Ein zentraler Programmpunkt der polnischen EU-Ratspräsidentschaft ist die Sicherheit in verschiedenen Bereichen. Die Ziele sind insbesondere in der medialen Vermittlung sehr ambitioniert formuliert. Nicht ohne Bedeutung ist hier der Wahlkampf für das Amt des Staatspräsidenten in Polen, der in die Zeit der EU-Ratspräsidentschaft fällt. Realistisch betrachtet, gibt die sechsmonatige Ratspräsidentschaft dem betreffenden Staat keine besonderen Instrumente, um bahnbrechende Veränderungen herbeizuführen. Doch es gibt eine Reihe informeller Mittel, welche die Möglichkeit bieten, den eigenen Standpunkt deutlich zu machen. Zusätzliche Möglichkeiten ergeben sich außerdem aus dem aktuellen Amtszyklus der EU-Institutionen: Die Strategien für die kommenden Jahre werden erst noch ausgearbeitet. Die Ziele der Ratspräsidentschaft können also breiter gefasst sein, als es die rein vertragsmäßige Funktion der Präsidentschaft nahelegt, und deren Umsetzung kann darin bestehen, verschiedene Ressourcen und kommunikative Möglichkeiten zusammenzubringen – in einer Zeit, in der die Augen ganz Europas auf Polen gerichtet sind.
Die internationalen Bedingungen
Im ersten Halbjahr 2025 hat Polen zum zweiten Mal in seiner Geschichte den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne. Die sechsmonatige Ratspräsidentschaft fällt in eine schwierige Zeit. Im Osten dauert der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine an und der Konflikt im Nahen Osten droht weiter zu eskalieren. Darüber hinaus muss die Europäische Union Beziehungen zur US-Regierung unter dem neuen Präsidenten Donald Trump aufbauen, der angekündigt hat, die Sicherheitsgarantien der USA für das Nordatlantische Bündnis von der Erhöhung der Verteidigungsausgaben der EU-Staaten abhängig zu machen sowie Zölle auf europäische Waren einzuführen. Gleichzeitig geht die Dynamik der europäischen Wirtschaft zurück und ist dabei, den Wettbewerb mit Amerika und Asien zu verlieren, wovon sich der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, in einem alarmierenden und breit kommentierten Bericht überzeugt zeigt.
Angesichts dieser Herausforderungen könnte sich der bisher zuverlässige Antrieb der europäischen Integration, die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris, als unzulänglich erweisen. Anfang 2025 sind politische Wirren in diesen beiden größten EU-Ländern zu beobachten, zumal in Deutschland im Februar vorgezogene Bundestagswahlen stattfinden werden und in Frankreich im Dezember 2024 die Regierung auseinanderbrach und der neue Ministerpräsident eine stabile Mehrheit erlangen und sich mit der Haushaltskrise messen muss.
Unter diesen Umständen übernimmt Polen von Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft. Ein großer Teil der EU-Staaten nahm den Wechsel mit Erleichterung und Hoffnung auf. Die ungarische Präsidentschaft wurde aufgrund des Konfliktes zwischen Budapest und Brüssel wegen der Nichtbeachtung europäischer Werte sowie des Verständnisses, das der ungarische Regierungschef Viktor Orbán dem Regime des russischen Präsidenten Wladimir Putin entgegenbrachte und was ihn in einer eigenmächtigen »Friedensmission« nach Moskau führte, kritisch beurteilt. Die Erwartung Polen gegenüber besteht vor allem darin, dass die Arbeit des EU-Rates wieder ruhiger wird und damit begonnen wird, die aktuell brennenden Probleme zu lösen. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat unlängst auf einer Pressekonferenz den Wunsch einer »tiefgehenden Korrektur der Prioritäten der Europäischen Union« geäußert. Er hob hervor, dass die polnische Ratspräsidentschaft nicht routinemäßig geführt werden und danach streben soll, dass der polnische Standpunkt berücksichtigt wird.
Die Herausforderungen, die vor der Europäischen Union stehen, und die Stagnation der bisherigen Führung Europas bergen für Polen die Chance, sich als Land zu positionieren, das fähig ist, große europäische Zukunftsprojekte zu initiieren.
