Was sind Kennzeichen einer gelungenen Transformation? Welches Personal ist geeignet und gilt nicht als vorbelastet für politische Ämter im neuen Staat? Über diese Fragen wird in Polen seit dem Ende der Volksrepublik immer wieder und äußerst intensiv debattiert und sie sind auch Gegenstand von Elitenstudien. In Elitenstudien werden die Kontinuitäten und Umbrüche in den politischen Eliten eines Landes wissenschaftlich untersucht. Zu dieser Gruppe zählt ein großer Personenkreis, der an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt ist und über die erste Reihe von prominenten Politiker*innen hinausgeht. Hierunter fallen beispielsweise Parlamente und Regierungen auf nationaler und lokaler Ebene, Gerichte, staatliche Unternehmen, die Zentralbank und der öffentliche Rundfunk. Polen ist ein interessanter Fall für eine Elitenstudie, da hier 1989 aufgrund des verhandelten Regierungswechsels kein umfassender Elitenwechsel stattfand. Die Ablösung des sozialistischen Regimes begann im Februar 1989 mit den Gesprächen am Runden Tisch zwischen führenden Vertretern der sozialistischen Regierung, der katholischen Kirche und der demokratischen Opposition. Wenige Monate später gewann die Opposition unter Führung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność bei den ersten teilweise freien Wahlen die Mehrheit der frei vergebenen Sitze. Ein umfassender Elitenwechsel fand aufgrund des verhandelten Regimewechsels zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht statt. General Wojciech Jaruzelski, der ehemalige Parteivorsitzende der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – PZPR), wurde zum Staatspräsidenten (1989/90) gewählt und die PZPR-Nachfolgerin Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) stellte in den folgenden Jahrzehnten zweimal die Regierung. Das Ende der Volksrepublik Polen rief daher zwangsläufig Fragen zu Identität und Selbstverständnis in Abgrenzung zum Sozialismus sowie zur Interpretation der jüngsten Vergangenheit hervor. Als ein zentraler Aspekt wird seit Beginn der wirtschaftlichen und politischen Transformation 1989 über mögliche Kontinuitäten von Eliten aus der Zeit der Volksrepublik diskutiert.
Kennzeichnend sind hier Regierungswechsel zwischen postkommunistischen Parteien einerseits und Gruppierungen aus dem Lager der Solidarność andererseits sowie wiederkehrende Anschuldigungen gegenüber öffentlichen Personen, mit den Geheimdiensten der Volksrepublik zusammengearbeitet zu haben. Ein prominentes Beispiel ist der ehemalige Solidarność-Vorsitzende und Präsident Polens (1990–1995) Lech Wałęsa, dem mehrfach mit unterschiedlichen Beweisen, zuletzt 2017 vom staatlichen Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej – IPN ), die Bespitzelung von Arbeitern und Solidarność-Mitgliedern in Danzig (Gdańsk) öffentlich unterstellt wurde. Wałęsa bestreitet dies und erhält hierfür vielfältige Unterstützung. Mit den Vorwürfen versuchten seine Kritiker, sehr prominent die ehemaligen Solidarność-Mitglieder und späteren PiS-Politiker Lech und Jarosław Kaczyński, nicht nur seine Person und seine Errungenschaften zu diskreditieren, sondern die Legitimität der gesamten Elite und ihrer Politik in Polen seit 1989 (»Dritte Polnische Republik«) in Frage zu stellen. In dieser Debatte nimmt die PiS, ähnlich wie auch Rechtspopulisten in Ungarn, eine führende Rolle ein und greift das Thema eines kontinuierlichen Einflusses der einstigen Nomenklatura der Volksrepublik regelmäßig auf. Aufgrund der schrittweise ausgehandelten Transformation kann die Idee von bis heute währenden Kontinuitäten der ehemaligen Unterstützer*innen des sozialistischen Regimes leicht Anklang finden.
Eine Vierte Republik?
