauen für ihre Positionen zu gewinnen, etwa indem sie argumentiert, dass radikaler Feminismus den Männern einen großen Gefallen tue, indem er ihnen die Verantwortung und Pflichten abnehme und die Last allein den Frauen überlasse. Männer, so Bosak, hätten den Vorteil, dass sie nicht mit den physischen und emotionalen Folgen einer Abtreibung konfrontiert würden. Statt »Mein Körper, meine Wahl« sollten Frauen die Unterstützung hören: »Unser Kind, unsere Verantwortung«. Bosak erinnert auch gern daran, dass sie ihre Amtszeit im aktuellen Parlament begann, als sie schwanger war, und dass sie ihr Kind im Plenarsaal des Sejms stillte, um ihre Rolle als moderne Mutter und Politikerin zu betonen.
Ordo Iuris hatte einen wesentlichen Anteil an der Durchsetzung einer der strengsten Abtreibungsregelungen in Europa. Im Jahr 2020 führte politischer Druck von Ordo Iuris und anderen konservativen Gruppen zur Verabschiedung eines Gesetzes, das Abtreibungen nahezu vollständig verbot, selbst in Fällen schwerwiegender fetaler Anomalien. Auch die Verbreitung der sogenannten »LGBT-freien Zonen« geht auf das Konto der Organisation. Die Anwälte von Ordo Iuris tourten monatelang durch die Kreis- und Gemeinderäte des Landes, um den ehrenamtlichen Kommunalpolitikern in Workshops den fertigen Antrag »Kommunale Charta der Polnischen Familien« schmackhaft zu machen. Sie verfassen kommunale Verordnungsentwürfe und verteidigen diese vor Gericht, falls es zu Konflikten mit nationalem und europäischem Recht kommt. Mittlerweile ziehen immer mehr Gemeinden und Landkreise ihre »Anti-LGBT«-Beschlüsse zurück. Dabei spielte die Perspektive des Entzugs von EU-Geldern eine entscheidende Rolle. Die Herausgeber des »Atlas des Hasses« (Atlas nienawiści), der Ende 2019 als Internetseite veröffentlicht wurde, zählen derzeit noch fünf solcher Gemeinden oder Regionen, wo explizite Anti-LGBT-Beschlüsse oder die von Ordo Iuris entwickelte Kommunale Charta der Polnischen Familien gelten. Zuvor waren es über 100.
Labor und Kaderschmiede des konservativen Rollbacks
Trotz einiger verlorener Schlachten, wozu der Rückzug der kommunalen Selbstverwaltung aus Anti-LGBT-Beschlüssen oder die aktuelle Kündigung des Mietvertrags durch den Vermieter in der Hauptgeschäftsstelle in Warschau zählt, spielen die Juristen rund um Ordo Iuris aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Positionen im politischen Gefüge weiterhin eine wichtige Rolle. Der deutsche Politikwissenschaftler Karl Rohe hat den Begriff der »Deutungseliten« geprägt. Darunter verstand er bestimmte Gruppen von Personen, die über besondere Fähigkeiten, Wissen oder Autorität verfügen, um die Bedeutung von sozialen Ereignissen, Phänomenen und Veränderungen zu interpretieren und zu erklären. Rohe argumentierte, dass die Komplexität der sozialen Strukturen und Prozesse in modernen Gesellschaften dazu führt, dass nicht jeder Einzelne in der Lage ist, alle Ereignisse und Entwicklungen zu verstehen. Daher bilden sich Gruppen von Deutungseliten heraus, denen man die Kompetenz zuspricht, Bedeutungen zu vermitteln. Dabei seien besonders Anwälte und Juristenverbände befähigt, eine Deutungskultur zu formen, indem sie Diskussionen über rechtliche Leerstellen, Grauzonen und Konflikte anstoßen und so die Rechtsprechung beeinflussen. Dies könne sowohl durch schriftliche Abhandlungen, Kommentare zu aktuellen Fällen als auch durch die Teilnahme an öffentlichen Diskussionen und Medien geschehen.