Was die aktive Gestaltung der strategischen Debatte begünstigt, ist der Umstand, dass die polnische Ratspräsidentschaft mit einer neuen institutionellen Agenda einhergeht. Die neue Europäische Kommission wird in ihren ersten 100 Tagen Initiative zeigen und neue Projekte vorstellen, welche die Richtung der europäischen Politik für die kommenden fünf Jahre angeben. Dieser Zeitpunkt schafft die Möglichkeit, eigene Forderungen in die europäische Agenda einzubringen. In der Zeit der Ratspräsidentschaft »werden wir mehr Diskussionen initiieren, und ihre Beendigung wird Dänemark und Zypern, den beiden nächsten Ratspräsidentschaften unseres Trios, zukommen«, sagte die Vizeministerin für europäische Angelegenheiten, Magdalena Sobkowiak-Czarnecka, in einem Interview.
Polen hat in seinem Motto der EU-Ratspräsidentschaft klar zusammengefasst, was es für das Wichtigste hält: »Sicherheit, Europa!« Der Aspekt der Sicherheit soll dementsprechend in jegliche außen- und innenpolitische Entscheidungen der EU einbezogen werden. Diese Haltung ist nicht verwunderlich. Angesichts der russischen Aggression war Polen von Beginn an ein Fürsprecher für die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit Europas. Für Verteidigungszwecke bestimmt es im Jahr 2025 selbst 4,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, womit es die Rolle eines europäischen Falken annimmt.
Dabei belegt Polen Sicherheit nicht nur mit militärischer Bedeutung. Im Programm der polnischen EU-Ratspräsidentschaft ist auch die Rede von Energiesicherheit und ökonomischer Sicherheit sowie Lebensmittelsicherheit, gesundheitlicher Sicherheit, Informationssicherheit und innerer Sicherheit. In diesem Verständnis bezieht Sicherheit ein anderes europäisches Leitthema ein, das der Wettbewerbsfähigkeit.
Ressourcen – die polnische Soft Power
Einer der wesentlichen Faktoren, die über die Effektivität einer EU-Ratspräsidentschaft entscheiden, ist das Vertrauen der EU-Partner in die Administration des Landes, das den Vorsitz ausübt – sowohl vonseiten der Europäischen Kommission als auch der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes. Bereits vor dem Beginn haben die europäischen Eliten der aktuellen Regierung in Warschau einen großen Vertrauensvorschuss gewährt. Ministerpräsident Donald Tusk ist in Brüssel als einer der führenden Politiker in der Europäischen Union anerkannt. Die Zeitung »Politico« bezeichnete ihn als einflussreichste Person in Europa. Dank seiner bisherigen politischen Tätigkeiten als Regierungschef in Polen, Präsident des Europäischen Rates und Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) hat er große Anerkennung erlangt. In den polnischen Parlamentswahlen im Herbst 2023 hat das liberal-demokratische Bündnis unter seiner Führung die Koalition von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), die für Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit kritisiert wird, von der Regierung abgelöst. Die aktuelle Regierungskoalition, welche die Notwendigkeit der Rückkehr Polens in den europäischen Mainstream unterstreicht, erlangte einen weiteren Sieg in den Europawahlen 2024. Das Wahlbündnis Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO), dessen Frontmann Donald Tusk ist, erhielt gut 37 Prozent der Stimmen. Ein solches Ergebnis steht im Kontrast zu den Ergebnissen in Deutschland, die sich als Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz verstehen lassen, sowie in Frankreich, wo der rechtspopulistische Front National siegte. Der Erfolg stärkte Tusks Position als den letzten Aufrechten, der die Populisten aus der Regierung drängt. Das Ansehen des polnischen Ministerpräsidenten sowie seine Erfahrungen sind Ressourcen, die der polnischen EU-Ratspräsidentschaft Wirkmächtigkeit geben können.
Die EU-Ratspräsidentschaft kann für Polen die Rückkehr auf die Hauptbühne bedeuten und zeigen, dass das Land wieder ein Rechtsstaat mit einem stabilen Rechtssystem ist, in das es zu investieren lohnt. António Costa, der Präsident des Europäischen Rates, sagte während der Eröffnung der Ratspräsidentschaft in Warschau: »Polen ist eine Quelle der Resilienz und Energie in Zeiten, in denen Autoritarismus und Populismus eine immer größere Gefahr für unsere Werte darstellen.«
Polen will also seine Soft Power-Ressourcen auf Glaubwürdigkeit bauen – als demokratischer Staat mit einer sich schnell entwickelnden Wirtschaft sowie als Land, das eine führende Rolle in der neuen europäischen Sicherheitsstrategie spielen kann.