Eine Hochphase der Debatte über Elitenkontinuitäten aus der Volksrepublik ist der Wahlkampf vor den Parlamentswahlen 2005, aus denen die Partei PiS als Siegerin hervorging und anschließend erstmals die Regierung stellte. In ihrem Wahlprogramm forderte die rechtspopulistische Partei die Errichtung einer neuen, Vierten Republik. Unter diesem Begriff werden an erster Stelle die Überprüfung auf geheimdienstliche Tätigkeiten, »Lustration«, und die »Dekommunisierung« der Eliten des Landes verstanden. Konkrete Maßnahmen sind die Auskunftspflicht für einen weit gefassten Kreis von Amtsträger*innen im öffentlichen Sektor zu eventuellen Tätigkeiten für die Geheimdienste der Volksrepublik. Hintergrund dieser Forderung war und ist, dass die Lustration erstmals erst Mitte der 1990er Jahre gesetzlich geregelt wurde. Vorher und hinterher sorgten vereinzelte Veröffentlichungen von Listen ehemaliger (inoffizieller) Mitarbeiter der Geheimdienste für wiederkehrende Diskussionen, z. B. veröffentlichte der Journalist Bronisław Wildstein 2005 die Namen von mehr als 240.000 Personen aus Beständen des IPN, die für den Geheimdienst tätig gewesen sein sollten. Auf der Liste waren jedoch auch Bürger*innen, die vom Geheimdienst der Volksrepublik für eine Zusammenarbeit angeworben worden waren, diese jedoch verweigert hatten. Diese öffentlichen Verurteilungen von teilweise unschuldigen Personen sorgten dafür, dass das polnische Verfassungsgericht zwar die Lustration grundsätzlich befürwortete, jedoch mehrfach die Rechte der Beschuldigten stärkte, z. B. sollten sie ebenfalls Einblick in ihre Akten erhalten.
Der Bedarf an umfassender Lustration wurde 2005 auch von der Partei Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) unterstützt. Die PiS verbindet mit der Vierten Republik jedoch noch weitere Schritte und dachte laut über ein Verbot der PZPR-Nachfolgepartei SLD nach. Zudem setzt die Partei die Lustration mit der Korruptionsbekämpfung in Zusammenhang, da sich Bestechlichkeit durch Kontinuitäten von Eliten und Unterstützer*innen leicht habe ausbreiten können. Darüber hinaus werden die Festigung patriotischer und christlicher Werte sowie die Stärkung polnischer Interessen, insbesondere gegenüber Deutschland, als Ziele einer Vierten Republik im damaligen Parteiprogramm genannt. Die Forderungen nach einem Elitenwechsel werden zum Teil bis heute von der Partei wiederholt. In Teilen, wie zuletzt im Oktober 2024 vom Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński, wird von der PiS direkt die Ausformulierung einer neuen Verfassung gefordert. Vor wichtigen Wahlen und im Bemühen, um weniger extreme Wählergruppen zu werben, werden die Ambitionen für eine Vierte Republik jedoch teilweise zurückgenommen und z. B. Forderungen nach einer neuen Verfassung wieder von der Homepage der Partei entfernt.
Erste langfristige Untersuchung von Elitenkontinuitäten in Polen
Ziel dieses Artikels ist es, die Rhetorik der PiS beim Thema Elitenkontinuitäten mithilfe eines neu erstellten Datensatzes einer empirischen Überprüfung zu unterziehen und damit die Grundlage der Forderungen der PiS nach einer Vierten Republik einzuordnen. Dazu wird ein gesamter Überblick über die politische Elite in Polen nach 1989 gegeben und werden einzelne Aspekte mit Blick auf einen Einfluss der drei PiS-Regierungen untersucht. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Zusammensetzung des Sejm, des polnischen Parlaments, da infolge regelmäßig stattfindender Wahlen hier ein schnellerer Elitenwechsel vermutet wird.