All dies sind Strategien, die Mitarbeiter von Ordo Iuris in Polen, einem Land mit vergleichsweise schwächeren demokratisch legitimierten Institutionen als im Westen, bewusst und recht erfolgreich anwenden. Deutlich sichtbar war dies bei den Angriffen auf den Bürgerrechtsbeauftragten Adam Bodnar während und auch nach seiner Amtszeit. Die Organisation kann Gesetzesentwürfe erarbeiten, wie das im Sejm nach den sog. Schwarzen Protesten der Frauenrechtsbewegung 2016 im ersten Anlauf gescheiterte Abtreibungsverbot, oder Änderungen an bestehenden Gesetzen vorschlagen, um fundamentalistisch-katholische Werte zu fördern. Durch Lobbyarbeit und direkte Zusammenarbeit mit politischen Parteien wie Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), aber auch der Konföderation versucht die Organisation, ihre Prioritäten gezielt in die politische Agenda einzubringen. Die Anwälte von Ordo Iuris übernehmen zudem strategisch wichtige Rechtsverfahren, etwa bei der disziplinarischen Entlassung einer Professorin aufgrund von homophoben Äußerungen oder im Fall einer rechtsradikalen jungen Aktivistin, die zusammen mit drei jungen Männern eine Frau mit einer Tasche in Regenbogenfarben überfallen hat. Solche Verfahren bieten nicht zuletzt eine Plattform, um der Gesellschaft die eigene Sichtweise zu präsentieren und die öffentliche Debatte zu beeinflussen.
Ein wichtiger Bestandteil des kulturhegemonialen Projekts ist die ideologische Prägung der nächsten Generation konservativer Juristen und Journalisten an der 2021 eigens von Ordo Iuris in Warschau gegründeten Hochschule Collegium Intermarium. Hierbei ist jedoch anzumerken, dass die Anzahl der Studienbewerber beim Studienfach Rechtswissenschaften an dieser Hochschule sehr gering ausfällt. Das Netzwerk um Ordo Iuris erweitert kontinuierlich seine Aktivitäten und hat zuletzt ein Fact-Checking-Portal und eine Petitionsplattform gegründet. Es intensiviert die Zusammenarbeit mit rechten und katholisch-fundamentalistischen Journalisten in Polen und im Ausland. Auf ihren Internetseiten bewirbt Ordo Iuris den neuen Studiengang Journalismus am Collegium Intermarium mit mehreren Prominenten des rechten polnischen Journalismus: Paweł Lisicki, Rafał Ziemkiewicz und Łukasz Warzecha.
Internationale Ambitionen und Instrumente
Die außerhalb Polens wenig bekannte Organisation Ordo Iuris ist auch auf internationaler Ebene durchaus aktiv. Ähnlich wie andere Gruppen dieses Typus, die sich dem Kampf gegen die liberale Gesellschaft verschrieben haben, engagiert sie sich als Lobby- und Beraterorganisation. Auf ihrer Webseite betont das Ordo Iuris Institut seinen bedeutenden Einfluss, indem es darauf hinweist, dass es auf Anfrage der Venedig-Kommission des Europarates (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht), des Monitoring-Ausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) und des LIBE-Ausschusses des Europäischen Parlaments (Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres) regelmäßig Stellungnahmen abgibt. Darüber hinaus hat das Institut formell Gutachten an den Generalsekretär des Europarates, den Menschenrechtskommissar, den Ausschuss für politische Angelegenheiten und Demokratie der PACE, den UN-Menschenrechtsrat sowie an oberste Gerichte und Verfassungsgerichte mehrerer Länder, darunter Brasilien, Chile und Kroatien, übermittelt. Die Stiftung ist beim Europäischen Parlament akkreditiert (registriert unter der Nummer 206499215012-94) und beteiligt sich durch Lobbying am Gesetzgebungsprozess. Zudem verfügt Ordo Iuris über einen beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC).