Der Krieg in der Ukraine und die hybriden Gefahren vonseiten Russlands haben die europäische Einstellung zur Sicherheit verändert. Als Frontstaat spielt Polen eine Schlüsselrolle in der neuen Sicherheitsarchitektur Europas. Warschau hat seit Jahren vor der Nachgiebigkeit Russland gegenüber und der Abhängigkeit von russischen Energieträgern gewarnt. Die Warnungen erwiesen sich als zutreffender als die damalige Haltung westeuropäischer Hauptstädte, die sich auf das Konzept »Handel durch Wandel« stützte. Die polnische Sichtweise fügt sich vollkommen in das Wiederaufleben der Realpolitik ein und kann der Europäischen Union Impulse geben, die notwendig sind, um sich mit den globalen Herausforderungen und der wirtschaftlichen Transformation zu messen. Die Bedeutung Polens im gegenwärtigen geopolitischen Kontext ist unbestreitbar, unabhängig davon, wie wirksam die Mittel der Ratspräsidentschaft genutzt werden. Der ehemalige Botschafter Deutschlands in Polen, Rolf Nikel, bezeichnete die aktuelle Zeit als »polnischen Moment«. Die Hauptaufgabe für Polen wird es sein, aus diesem »Moment« eine dauerhafte geostrategische Umorientierung Europas zu gestalten.
Der innenpolitische Kontext
Außer den bereits genannten Aspekten, wieder Glaubwürdigkeit und Ansehen auf der internationalen Bühne zu erlangen, begleitet noch ein anderes Ziel die polnische EU-Ratspräsidentschaft. Es geht hier um die polnische Innenpolitik und die Wahlen des Staatspräsidenten.
Die polnischen Parlamentswahlen am 15. Oktober 2023 haben die Parteien der aktuellen Regierungskoalition in hohem Maße aufgrund ihrer proeuropäischen Einstellung gewonnen. Die Mehrheit der Wähler wünschte sich die Rückkehr Polens nach Europa, nach Jahren der Isolation, in welche die PiS-Regierung das Land hineinmanövriert hatte. Die europäische Politik ist die Karte, welche die aktuelle Regierung ausspielen muss, insbesondere, da ihre Errungenschaften in anderen Bereichen nicht besonders positiv beurteilt werden. Das hat auch damit zu tun, dass die ausufernden Erwartungen der Wähler die Möglichkeiten der aktuellen Regierung übersteigen, denn diese muss mit einem enormen Haushaltsdefizit fertig werden. Nach Umfragen von United Survey vom Dezember 2024 meinen knapp 53 Prozent der Befragten, dass das Leben in Polen unter der gegenwärtigen Regierungskoalition schwieriger geworden ist. Nur 33 Prozent gaben an, dass sie nach dem Regierungswechsel 2023 besser leben. Der einzige Bereich, der sich allgemeiner Anerkennung erfreut, ist die Außenpolitik, insbesondere die europäische, was Untersuchungen 100 Tage nach der Amtsübernahme der Regierung bestätigen.
Es ist anzunehmen, dass Tusk mithilfe der EU-Ratspräsidentschaft die Zustimmungswerte für die Regierung verbessern will. Im Rahmen der Präsidentschaft sollen ca. 500 Veranstaltungen in ganz Polen stattfinden. Außerdem wird sie von unzähligen Pressekonferenzen und Interviews begleitet. Auf diese Weise kann die Regierung ihre Erfolge präsentieren. Die mediale Botschaft der Regierung lautet, dass Polen als wichtiger Akteur auf die europäische Bühne zurückkehrt, Regierungschef Tusk und seine Minister also ein Sicherheitsgarant für Polen angesichts der äußeren Gefahren sind.
In diesem Zusammenhang kommt auch den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Polen eine besondere Bedeutung zu. Das Staatsoberhaupt wird in Direktwahlen im Mai 2025 bestimmt; der offizielle Wahlkampf begann im Januar. Der Kandidat der Bürgerkoalition ist Rafał Trzaskowski, Stadtpräsident von Warschau, ehemaliger Europaabgeordneter sowie Minister für europäische Angelegenheiten. Er kann seine internationalen Erfahrungen als Trumpf einsetzen und sein Ansehen als proeuropäischer Politiker, der sich um die Interessen Polens in der Europäischen Union kümmern wird, hervorheben. Sein Hauptkonkurrent ist der Europaskeptiker Karol Nawrocki, der von der PiS unterstützt wird. Allerdings wird Trzaskowski, ebenso wie Tusk, messbare Erfolge der polnischen EU-Ratspräsidentschaft brauchen, um letztlich die Wahlen zu gewinnen.
Was will Polen machen?