Der an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen erstellte Datensatz erfasst soziodemographische Daten von politischen Eliten in Polen zwischen 1990 und 2020 (in Fünfjahresschritten) und deren Rolle in der Volksrepublik. Die Datensammlung fokussiert sich auf Ämter und Positionen, die durch staatlich organisierte Auswahlprozesse, einschließlich Wahlen, vergeben werden, und umfasst Amtsträger*innen aus den Bereichen Legislative, Judikative, Exekutive auf nationaler und kommunaler Ebene, politische Parteien sowie weitere Institutionen wie Universitäten, öffentlich-rechtliche Medien und staatlich kontrollierte Unternehmen. Nach der oben ausgeführten Lustrationsdebatte sind in Polen heute Informationen über Einzelpersonen und ihre Rolle in der Zeit des Sozialismus im Informationssystem des IPN (»Biuletyn Informacji Publicznej«) öffentlich einsehbar. In anderen Ländern, in denen z. T. keine Aufarbeitung von Geheimdiensttätigkeiten stattfand, waren die Informationen deutlich schwieriger zu erlangen. Dies zeigt bereits, wie gewinnbringend ein Vergleich zwischen verschiedenen postsozialistischen Ländern sein kann, um Kontinuitäten aus der Zeit des Sozialismus über den Systemwechsel hinaus zu verstehen. Daher wurden ebenfalls Daten für die Länder Ungarn, Tschechien, Russland, Ukraine und die fünf ostdeutschen Bundesländer, die die DDR bildeten, zusammengestellt. Einzelne Aspekte können so für eine Einordnung der polnischen politischen Eliten verglichen werden. Der gesamte Datensatz erfasst 2.141 verschiedene Amtsinhaber*innen und umfasst insgesamt 3.280 Positionen für alle Referenzjahre. Eine detaillierte Beschreibung findet sich unter dem angegebenen Link zum Datensatz am Ende des Textes.
Die bisherige Forschung zu diesem Thema deckt überwiegend nur den Zeitraum bis Mitte der 2000er Jahre ab. In Studien aus den 1990er Jahren sehen Wissenschaftler*innen keine starke Abgrenzung zwischen den ehemaligen Unterstützer*innen des einstigen Regimes bzw. der Opposition, wobei sich einige Amtsträger*innen sogar zwischen den beiden Lagern hin- und herbewegen. Die damaligen Autor*innen, vorrangig Jacek Wasilewski und Jacek Raciborski, analysieren sehr breit gefasste Stichproben aus Politik, Verwaltung und staatlichen sowie privaten Unternehmen. Sie erklären die geringe Bedeutung der sozialistischen Vergangenheit einzelner Personen mit der überragenden Bedeutung wirtschaftlicher und sozialer Fragen im ersten Jahrzehnt der Transformation. Angesichts der heutigen Polarisierung der polnischen Gesellschaft entlang historischer und kultureller Werte sowie der Gründungsrhetorik der PiS im Jahr 2001, die materielle Gewinner und Verlierer der Transformation einander gegenüberstellt und Elitenkontinuitäten aus dem Sozialismus unterstellt, erscheint die damalige Einschätzung kaum vorstellbar.
Die Analyse des neu generierten Datensatzes zeigt für die Volksrepublik Polen unterschiedlich starke Kontinuitäten der regimetreuen bzw. oppositionellen Eliten. In Polen gibt es anfangs einen hohen Anteil ehemaliger Unterstützer*innen des Regimes, der sich jedoch schnell dem Anteil bei den ostmitteleuropäischen Nachbarn Ungarn und Tschechien angleicht. Grafik 1 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt, dass der Prozentsatz von anfangs 42,11 Prozent kontinuierlich sinkt und im Jahr 2020 zusammen mit der ehemaligen DDR den geringsten Wert (3,28 Prozent) erreicht. Im Vergleich weisen Russland und die Ukraine mit fast 90 Prozent in den 1990er Jahren deutlich höhere Werte auf. Hier fand ein Wechsel hin zu den sozialistischen