Unterstützt vom damaligen polnischen Justizminister Zbigniew Ziobro hat die Organisation ab 2020 eine Kampagne angeführt, um die EU-Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt zu blockieren. An ihrer Stelle sollte ein Abkommen über »Familienrechte« zur Förderung heterosexueller Ehen und traditioneller Geschlechterrollen verabschiedet werden, wofür Ordo Iuris in Brüssel Lobbying betrieben hat. Die EU-Kommissarin Vĕra Jourová thematisierte, dass sie insbesondere von polnischen Protesten überhäuft wurde, was im Wesentlichen auf das Wirken von Ordo Iuris und seinem Umfeld zurückgeführt wurde. Die Organisation nutzt die in Teilen der Gesellschaft Anklang findende Anti-Gender-Rhetorik, um das politische Klima weiter zu prägen und die politische Agenda zu radikalisieren.
Instrumentalisierung von Angst und Geschichte zur Mobilisierung gegen EU-Reformen
Aktuell plant Ordo Iuris in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Heritage Foundation eine internationale Konferenz in Warschau, bei der Experten aus den USA und Europa, darunter Vertreter von Parteien aus Polen, Spanien, Ungarn, Frankreich und Italien, die für ihre nationalistischen und souveränistischen Positionen bekannt sind, zusammentreffen werden. Diese Veranstaltung soll dazu dienen, die vermeintlich »katastrophalen« Folgen der Zentralisierung der Europäischen Union zu diskutieren und die »ideologischen Hintergründe« der EU-Reformen anzugreifen.
Ordo Iuris stellt die aktuellen Veränderungen in der EU zur Stärkung ihrer Handlungsfähigkeit als gravierende Bedrohung für nationale Souveränität, Demokratie und traditionelle Werte dar und warnt vor einer angeblich bevorstehenden »neomarxistischen Revolution«. Diese Rhetorik, die stark auf Angst und Polarisierung setzt, wird genutzt, um die EU-Reformen als Gefahr für die nationale Identität und Freiheit darzustellen. In den letzten Monaten hat Ordo Iuris Berichte veröffentlicht, die diese Narrative unterstützen, und sie an internationale Politiker und soziale Bewegungen weitergegeben, um ein Netzwerk des Widerstands gegen die EU zu schaffen. Kritiker könnten jedoch einwenden, dass diese Darstellung stark ideologisch geprägt und wenig differenziert ist und dass sie versucht, durch das Schüren von Ängsten politischen Einfluss zu gewinnen.
Ordo Iuris ruft zu internationalem Widerstand gegen die EU-Reformen auf und nutzt dabei historische Bezüge, um seine Position zu legitimieren. Ein zentraler historischer Bezugspunkt ist die Erinnerung an die Schlacht bei Warschau 1920, auch bekannt als das »Wunder an der Weichsel«, in der Polen die Rote Armee zurückschlug und damit, so das in Polen allgemein verbreitete Narrativ, die Ausbreitung des Bolschewismus nach Westeuropa verhinderte. Ordo Iuris stellt diese historische Schlacht als Symbol des Widerstands gegen eine vermeintlich drohende »neomarxistische Revolution« in der Europäischen Union dar. Zudem zieht Ordo Iuris eine Parallele zwischen den Zielen der damaligen sowjetischen Revolutionäre und den aktuellen EU-Reformen. Sie behaupten, dass die Vision eines zentralisierten europäischen Staates, wie sie von Altiero Spinelli, einem Mitbegründer der Europäischen Union, in seinem »Manifest von Ventotene« 1941 formuliert wurde, in direkter Linie zu den aktuellen EU-Reformbestrebungen steht. Spinellis Manifest rief zur Gründung eines föderalen Europas auf, das die nationale Souveränität zugunsten einer stärkeren europäischen Einheit einschränken sollte. Ordo Iuris deutet diese Vision als Bedrohung für nationale Identitäten und Freiheiten, ähnlich wie sie in der Vergangenheit durch kommunistische Ideologien bedroht wurden. Dass ein Gebäude des Europäischen Parlaments den Namen Altiero Spinellis trägt, interpretiert Ordo Iuris als symbolische Bestätigung der ideologischen Kontinuität zwischen der damaligen revolutionären Bewegung und den heutigen EU-Reformern.