Der Vertrag von Lissabon reduziert die Rolle der EU-Ratspräsidentschaft eher auf technische und administrative Funktionen, allerdings eröffnet die Leitung des Rates der Europäischen Union die Möglichkeit, den Ton und die Richtung der Debatten zu setzen. Polen plant Hunderte Treffen, Sitzungen von untergeordneten Gremien, Arbeitsgruppen und Ausschüssen des Rates der Europäischen Union in Brüssel und Warschau sowie Konferenzen mit europäischen Politikern und internationalen Experten. Im Rahmen dieser mehr oder weniger formellen Formate soll die Diskussion über die Richtung der Reform der Europäischen Union stattfinden. Darüber hinaus werden diplomatische Aktivitäten, die über den engen vertragsmäßigen Rahmen der Ratspräsidentschaft hinausgehen, die Präsidentschaft flankieren. Der Vorsitz im Europäischen Rat lässt sich also als komplementäres Instrument der Europapolitik der Regierung im weiteren Sinne betrachten.
Polen übernimmt von seinen Vorgängern eine hohe Anzahl nicht abgeschlossener Prozedere, darunter ca. 50 Gesetzgebungsverfahren sowie eine Reihe nicht legislativer Akte. Dazu gehört u. a. das Weißbuch über die Zukunft der europäischen Verteidigung, das der neuen Europäischen Kommission die Richtung weisen soll. Polen wird auf die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigten gemeinsamen Verteidigungsinvestitionen Einfluss nehmen wollen, um sie in konkrete Maßnahmen zu fassen.
Während der polnischen Ratspräsidentschaft werden die Gespräche über den europäischen Haushalt beginnen, d. h. den Mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2028–2034. Ein vorläufiger Entwurf wird sicherlich in der Zeit der dänischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2025 vorgestellt werden, aber Polen kann bereits die Debatte zu diesem Thema anstoßen. Ein Teil der EU-Staaten erwartet vorangehende informelle Konsultationen, die in die Zeit der polnischen Präsidentschaft fallen würden. Dem Programm der Präsidentschaft zufolge beabsichtigt Polen, über den Entwurf des Finanzrahmens während der Expertenkonferenz im Februar 2025 zu sprechen und anschließend auf der informellen Sitzung des Rates »Allgemeine Angelegenheiten« (RAA). Mit Sicherheit werden sich viele weitere Formate sowohl im Rahmen des Rates der Europäischen Union als auch außerhalb desselben auftun, um die Haushaltsperspektive zu behandeln, und Polen hat die Absicht, aktiv an diesen Diskussionen teilzunehmen.
Ein Thema wird die gemeinsame Schuldenaufnahme sein. Warschau wird sich für die Erhöhung des EU-Haushaltes aussprechen und dies mit der Notwendigkeit begründen, dass die großen Herausforderungen etwa im Bereich der Sicherheit und der Wettbewerbsfähigkeit bewältigt werden müssen. Beide Bereiche erfordern hohe Investitionen. Piotr Serafin, EU-Haushaltskommissar und langjähriger Mitarbeiter von Donald Tusk, hat bereits die Notwendigkeit angekündigt, im neuen Mehrjährigen EU-Finanzrahmen die Eigenanteile zu erhöhen und Privatkapital einzusetzen.
Sicherheit und Verteidigung
Im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird sich die polnische Ratspräsidentschaft auf drei Prioritäten mit Schlüsselbedeutung fokussieren: maximale Unterstützung für die Ukraine, Aufrechterhaltung der harten Politik gegenüber Russland und Belarus sowie Stärkung der Sicherheit und Resilienz der Europäischen Union. Die Pläne enthalten die dauerhafte politische, militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine sowie die Verstärkung des Drucks auf Russland, u. a. durch das 16. Sanktionspaket – bestenfalls bis zum 24. Februar, dem vierten Jahrestag der russischen Invasion. Polen wird sich außerdem um die Unterstützung der EU-Staaten dafür bemühen, dass die eingefrorenen russischen Aktiva für den Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden dürfen.
Außenminister Radosław Sikorski hat unterstrichen, dass die Politik Russland und Belarus gegenüber nach dem Prinzip »no business as usual« betrieben werden müsse. Polen wird hierfür zwei wichtige Verbündete unter den neuen Amtsträgern der EU haben: Kaja Kallas, die ehemalige Ministerpräsidentin von Estland, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik ist, sowie den ehemaligen Regierungschef von Litauen Andrius Kubilius, jetzt Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt. Das ist insofern wesentlich, als die baltischen Staaten den polnischen Standpunkt hinsichtlich der russischen Bedrohung teilen.