Eliten aus der zweiten Reihe statt, während in Ostmitteleuropa sozialistische Eliten aufgrund ihres Alters bald keine Positionen mehr innehatten. Zudem sank ihr Anteil hier auch dadurch, dass Akteure der Oppositionsbewegungen nun Ämter übernahmen. Tabelle 1 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt, dass auf diese Weise bis zum Jahr 2000 deutlich mehr als 60 Prozent der politischen Eliten in Polen bereits in der Volksrepublik eine aktive Rolle in Regierung oder Opposition eingenommen hatten. Es wird außerdem deutlich, wie sich insbesondere in den 1990er Jahren die Anteile ehemaliger Regimeunterstützer*innen und Oppositioneller der Volksrepublik entsprechend der politischen Ausrichtung der jeweiligen Regierungsparteien verändern. Während 1995 unter der SLD-Regierung von Józef Oleksy 37 Prozent der Eliten vor dem Systemwechsel eine aktive Rolle im sozialistischen Regime hatten und 26 Prozent der Opposition angehörten, drehen sich die Zahlen fünf Jahre später. Unter Ministerpräsident Jerzy Buzek vom Wahlbündnis Solidarność (Akcja Wyborcza Solidarności) stammen 14,82 Prozent aus der ehemaligen Nomenklatura und 51,85 Prozent aus dem einstigen Oppositionslager. Im Vergleich zu den anderen Ländern nimmt die polnische Opposition eine besonders große Rolle ein. Grafik 2 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt, wie bedeutend die in der Volksrepublik Polen etablierten Strukturen der Solidarność für die Zusammensetzung der postsozialistischen Eliten waren. Polen weist ab dem Jahr 2000 bis zum Jahr 2020 den höchsten Wert an ehemaligen Unterstützer*innen der Opposition (27,87 Prozent) in den Eliten auf. Zuvor hat nur Ungarn höhere Werte, während in Russland, der Ukraine und auch Tschechien die Werte deutlich geringer sind.
Vor dem Hintergrund der starken Polarisierung der Gesellschaft entlang der Parteilinien von PO und PiS ist die geringe Bedeutung der Parteimitgliedschaft in Polen besonders interessant. Im Jahr 1990 beträgt der Anteil parteiloser Eliten 39 Prozent, er steigt bis 2010 auf 48 Prozent, um dann 2020 auf 43 Prozent zu sinken. Die Volatilität des Parteiensystems und der relativ geringe Einsatz von Ressourcen bei der Parteienentwicklung bewirken, dass der Organisationsgrad der Parteien niedrig ist. Zudem war auch schon zur Zeit der Volksrepublik die Parteimitgliedschaft für die Rekrutierung von Eliten kein so gewichtiges Kriterium wie in anderen sozialistischen Staaten, bspw. der DDR. Folgerichtig gehören jeder erfassten Regierung im Untersuchungszeitraum auch verschiedene Minister*innen ohne Parteibuch an. Darüber hinaus zählen zu dieser Gruppe Bürgermeister*innen, Geschäftsführer*innen von staatlichen Unternehmen und Vorsitzende von Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden.
Der Einfluss der PiS auf die Zusammensetzung politischer Eliten
Die Analyse zeigt einen kontinuierlichen Rückgang der Eliten des sozialistischen Regimes. Personelle Kontinuitäten als Grund für eine erneute Transformation hin zu einer Vierten Republik – wie die PiS argumentiert – sind also nicht gegeben. Darüber hinaus ist jedoch zu fragen, welchen Einfluss die drei PiS-geführten Regierungen auf die Zusammensetzung der politischen Eliten hatten. Als größte Partei in der jeweiligen Regierungskoalition hatte die PiS die Möglichkeit, vermeintliche Kontinuitäten zu beenden und eigenes Personal einzusetzen. Wie veränderten sich also die politischen Eliten in den Referenzjahren 2006, 2016 und 2020? Zu diesen Zeitpunkten waren die PiS-geführten Regierungen jeweils mehr als ein halbes Jahr im Amt.