TFP-Netzwerk als globaler gesellschaftspolitischer Player
Ordo Iuris betont, dass man bewusst auf staatliche Fördergelder verzichtet, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Die Organisation stützt sich vor allem auf einen sogenannten »Freundeskreis«, der durch monatliche Spenden den Haushalt über einige Jahre finanziell stabilisiert hat. Doch bereits 2022 war in dieser Hinsicht ein außergewöhnlich schwieriges Jahr für Kwaśniewskis Thinktank. Journalisten wiesen darauf hin, dass Ordo Iuris gerade in dem Moment in finanzielle Schwierigkeiten geraten sei, als die Sanktionen gegen Russland in Kraft traten. Dies nährte zusätzlich Spekulationen über Verbindungen zu prorussischen Organisationen wie etwa Agenda Europe, was von Ordo Iuris bisher stets heftig bestritten wird. Im Jahr 2013 unterzeichnete Ordo Iuris zusammen mit sechs anderen polnischen Organisationen eine Unterstützungsliste für das russische Gesetz zum Verbot der Propaganda von Homosexualität. Ordo Iuris arbeitete auch mit dem World Congress of Families zusammen, der von dem russischen Oligarchen und ehemaligen Präsidenten der Russischen Eisenbahnen, Wladimir Jakunin, gegründet wurde.
Um die Wurzeln von Ordo Iuris zu verstehen, muss man bis ins Jahr 1960 nach Brasilien zurückschauen. Dort gründete der katholische Publizist und Politiker Plinio Corrêa de Oliveira die Organisation TFP (Tradição, Família e Propriedade, zu Deutsch: Tradition, Familie und Privateigentum), welches sich für eine antiegalitäre, antiliberale und fundamentalkatholische Kultur und Politik einsetzte. Die TFP war sowohl eine religiöse als auch eine soziale Bewegung und pflegte Verbindungen zu südamerikanischen Diktaturen und rechtsextremen Akteuren. Ihr Name steht gleichzeitig für eine bestimmte Lehre: Sie strebt eine idealisierte Rückkehr zur mittelalterlichen Ordnung an.
Im katholisch geprägten Polen fand das TFP-Netzwerk Ende der 1990er Jahre ideale Bedingungen für seine Aktivitäten. Berichten zufolge war das Fundraising der Non-Profit-Organisation, das auf Massenversand religiöser Medaillons, Marienbilder und christlicher Publikationen basierte, so erfolgreich, dass es die Einrichtung weiterer Filialen ermöglichte. Im Jahr 2013 gründete einer der beiden polnischen TFP-Ableger die Denkfabrik Ordo Iuris. Das europäische Netzwerk der TFP, das NGOs in mindestens zehn europäischen Ländern umfasst, wird derzeit weiter ausgebaut. Die unterschiedlichen Filialen sind nicht immer durch denselben Namen oder das charakteristische Löwen-Logo als Teil desselben Verbands erkennbar. Recherchen eines internationalen Journalistennetzwerks legen nahe, dass Polen längst zum regionalen Zentrum dieser internationalen Bewegung geworden ist. Angesichts dieses Sachverhalts erscheint es durchaus berechtigt zu fragen, wie viel nationale Souveränität und genuin polnische Willensbildungsprozesse hinter der betont nationalpopulistischen und wertkonservativen Agenda stecken.