Eine weitere Priorität ist die EU-Erweiterung, die im Programm der Ratspräsidentschaft als »geopolitischer Imperativ sowie Chance auf eine Ausweitung der Zone der Stabilität und Entwicklung« bezeichnet wird. Auf dem Tisch liegen die Eröffnung des ersten Verhandlungsclusters zu fundamentalen politischen Kriterien mit der Ukraine und Moldau sowie die Fortsetzung der Verhandlungen mit Albanien und Serbien. Die Aufgabe der Ratspräsidentschaft wird es sein, im Rat »Allgemeine Angelegenheiten« Einvernehmen unter den 27 EU-Ländern zu erlangen, was für die Eröffnung eines Verhandlungsclusters erforderlich ist. Das kann schwierige Gespräche mit Ungarn bedeuten, das Vorbehalte gegenüber einer ukrainischen Mitgliedschaft äußerte, und möglicherweise auch mit der Slowakei. Des Weiteren wird die polnische Ratspräsidentschaft die proeuropäischen Bestrebungen der georgischen Zivilgesellschaft unterstützen und auf eine Umkehr des antieuropäischen Trends der aktuellen Regierung Georgiens hinwirken, welche die Macht infolge zweifelhafter Wahlen übernahm. Polen will auch, dass die Europäische Union und die Türkei konkrete Schritte für eine Annäherung unternehmen.
Auch lässt sich mit Wiederbelebungsversuchen der Östlichen Partnerschaft rechnen, die stärker proeuropäische Reformen in Ländern unterstützen soll, die keine EU-Mitgliedschaft anstreben, und die einen größeren Nachdruck auf Sicherheit sowie die Bekämpfung hybrider Gefahren legen soll.
Eine weitere Priorität der polnischen Ratspräsidentschaft wird die Entwicklung des Bereiches Verteidigung der EU sein. Notwendig sei es hier, so das Programm der Ratspräsidentschaft, die Verteidigungsbereitschaft zu stärken, u. a. durch die Erhöhung der Militärausgaben und eine stärkere Rüstungsindustrie.
EU-Kommissar Kubilius will, dass die Europäische Kommission schon im März vorläufige Vorschläge für gemeinsame Maßnahmen im Bereich Verteidigung vorstellt. Kubilius erwägt eine gemeinsame Finanzierung in Höhe von ca. 100 Milliarden Euro im künftigen Finanzrahmen, also zehnmal soviel wie zurzeit. Die ersten großen Zahlungen aus dem neuen Mehrjährigen Finanzrahmen lassen sich sicherlich erst 2029 erwarten, daher sondiert Polen vorläufige Lösungen, die schon jetzt Geld bereitstellen. Polen will die Diskussion über die Art und Weise und die Erweiterung der Unterstützung für gemeinsame Verteidigungsprojekte, u. a. durch Erlangung einer externen Finanzierung in den nächsten Jahren, eröffnen.
Eine ambitionierte Lösung wäre, nach dem Modell des Aufbaufonds Next Generation EU eine gemeinsame Schuldenaufnahme für Rüstungszwecke zu schaffen. Diese Idee, die von Kaja Kallas noch in ihrer Zeit als Estlands Regierungschefin vorgeschlagen wurde, unterstützten Frankreich, Polen und einige andere Staaten. Skeptisch verhielten sich dagegen die Nettoeinzahler in Nordeuropa. Polen erwägt jetzt, eine Koalition der Staaten zu bilden, die einen Sonderverteidigungsfonds schaffen wollen, der sich auf die Ausgabe von Anleihen gründet. Diese sollen durch Garantien der an dieser Initiative teilnehmenden Länder abgesichert sein und nicht von der gesamten EU. Das würde erlauben, die Anforderung der Einmütigkeit zu umgehen und Staaten wie Großbritannien oder Norwegen einzubeziehen. Polnischen Experten zufolge könnte eine solche »Koalition der Willigen« ca. 500 Milliarden Euro für mehrere Jahre generieren. Die Haltung Deutschlands in dieser Angelegenheit wird sich nach den Bundestagswahlen im Februar klären, und Polen rechnet auf die Unterstützung des neuen Bundeskanzlers, der wahrscheinlich Friedrich Merz werden wird.