Zwei wesentliche Änderungen lassen sich im Zusammenhang mit den PiS-Regierungen im Datensatz feststellen. Zunächst sinkt im Jahr 2006 der Anteil der ehemaligen Oppositionellen an den erfassten Amtsträger*innen deutlich von 51,85 Prozent (2000) auf 31,03 Prozent, während der Anteil der ehemaligen Regimeanhänger stabil bleibt (siehe Tabelle 1, Rubrik »Statistik«). In der Zusammensetzung des polnischen Parlaments zeigt sich wiederum ein anderes Bild, da der Ausgang der Parlamentswahlen den Anteil der einst regimetreuen bzw. oppositionellen Eliten im Sejm direkt beeinflusst. Hier sinkt der Anteil der ehemaligen Regimeanhänger um mehr als 50 Prozent, während der der Oppositionellen stabil auf einem niedrigeren Niveau bleibt. Ein Grund dafür ist, dass vor allem der Einzug der PiS als neue Partei in das Parlament Abgeordnete mit sich bringt, die zum ersten Mal überhaupt gewählt wurden. Nach den Wahlen 2015 und 2020 gibt es in der Gesamtstichprobe deutliche Rückgänge bei Angehörigen der ehemaligen Nomenklatura, während der Anteil der ehemaligen Oppositionellen zunächst leicht steigt und dann um einen ähnlichen Prozentsatz sinkt. Die Abnahme des Anteils der beiden Gruppen aus der Zeit der Volksrepublik kann allerdings nicht komplett vom Rückgang der betreffenden Gruppen aus Alters- und Renteneintrittsgründen differenziert werden. Es wird jedoch deutlich, dass die PiS neben der neuen Generation vor allem aus der ehemaligen Opposition rekrutiert.
Eine zweite Beobachtung im Kontext der PiS-Regierungen wird in Grafik 3 (siehe Rubrik »Statistik«) deutlich, die den Anteil derer zeigt, die wiederholt ein Amt innehaben. Dieser Anteil liegt nach 1995 bis zu den Wahlen 2015 zwischen 10 Prozent und 20 Prozent und steigt 2020 auf 37 Prozent. Eine ähnliche Entwicklung ist in Ungarn nach 2010 erkennbar. Die Werte deuten darauf hin, dass mit dem Beginn des Rückbaus der Rechtsstaatlichkeit durch rechtspopulistische Parteien mehr Amtsinhaber*innen ihre Positionen behalten. Aufgrund der ausgewählten Referenzjahre kann das Ergebnis nicht mit der achtjährigen PO-Regierung verglichen werden. Jedoch liegt der Wert für Tschechien, Ungarn und Ostdeutschland häufig unter den Werten für Polen und Ungarn nach der Regierungsübernahme durch die PiS bzw. Fidesz. Im Parlament zeigt sich eine ähnliche Volatilität unter den Abgeordneten. Tabelle 2 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt, dass von den 76 Abgeordneten des Sejm aus der Gesamtstichprobe im gesamten Zeitraum (1990–2020) 62 Personen erstmalig ein Abgeordnetenmandat erhalten. Nur neun Personen blieben auch im folgenden Referenzjahr Teil des Sejm. Ein starker Einfluss der PiS ist hier jedoch nicht festzustellen.
Mittelalte Männer
Neben den ehemaligen aktiven Mitgliedern von Opposition und Regime kommen im Sample naturgemäß auch verstärkt jüngere Generationen vor, die nach 1989 erstmalig Ämter übernehmen. Sie haben 1990 einen Anteil von unter 30 Prozent und ab 2005 von über 50 Prozent (siehe Tabelle 1, Rubrik »Statistik«). Trotz dieses Wandels bleiben die soziodemographischen Merkmale der Eliten sehr stabil.
Grafik 4 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt ein annähernd gleiches Alter der Eliten in allen untersuchten Ländern mit ähnlich steigender Tendenz. Polen weist 1990 mit 53 Jahren den relativ höchsten Wert auf, vermutlich aufgrund des hohen Anteils ehemaliger regimetreuer Eliten aus der ersten Reihe. Der Wert sinkt dann auf 51 Jahre und steigt bis 2020 auf 56 Jahre. Dieser Wandel unterstreicht den langsamen Aufstieg von jüngeren Generationen, die vor 1989 das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, und das altersbedingte Ausscheiden älterer Kohorten mit aktiver Rolle im sozialistischen System. Tabelle 3 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt, dass das Durchschnittsalter im Sejm fast durchgehend unter demjenigen der Gesamtstichprobe liegt, 1990 und 2006 beträgt der Unterschied sogar fünf Jahre. Die Teilstichprobe für das Parlament zeigt hier wieder einen schnelleren Wandel als die gesamte Stichprobe. Außerdem wird hier erneut ein Effekt der ersten PiS-Regierung deutlich. Vom Referenzjahr 2000 zum Referenzjahr 2006 verringert sich das Durchschnittsalter im Parlament um fünf Jahre, während die Gesamtstichprobe stabil bleibt (50 Jahre). Dieser Trend ist vor allem mit den neuen Abgeordneten der PiS zu erklären. Er kehrt sich jedoch 2010 bereits wieder um: Das Alter im Sejm steigt um neun Jahre auf 54 Jahre, da in der Legislaturperiode 2007–2011 weniger neue Parteien und weniger erstmalig gewählte Abgeordnete ins Parlament einziehen. Weiter zeigt Tabelle 3 (siehe Rubrik »Statistik«), dass nach 2005 ein auf das Parlament begrenzter Elitenwandel stattgefunden zu haben scheint, 2016 und 2020 aber keine Änderungen festzustellen sind.
Die Entwicklung des Frauenanteils der politischen Eliten verläuft in den meisten untersuchten Ländern ähnlich und verweist trotz Steigerung auf eine Unterrepräsentation von Frauen in höheren Positionen. In allen Ländern trug die Sozialisierung im sozialistischen System mit der einhergehenden Aktivierung von Frauen für den Arbeitsmarkt und für rangniedrige Elitenpositionen vermutlich zu einer langfristig höheren Beteiligung bei, beispielsweise im Vergleich zum Frauenanteil der nach 1990 in Ostdeutschland eingesetzten westdeutschen Elite. Die fünf ostdeutschen Bundesländer weisen deutlich höhere Werte als die übrigen Länder auf, gefolgt von Polen ab dem Jahr 2006. Grafik 5 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt, dass der Frauenanteil in Ostdeutschland von 11 Prozent auf 34 Prozent steigt und sich im gleichen Zeitraum in Polen von 4 Prozent auf 17 Prozent bewegt. Ein Grund für die unterschiedlichen Niveaus ist, dass es in der DDR eine höhere Beschäftigungsquote von Frauen auf dem Arbeitsmarkt gab als in der Volksrepublik. Direkt nach Beginn des Systemwechsels sank der Frauenanteil jedoch zunächst gegenüber den letzten Parlamenten in der DDR und der Volksrepublik, unter anderem aufgrund von neuen Rekrutierungsmustern, fehlender feministischer Interessenvertretung und einer Abwendung von der vormaligen (rein oberflächlichen) Integration von Frauen in die Parlamente der sozialistischen Staaten. Zudem gefährdete der Rückbau von sozialstaatlichen Einrichtungen, etwa Kinderbetreuung, die Arbeitsplätze von Frauen deutlich stärker und der Einfluss der katholischen Kirche in Polen verstärkte Geschlechter- und Rollenstereotype. Entsprechend gibt es in der Stichprobe für das Jahr 1990 unter 63 Amtsträger*innen nur zwei Frauen, die Vorsitzende von parlamentarischen Ausschüssen waren. Freiwillige Selbstverpflichtungen und gesetzliche Quoten in Parlamenten und Parteien förderten den Frauenanteil insbesondere in diesen Bereichen in den folgenden Jahrzehnten. Entsprechend hatten in Polen in der gesamten Periode mindestens die Hälfte der Frauen in der Stichprobe eine Position in der Regierung oder im Sejm inne. In anderen hohen Positionen waren sie deutlich weniger repräsentiert.
Welche Berufe und Abschlüsse haben die heutigen Eliten in Polen? Im gesamten Datensatz erreichen die Berufsgruppen Ingenieur*innen, Jurist*innen, Betriebs- und Finanzverwalter*innen sowie Wissenschaftler*innen jeweils mehr als 10 Prozent für jedes Land in jedem Referenzjahr. Im Falle Polens machen sie mehr als 60 Prozent der Stichprobe aus. Ein Zusammenhang zwischen bestimmten Regierungsparteien und Berufsgruppen lässt sich nicht feststellen. Gleiches gilt für den Sejm. Hier steigt allgemein der Anteil der Hochschulabsolvent*innen und die Anzahl der Abgeordneten mit sekundärer Bildung ohne akademischen Abschluss geht zurück.
Bemerkenswert ist, dass in Polen keine Abwertung von im sozialistischen Bildungssystem erworbenen Abschlüssen in den Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften stattfand, wie es in Ostdeutschland mit dem einsetzenden Elitentransfer aus Westdeutschland der Fall war. Entsprechend liegt in Polen der Anteil der Jurist*innen mit einem Studienabschluss aus der Zeit der Volksrepublik in der Stichprobe stabil bei 15 Prozent, während in den ostdeutschen Bundesländern deutlich Absolvent*innen der Natur- und Ingenieurswissenschaften dominieren.
Grafik 6 (siehe Rubrik »Statistik«) zeigt den Anteil von Personen der politischen Elite, die nach einer Promotion weiter an einer Universität beschäftigt waren. Die Werte gingen in allen untersuchten Ländern zurück. 1990 hat Polen den zweithöchsten Wert (47 Prozent) nach Russland (52 Prozent) und 2020 den höchsten Wert (32 Prozent). Der stärkste Rückgang findet zwischen 2000 und 2006 statt. Im Sejm zeigt sich insgesamt ein ähnliches Muster. Personen mit Arbeitserfahrung in der Wissenschaft sind nicht einer bestimmten Regierung oder Partei zuzuordnen. Der sinkende Anteil in den Eliten könnte jedoch mit dem Rückgang von bereits im sozialistischen System tätigen Personen unter den Eliten in Verbindung stehen.
Fazit
Diese Analyse beleuchtet mithilfe eines neu erstellten Datensatzes die Charakteristika der politischen Eliten Polens für den Zeitraum 1990–2020. Die Daten zeigen eine hohe Volatilität innerhalb der Eliten und einen eindeutigen Rückgang von Personen mit aktiver Rolle im sozialistischen System. Ein besonderer Fokus auf den Sejm veranschaulicht frühere und zum Teil gegenläufige Veränderungen. Der Vergleich mit anderen postsozialistischen Ländern unterstreicht die besondere Bedeutung der Solidarność als große Rekrutierungsressource für Amtsträger*innen und einen starken Wechsel zwischen ehemaligen Unterstützer*innen des Regimes und der Opposition unter verschiedenen Regierungen. Elitenkontinuitäten aus dem Kreis der Unterstützer*innen des sozialistischen Regimes bis zum heutigen Tage gibt es nicht, auch wenn Polen im ostmitteleuropäischen Vergleich hier die höchsten Anteile aufweist.
Den Forderungen der PiS nach einem Staatsumbau hin zu einer Vierten Republik aufgrund von Kontinuitäten der Nomenklatura fehlt nach dieser Studie die empirische Grundlage. Zudem haben die drei von der PiS geführten Regierungen nur geringe Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Eliten. Die Prioritäten der Personalpolitik der Partei liegen vermutlich zum Teil außerhalb der Stichprobe (z. B. in der Kulturpolitik, wie die Absetzung der Leitung des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig nach dem Regierungsantritt der PiS 2015 zeigt). Die Ergebnisse zeigen des Weiteren den Unterschied zwischen der Rhetorik einer rechtspopulistischen Partei, der Realität und ihrer tatsächlich umgesetzten Politik. Die Studie regt auch zur Reflexion über Implikationen von rechtspopulistischen Parteien an: Trotz des stetigen Wandels unter den untersuchten Amtsinhaber*innen finden Verschärfungen des politischen Diskurses erst mit dem Einzug erster rechtspopulistischer Parteien in den Sejm und der Herausbildung des PO-PiS-Duopols statt.
Diese Publikation und die zugrundeliegende Elitenstudie ist an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen im Rahmen des Forschungsprojekts »Modernisierungsblockaden in Wirtschaft und Wissenschaft der DDR« (Mod-Block-DDR) / Teilprojekt 7 entstanden, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.