Deutschland vertrat bisher die Meinung, dass sich Brüssel nicht auf die Finanzierung gemeinsamer Verteidigungsinvestitionen, sondern auf die Stimulierung der Rüstungsindustrie fokussieren sollte. Das ist keine Überraschung, wenn man berücksichtigt, dass das Produktionspotential und das technologische Potential der deutschen Rüstungsindustrie zur europäischen Spitze gehört. Polen dagegen wird sich um die Sicherung von EU-Mitteln für die Staaten der östlichen EU-Außengrenze bemühen, welche die Folgen der russischen Aggression am stärksten spüren. Die Mittel sollen sowohl für die Modernisierung der Rüstungsindustrie als auch für die Entwicklung der Verteidigungsinfrastruktur bestimmt sein, die Umsetzung des polnischen Leuchtturmprojektes »Schutzschild Ost« inbegriffen, also eines Systems, das die Grenze zu Russland und Belarus sowie die »Baltische Verteidigungslinie« verstärkt.
Zu den konkreten Angelegenheiten, die während der polnischen Ratspräsidentschaft erledigt werden müssen, gehört auch die Beendigung der sich hinziehenden Verhandlungen über die Europäische Industriestrategie für den Verteidigungsbereich für die Jahre 2025–2027. Ihr Budget soll 1,5 Milliarden Euro betragen und den europäischen Rüstungssektor unterstützen. Bisher waren die Nutznießer ähnlicher Initiativen (Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung – engl. EDIRPA; Verordnung zur Förderung der Munitionsproduktion – engl. ASAP) große Rüstungskonzerne, wobei die polnische Rüstungsindustrie nur 0,25 Prozent von insgesamt 800 Millionen Euro erhielt. Polen befürwortet eine größere Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen sowie Startups, um die Dominanz der großen Player auszugleichen und die Diversifizierung des Marktes zu vergrößern.
Eine Priorität der polnischen Ratspräsidentschaft wird auch die Stärkung der Zusammenarbeit mit der NATO sein. Polen liegt an der Koordination der Aktivitäten der Europäischen Union und der USA gegenüber Russland sowie der Gewährleistung, dass sie sich ergänzen.
Polen wird außerdem für die außermilitärische Sicherheit und Resilienz der Europäischen Union sowie ihrer östlichen Nachbarschaft aktiv werden. Ein Vorhaben der Ratspräsidentschaft ist hier die Entwicklung der Fähigkeiten der Europäischen Union, auf hybride Gefahren, Cyberattacken und Desinformation zu reagieren. Geplant ist die Gründung eines Europäischen Rates für Resilienz gegenüber Desinformation, der den Bereich Information beobachten und gegen fremde Eingriffe vorgehen soll.
Die polnische Ratspräsidentschaft greift auch die Frage der Sicherheit der EU-Außengrenzen und der Migrationspolitik auf. In ihrem Programm wird dieses Problem als erste Angelegenheit genannt, mit der sich der Rat »Justiz und Inneres« befassen soll. Warschau will die Migrationspolitik der EU verschärfen. Die polnische Regierung erwartet, dass die Europäische Kommission in der ersten Hälfte 2025 einen aktualisierten Entwurf für eine Rückführungsrichtlinie präsentieren wird, deren Ziel es sein soll, die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten bei Abschiebungen zu verbessern. Polen fordert die Reform von Vorschriften, um das Prozedere der Abschiebung von Migranten, denen kein internationaler Schutz in der EU zuerkannt wurde, zu beschleunigen. Außerdem sind Diskussionen über die Schaffung von Abschiebezentren (»return hubs«) außerhalb der Europäischen Union absehbar. Diese Zentren, die aus EU-Mitteln finanziert werden sollen, sollen abgeschobene Migranten aufnehmen und für ihre Rückführung in die Herkunftsländer verantwortlich sein.
Außerdem äußerte sich Tusk kritisch über den Relokationsmechanismus, den der im Jahr 2024 geschlossene Migrationspakt vorsieht. Es ist jedoch schwer vorherzusagen, inwieweit diese Haltung der Wahlkampfrhetorik in Polen oder der tatsächlichen Entschlossenheit, das Dokument zu überarbeiten, geschuldet ist.
Wettbewerbsfähigkeit, also Sicherheit im Bereich Wirtschaft und Energie
Eine der grundlegenden Herausforderungen in Brüssel für die kommenden Jahre wird es sein, die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wiederherzustellen. Die Europäische Kommission hat sich verpflichtet, im Laufe der ersten 100 Tage ihrer Amtszeit eine Strategie vorzustellen, welche die Ziele der ambitionierten Industriepolitik mit den Grundsätzen der Klimapolitik im Rahmen des Clean Industrial Deal verbindet. Polen beabsichtigt, auf die Ausgestaltung der neuen Strategie der wirtschaftlichen Transformation derart einzuwirken, dass auch die spezifischen Probleme der wirtschaftlichen Transformation in Ostmitteleuropa berücksichtigt werden. Zu den Prioritäten der Ratspräsidentschaft in diesem Bereich gehören: die Entwicklung einer starken Industriepolitik, die wirtschaftliche Sicherheit unter Berücksichtigung stabiler Energiepreise garantiert – Letzteres ein wesentlicher Aspekt für die Wettbewerbsfähigkeit; die Unterstützung für energieintensive Sektoren; die Verschlankung der Bürokratie der EU; die weitere Vertiefung des Binnenmarktes, insbesondere im Dienstleistungssektor. Von wesentlicher Bedeutung wird auch die Stärkung der europäischen Kapitalmärkte sein, mit dem Ziel, den Zugang zu Investitionskapital zu vergrößern.
Im Bereich Energie beabsichtigt Polen, die ehrgeizigen Vorhaben des Green Deal einzuschränken, und begründet das mit der Notwendigkeit, dass die Lebensmittel- und Energiesicherheit gewährleistet werden müssen. Die polnische Regierung wird unterstreichen, dass die Ängste der Bauern berücksichtigt werden müssen, die gegen die europäischen Vorschriften zur Reduktion der CO2-Emissionen oder zur Förderung der Biodiversität Einspruch erheben. Im Zusammenhang mit der Energiesicherheit wird Polen fordern, Kernenergie als »grüne Energie« anzuerkennen. Die zurzeit in Polen errichteten Atomreaktoren sollen im Jahr 2040 19 Prozent des polnischen Strombedarfs decken. Darüber hinaus wird die Ratspräsidentschaft bestrebt sein, das Programm REPowerEU zu verlängern, das die vollständige Abkehr von Energieträgern aus Russland beinhaltet. Eine Prüfung wird für Polen sein, Ungarn, die Slowakei und Österreich von dieser Richtung zu überzeugen. Ende 2024 lief der Vertrag Russlands mit der Ukraine über den Transit russischer Gaslieferungen durch die Ukraine aus. Sie werden nun also russisches Gas auf anderen Wegen einführen müssen – wie es Ungarn bereits getan hat – oder einen Ersatz finden müssen. Eine interessante Initiative der polnischen Ratspräsidentschaft kann hier auch die geforderte Koordination der Einkaufspolitik für Energieträger sein sowie die Entwicklung von Energienetzverbindungen zwischen den EU-Staaten. Diese Initiative erinnert an die schon 2014 von der damaligen Regierung des Ministerpräsidenten Tusk vorgeschlagene Energieunion.
Ein Erfolg der polnischen Ratspräsidentschaft wäre es, die Diskussion über die Vorhaben des Green Deal aus dem Jahr 2019 neu zu justieren. Wesentlich wäre aus polnischer Perspektive, Wirtschaftswachstum befördernde Ziele stärker als bisher zu berücksichtigen. Es geht hierbei darum, dass der Prozess der Dekarbonisierung nicht zu einer Deindustrialisierung führt. Polen will, dass die europäische Politik bei fehlender Umsetzung der ökologischen Richtlinien mehr auf Anreize und Unterstützung setzt und weniger auf Sanktionen. Polen rechnet damit, dass es bei den Arbeiten am Clean Industrial Deal gelingen wird, eine Revision einiger Elemente des bereits verabschiedeten Pakets Fit for 55 vorzunehmen – des Regelpaketes, das zur Senkung des CO2-Ausstoßes auf 55 Prozent bis zum Jahr 2030 führen soll.
Es ist nicht auszuschließen, dass drei Angelegenheiten erneut auf den Verhandlungstisch gelegt werden. Die erste wäre, dass die Strafen für die Automobilindustrie bei Überschreitung der für den CO2-Ausstoß gesetzten Grenzen terminlich verschoben werden oder ganz auf sie verzichtet wird. Außer Polen unterstützen Italien und Tschechien sowie Rumänien, die Slowakei und Bulgarien diese Idee. Mehr noch, sie findet auch in der Europäischen Volkspartei Unterstützung.
Die zweite Frage wäre, das System des EU-Emissionshandels zu lockern. Polen strebt eine zwei- oder dreijährige Verschiebung des Emissionshandels für Brennstoffe (EU-ETS 2) an, also der für 2027 geplanten Ausweitung des Handels mit Erlaubnissen für CO2-Emissionen auf Gebäude und Straßenverkehr. Als Ratspräsidentschaft kann in dieser Angelegenheit allerdings nur Druck auf die Europäische Kommission ausgeübt werden, in der Absicht, dass diese eine Revision der Richtlinien aufnehmen wird. Diplomaten sprechen inoffiziell davon, dass die Idee, ETS 2 zu verschieben, Unterstützung in Ostmitteleuropa findet, es aber bisher nicht gelungen ist, die großen Staaten Westeuropas davon zu überzeugen.
In der Zeit der polnischen Ratspräsidentschaft ist schließlich auch der Versuch zu erwarten, dass der CO2-Grenzausgleichsmechanimus (engl. CBAM) revidiert wird, eine 2026 angesetzte schrittweise Besteuerung bestimmter emissionsintensiver Waren aus Drittländern bei Einfuhr in die EU.
Polen und die Länder Ostmitteleuropas brauchen eine Erhöhung, zumindest aber die Aufrechterhaltung des EU-Budgets für die Energietransformation. Der Bericht des Polnischen Wirtschaftsinstituts (Polski Instytut Ekonomiczny – PIE) »Jednolity rynek w czasie burzy« (Einheitlicher Markt im Sturm) aus dem Jahr 2023 stellt fest, dass die Länder Ostmitteleuropas stärker von fossilen Brennstoffen abhängig sind, was hohe Investitionskosten zur Folge hat, um den Rückstand im Energiebereich aufzuholen. Zum Vergleich: Das westeuropäische Potential erneuerbarer Energien ist um 250 Prozent größer als in Ostmitteleuropa. Die Erhöhung des Anteils an erneuerbaren Energien erfordert die Stabilisierung der Stromproduktion mithilfe zusätzlicher Energieträger, den Ausbau von Energiespeichern sowie die Entwicklung des Stromnetzes und von Interkonnektoren. Es besteht also ein großer Finanzbedarf. Außerdem wird ein Ziel der polnischen Ratspräsidentschaft sein, die europäischen Mittel zur Unterstützung der Gruppen, die besonders von den Kosten der Transformation betroffen sind, auszubauen, z. B. Kleinunternehmer, die chemische Industrie und die Bauern. Im Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarktes für den Europäischen Rat vom April 2024 unterstreicht der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta, dass die Veränderungen in der Energiepolitik ohne eine solche Unterstützung auf den Widerstand der Bevölkerung stoßen können.
Um die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationen der europäischen Wirtschaft anzuregen, sind enorme Investitionen erforderlich. Gleichzeitig wird Warschau nicht wollen, dass es angesichts größerer Ausgaben für die Entwicklung neuer Technologien zu einer Reduzierung der Mittel für die Kohäsionspolitik oder die gemeinsame Agrarpolitik kommt, die für Polen größte Bedeutung haben. Daher wird sich die Ratspräsidentschaft darauf konzentrieren, das Portfolio eigener Ressourcen der EU zu erweitern, was sicherlich beinhalten soll, die Schulden mit neuen Schulden abzulösen. Wie auf diese Ideen die Staaten Nordeuropas, insbesondere Deutschland als größter EU-Nettozahler, reagieren werden, wird die Zeit zeigen.
Zusammenfassung
Die polnische Ratspräsidentschaft 2025 kann die Rolle eines Katalysators für wichtige Veränderungen in der Europäischen Union spielen. Dies ergibt sich sowohl aus dem geopolitischen Kontext als auch aus den Ambitionen Warschaus, die Prioritäten in Bereichen wie Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit oder EU-Erweiterung zu gestalten. Die wesentliche Herausforderung wird hier die Fähigkeit sein, die Ambitionen in konkrete Lösungen zu gießen, welche die Akzeptanz der Partner findet. Der Erfolg wird also davon abhängen, die nationalen Interessen mit den Bedarfen der ganzen Gemeinschaft zu verbinden.
Damit kann die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union ein wichtiger Test für die Fähigkeit Polens werden, die Rolle eines verantwortungsvollen und strategischen Anführers in der EU zu spielen. Diese Chance zu nutzen, wird nicht nur für Polen von Bedeutung sein, sondern auch für die Zukunft des europäischen Projektes in Zeiten großer Herausforderungen. Donald Tusk hat am Ende seines Auftrittes während der Eröffnung der Ratspräsidentschaft am 3. Januar 2025 eine Frage an ganz Europa gerichtet: »Seid ihr alle bereit, erneut auf den europäischen Weg der Größe, Stärke und Souveränität zu gehen? Denn Polen ist bereit.«
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate