Dynamische Veränderungen
Die polnisch-ukrainischen Beziehungen unterliegen in den letzten Jahren dynamischen Veränderungen, was sich auch in der gegenseitigen Wahrnehmung der beiden Nationen widerspiegelt. Polen spielte von Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022 an eine entscheidende Rolle bei der militärischen, humanitären und politischen Unterstützung. Die Ukrainer wussten diese Hilfe zu schätzen, was sich zunächst in hohen positiven oder geradezu enthusiastischen Sympathiewerten für Polen und die Polen äußerte. In Polen wiederum wurde auf beispiellose Weise gesellschaftliche Solidarität an den Hundertausenden Menschen geübt, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen und ein vorläufiges Zuhause an der Weichsel zu finden. Begleitet wurde sie von einer tiefen Anerkennung für den Kampf des ukrainischen Staates gegen den Aggressor.
Die politische und militärische Unterstützung Polens für den ukrainischen Kampf gegen den Angreifer wird weiter aufrechterhalten, trotz einstweiliger Spannungen in wirtschaftlichen Angelegenheiten oder im Bereich des historischen Gedächtnisses. Auch die positive Einstellung zu den europäischen Bestrebungen der Ukraine besteht fort. Allerdings begannen die wiederholt auftretenden Empfindlichkeiten in Verbindung mit der Getreidekrise und Grenzblockade (siehe Polen-Analysen Nr. 334, https://laender-analysen.de/polen-analysen/334/) sowie der Suche und Exhumierung der polnischen Opfer des Massakers von Wolhynien (1943) in der Ukraine wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in beiden Ländern zu nehmen und schlugen sich auch auf die politischen Diskussionen nieder.
Die hitzigen Emotionen wurden dann von kühleren Abwägungen abgelöst. Nach dem anfänglichen Enthusiasmus und der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz der Kriegsflüchtlinge zeigten sich in Polen erste Ermüdungserscheinungen und Sorgen um die eigenen wirtschaftlichen Interessen und die Entwicklung der historischen Konflikte, die nicht vollends gelöst worden waren. Die vom Krieg gebeutelte Ukraine reagierte mit Unverständnis auf die polnischen Erwartungen und betrachtete sie als politisches Spiel und nicht als Antwort auf reale Herausforderungen, was zu einem deutlichen Rückgang der positiven Bewertungen führte.
Dieser Text analysiert die beiderseitige Wahrnehmung der Polen und Ukrainer im Jahr 2024 und stützt sich dabei auf zwei Untersuchungen der öffentlichen Meinung des Mieroszewski Zentrums (Centrum Mieroszewskiego), einer polnischen öffentlichen Einrichtung in Warschau, die den Dialog zwischen Polen und den Nationen Osteuropas fördert. Die eine Untersuchung befasst sich damit, wie die Ukrainer Polen und seine Gesellschaft wahrnehmen, die zweite widmet sich dem Bild der Ukraine und der Ukrainer in den Augen der Polen. In beiden Fällen waren schon Untersuchungen dazu vorangegangen, so dass es möglich ist, bestimmte Trends festzustellen (s. »Lesetipps« am Ende des Textes).
Die Fragen, auf die wir Antworten suchten, betreffen nicht nur die beiderseitigen Beziehungen der beiden Nationen im Allgemeinen, sondern auch die wichtigsten Assoziationen, die das Nachbarland hervorruft, die Faktoren, die in den letzten Jahren Veränderungen der Meinungen zur Folge hatten, und die Aufgaben für die Politik. Besondere Aufmerksamkeit verwendeten wir darauf, die Einstellungen zu Fragen der heutigen Sicherheitspolitik sowie der zukünftigen im Kontext der europäischen und euroatlantischen Bestrebungen der Ukraine zu verstehen.
Sehen sich die Polen und die Ukrainer immer noch als strategische Partner? Welche Ursachen stehen hinter der Abkehr vom emotionalen Engagement hin zu einer kühleren Interessenbewertung? Inwieweit ist die beiderseitige Wahrnehmung von historischen Faktoren geprägt bzw. von den laufenden Ereignissen? Die Antworten auf diese Fragen erlauben es, besser zu verstehen, in welche Richtung die polnisch-ukrainischen Beziehungen gehen und welche Herausforderungen vor den beiden Nationen in nächster Zukunft auftauchen können.
Das Bild Polens und der Polen in den Augen der Ukrainer
Seit Februar 2022 nehmen Polen und die Polen einen besonderen Platz im Bewusstsein der Ukrainer ein. Das ergibt sich nicht nur aus der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern vor allem aus der außerordentlichen Unterstützung, die Polen der Ukraine in einem historischen Schlüsselmoment, dem russischen Angriffskrieg, gewährte. Die Untersuchungen der öffentlichen Meinung zeigen, dass die Ukrainer die Hilfe Polens – sowohl militärisch, als auch humanitär und diplomatisch – weiterhin wertschätzen.
Im Jahr 2022 setzte ein enormer Anstieg der positiven Meinungen über Polen ein. Im August 2022 gaben 83 Prozent der Ukrainer an, eine positive Einstellung gegenüber den Polen zu haben, während nur 1,5 Prozent eine negative Meinung hatten. Das war der höchste Anteil positiver Beurteilungen in den vom Mieroszewski Institut erhobenen Untersuchungen. In den Folgejahren, insbesondere 2023 und 2024, kühlte sich die Beziehung der Ukrainer zu Polen jedoch ab. Im Oktober 2023 sanken die positiven Meinungen auf 67 Prozent, im Januar 2024 auf 45 Prozent und im November auf knapp 41 Prozent. Das ist ein Rückgang um mehr als 40 Prozentpunkte innerhalb von zwei Jahren. Gleichzeitig stiegen die negativen Meinungen, wenngleich sie immer noch relativ niedrig blieben, auf neun Prozent Anfang 2024. Die positiven Einstellungen wandelten sich vor allem in eine neutrale Haltung, deren Anteil von 15 auf 53 Prozent wuchs. Die Abkehr vom außerordentlichen Enthusiasmus hin zu einer rationaleren Einstellung zeigt sich symbolhaft daran, dass der Anteil der Personen zurückging, welcher die Polen als »Freunde« und »Brüder« betrachtete, und dafür die Zustimmung für die Bewertung als »Nachbarn« stieg.
Der Sympathierückgang gegenüber Polen lässt sich weitgehend den Ereignissen im Zusammenhang mit der Krise an der polnisch-ukrainischen Grenze zuschreiben. Die Proteste der polnischen Bauern und LKW-Fahrer, die LKW-Blockaden und Vorfälle wie das Wegschütten ukrainischen Getreides stifteten Unruhe in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern und schlugen sich in den Umfragen nieder.
Eine beunruhigende Veränderung ist der wachsende Anteil derer, die bereit sind, Narrativen zu glauben, dass Polen Gebietsrevisionismus gegenüber der Ukraine anstrebt. 2022 teilten sechs Prozent der Befragten eine solche Meinung, 2023 waren es elf Prozent und 2024 bereits 20 Prozent. Das ist ein wichtiges Signal, dass die russische Desinformation über angebliche polnische Gebietsforderungen, die sich auf westukrainische Gebiete beziehen sollen, einen Teil der ukrainischen Gesellschaft erreicht. Interessant ist allerdings, dass gerade die Einwohner der westlichen Regionen der Ukraine, insbesondere Galiziens und der Rechtsufrigen Ukraine [westlich des Dnepr gelegener Teil der Ukraine, Anm.d.Übers.], die historisch stärkere Verbindungen, aber auch schwerste Konflikte mit Polen hatten, häufiger eine positive Einstellung gegenüber Polen und den Polen vertreten.
Ungeachtet der aktuellen Spannungen werden die Polen weiter als Nation gesehen, die den Ukrainern kulturell am nächsten steht. 2024 teilten diese Antwort 46 Prozent der Befragten; die Belarusen als nächstgenannte erhielten neun Prozent, und mehr Befragte nannten Slowaken und Moldawier als Russen, die vier Prozent erhielten. Polen bleibt in der Spitzengruppe der Staaten, die nach Meinung der Ukrainer sie am meisten im russischen Angriffskrieg unterstützen. Im November 2024 nannten 23 Prozent der Befragten Polen als einen der drei wichtigsten Staaten, die der Ukraine helfen – nach Großbritannien (34 Prozent) und Deutschland (29 Prozent).
Die Ukrainer glauben, dass Polen sie im Kampf gegen den russischen Aggressor weiter unterstützen wird. Diese Meinung äußerten 86 Prozent der Respondenten. Die Überzeugung, dass Polen die Ukraine auf ihrem Weg in die Europäische Union unterstützen wird, ging von 86 Prozent (2023) auf 76 Prozent (2024) zurück, sie ist aber immer noch sehr hoch. Nimmt man hinzu, wie die Mehrheit der Ukrainer die Zukunft der polnisch-ukrainischen Beziehungen skizziert, entweder als gute Nachbarschaft (49 Prozent), als Bündnis sich gegenseitig unterstützender Staaten (27 Prozent) oder einfach als Staatengemeinschaft (22 Prozent – vermutlich geht es hier um die Mitgliedschaft in der EU), ergibt sich das Bild einer Nation, die im Nachbar Polen einen tatsächlichen und nicht nur nominellen strategischen Partner sieht.
Das Bild der Ukraine und der Ukrainer in den Augen der Polen
Seit den ersten Kriegstagen ist Polen das wichtigste Hinterland für den ukrainischen Unabhängigkeitskampf, sowohl als Aufenthalts- und Transitland für Geflüchtete als auch als logistische Drehscheibe für humanitäre und militärische Hilfe. Unter diesen Umständen kletterten die polnisch-ukrainischen Beziehungen auf ein bisher nicht gekanntes Niveau. Viele Monate war der Enthusiasmus in Polen riesengroß. Berührende Bilder von Menschen, die Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnahmen, die Mobilisierung der Gesellschaft in einem zuvor nicht erlebten Ausmaß und die verbreitete Erzählung von der »Brüderschaft« der Polen und Ukrainer dominierten sowohl in den Medien als auch im öffentlichen Bereich.
Im Jahr 2022 gaben 82 Prozent der Polen eine positive Einstellung gegenüber den Ukrainern an, was ein historischer Rekord war. 2024 betrug dieser Anteil 56 Prozent. Zunehmend begannen sich Anzeichen von Erschöpfung und Ungeduld angesichts der wachsenden wirtschaftlichen Anspannung und unglücklicher Aussagen ukrainischer Politiker zu zeigen. Die steigende Zahl von Ukrainern, die polnische Sozialleistungen bezogen, sowie die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wurden Gegenstand der öffentlichen Debatte, was Einfluss auf das Ansehen der Ukrainer in Polen hatte. Auch die wiederbelebte Debatte über die Suche, Exhumierung und Beisetzung der polnischen Opfer des Massakers von Wolhynien hatte Einfluss auf die Veränderung der Einstellungen.
Einer der Schlüsselfaktoren für diese Veränderung waren wirtschaftliche und soziale Fragen. Im Jahr 2022 sah die deutliche Mehrheit der Polen die Präsenz der Ukrainer auf dem polnischen Arbeitsmarkt nicht als Bedrohung an. 2024 allerdings machten sich bereits 35 Prozent der Polen über eine Konkurrenz der Ukrainer Sorgen. Mehr als 44 Prozent der Befragten meinten, dass die ukrainische Migration nach Polen negative Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Wohnungen und die Entlohnung in einigen Wirtschaftsbereichen hat.
Die Veränderung der Stimmung wurde auch durch die internationale Lage und die Ungewissheit im Zusammenhang mit dem fortdauernden Krieg beeinflusst. In der polnischen öffentlichen Debatte waren zunehmend Stimmen zu hören, dass Westeuropa eine größere Verantwortung für die Ukraine übernehmen und Polen, obgleich weiterhin engagiert, nicht die nach Ansicht der Befragten überproportional hohen Kosten der Unterstützung tragen sollte. 62 Prozent der Polen meint, dass Polen seine Hilfe für die Ukraine schrittweise reduzieren sollte, um sich auf die eigenen inneren Probleme zu konzentrieren. Diese Haltung resultiert nicht daraus, dass sich die Einstellung, den Sieg der Ukraine als optimal für die polnische Sicherheit zu unterstützen (40 Prozent), verändert hätte. Vielmehr ergibt sie sich aus Befürchtungen, das polnische Potential könne im Falle eines Konfliktes mit Russland übermäßig geschwächt sein.
Gleichzeitig ist die anhaltende Unterstützung der Polen für die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union (63 Prozent) sowie in der NATO (59 Prozent) hervorzuheben. Allerdings handelt es sich nicht um eine bedingungslose Unterstützung. Für eine schnelle Integration in die EU sprechen sich aus Gründen der Sicherheit 19 Prozent der Polen aus; die übrigen machen den Beitrittsprozess von der Erfüllung der Kriterien und der Lösung von Streitpunkten mit Polen abhängig. Was die NATO-Mitgliedschaft betrifft, unterstützen 26 Prozent der Polen die bedingungslose Mitgliedschaft als beste Art und Weise, Russland zu stoppen; die übrigen erwarten, dass zunächst der Krieg beendet wird.
Ein interessanter Kontrapunkt zu diesen Ergebnissen ist, dass 42 Prozent der Polen keine gemeinsamen Interessen, die Polen und die Ukraine verbinden, wahrnehmen können und 36 Prozent meinen, dass es sie nicht gibt. Nur 23 Prozent sind gegenteiliger Meinung. 32 Prozent wiederum identifizieren mit Leichtigkeit Konflikte, wohingegen 23 Prozent meinen, dass es keine gibt; die übrigen wissen dazu nichts zu sagen. Demnach gibt es einen deutlichen Anteil von Personen, die anfällig für volatile Stimmungen sind, welche vor allem von laut ausgetragenen Konflikten geprägt werden. In der polnischen Öffentlichkeit wird – im Vergleich zur historischen Themen – relativ wenig beispielsweise über die sich sehr gut entwickelnden Handelsbeziehungen gesprochen, in denen Polen einen deutlichen Überschuss erzielt.
Die Geschichte, die nie aus den polnisch-ukrainischen Diskussionen verschwunden ist, kehrte im neuen Kontext des Krieges mit neuer Kraft zurück, wobei die spezifische Sensibilität auf beiden Seiten enthüllt wurde. Zu einer Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung für die polnischen Befragten und zu einem Lackmustest für die ukrainischen Absichten ist die Frage der Exhumierung und Beisetzung polnischer Opfer im Kontext des Zweiten Weltkrieges geworden. 57 Prozent der Polen meinen, dass die Ukraine die historische Schuld an den Polen stärker anerkennen sollte, und 29 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die polnisch-ukrainischen Beziehungen ohne Lösung dieser Fragen nicht harmonisch werden entwickeln können.
Besondere Emotionen ruft aktuell die ungelöste Frage der Suche und Exhumierung der Opfer des Massakers von Wolhynien hervor, die seit 2017 von der ukrainischen Regierung blockiert wurde. Bei der Bestimmung ihrer Erwartungen an die Politik vor einem Jahr maßen die Befragten der Angelegenheit, die Beisetzung der Opfer der Verbrechen voranzutreiben, ein ähnliches Gewicht bei wie der weiter gewährten Unterstützung der Ukraine bei der Abwehr des russischen Angriffs. Darüber hinaus meint die Mehrheit der Polen (52 Prozent), dass die Ukrainer das Problem der Exhumierung nicht lösen wollen, weil es für sie ein in vielerlei Hinsicht unbequemes Thema ist.
Zu Beginn des Krieges wurden die Ukrainer in Polen vor allem als Opfer der russischen Aggression und als Menschen, die Schutz und Unterstützung suchen, wahrgenommen. Die Polen behandelten sie als Nachbarn in Not. Im Laufe der Zeit hat das Bild der Ukrainer zusätzlich Schattierungen angenommen. Viele Polen assoziieren die Ukrainer gegenwärtig mit einer Anspruchshaltung, d. h. mit unverhältnismäßigen Erwartungen bezogen auf die tatsächlichen Bedürfnisse. In den Untersuchungen brachten 47 Prozent der Polen die Meinung zum Ausdruck, dass die Ukrainer in Polen eine zu große soziale Unterstützung bekommen. Es beginnen sich Ängste mit Blick auf die Konkurrenz vonseiten der Ukrainer auf dem Arbeitsmarkt zu vertiefen, die als fleißig und unternehmerisch gelten.
Die Polen sehen in der Ukraine ein Nachbarland, das gegen einen Aggressor kämpft, der eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit Polens darstellt, – daher überwiegen weiter die positiven Meinungen. Die zunehmende Skepsis gegenüber den Ukrainern ist dagegen eine Reaktion auf die Erfahrung ihrer direkten und massenhaften Präsenz in Polen, was mehr oder weniger begründete Befürchtungen weckt. Die größere Nähe und der tägliche Kontakt rufen stärkere Reaktionen hervor, die durch russische Desinformation oder polnische politische Milieus mit dem Ziel, Abneigung gegenüber den Ukrainern zu schüren, befördert werden. Die angesammelten Konflikte bewirkten, dass 31 Prozent der Polen die gegenwärtigen polnisch-ukrainischen Beziehungen im Allgemeinen als gut oder sehr gut bewerten und 22 Prozent als schlecht oder sehr schlecht.
Schlussfolgerungen
Die Polen haben sich an die täglichen Nachrichten über die russische Aggression gegen die Ukraine gewöhnt, empfinden aber gleichzeitig eine wachsende Unsicherheit, was die Zukunft im Allgemeinen betrifft. Internationale Ereignisse wie der Regierungswechsel in den USA und die sich verschlechternde Lage an der Front, Sorgen um die europäische Sicherheit und fortwährende Desinfomationskampagnen und hybride Kriegsführung von russischer Seite ergeben ein immer vielschichtigeres Bild der Situation. Die polnische öffentliche Meinung steht vor der Herausforderung, es zu durchschauen und die Folgen abzuschätzen. Auch wenn die kriegsbedingte Anspannung im Alltag nicht immer zu spüren ist, prägt sie doch in der Realität fortwährend die Denkweise der Polen. Zunehmend wird der Konflikt im Osten nicht nur als Drama der Ukraine, sondern auch als Teil einer größeren Rivalität um den Einfluss in Mittel- und Osteuropa wahrgenommen. Das Gefühl, auf Tuchfühlung mit globalen Veränderungen zu sein, weckt Unruhe, regt aber auch zur Reflexion über die Zukunft der Region an.
Die Ukrainer ihrerseits messen sich fortwährend mit einer existentiellen Herausforderung und zahlen einen sehr hohen Preis für die Verteidigung ihrer Staatlichkeit und Souveränität vor dem russischen Aggressor. Alles, was nicht unmittelbar mit den Anstrengungen des Krieges verbunden ist – die Nuancen der Beziehungen zu Polen inbegriffen –, wird als zweitrangig betrachtet und an den Rand gedrängt. Was vor allem zählt, ist, den Feind abzuwehren und optimale Bedingungen für mögliche Gespräche zu schaffen.
Zweifellos zieht die objektiv andere gesellschaftliche Stimmungslage auf den beiden Seiten eine spürbar wachsende Spannung nach sich, die sich aus dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erwartungen ergibt. Aufgrund der seit drei Jahren geleisteten Unterstützung erwartet ein Teil der Polen von den Ukrainern eine stärkere Berücksichtigung der polnischen Interessen und betrachtet jedes Anzeichen von ukrainischem Eigensinn als Ausdruck fehlender Dankbarkeit. Die unglücklichen Aussagen ukrainischer Politiker über polnische Forderungen, auch des Präsidenten, gossen zusätzlich Öl ins Feuer. Ein Teil der Ukrainer ist wiederum der Ansicht, dass ihr Land und sie selbst den restlichen Kontinent vor dem Angreifer schützen und ihnen somit vor allem Dankbarkeit gebührt und nicht Forderungen in Sachen Landwirtschaft oder Geschichte. Die Proteste der polnischen Bauern und LKW-Fahrer gegen die ungleichen Bedingungen beim Wettbewerb, die zeitweiligen Grenzblockaden sowie Vorfälle wie das Ausschütten ukrainischen Getreides haben das Bild Polens negativ beeinflusst, weil die Symbolik, dass ein verbündeter Staat beispielsweise die gemeinsame Grenze blockiert, ihre Wirkung entfaltete. Die dahinter stehenden Gründe der polnischen Akteure hatten dagegen nicht die große Bedeutung.
Die polnische öffentliche Debatte zum Thema Ukraine beschränkt sich heute nicht ausschließlich auf den Krieg. Zwar sind zurzeit die Konflikte über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Hintergrund getreten, sie werden aber mit Sicherheit wieder auf den Plan treten. Dafür kehrte die schwierige Vergangenheit zurück, konkret das mangelnde Verständnis für die ukrainische Abneigung gegenüber einer umfassenden Lösung für das Problem der Exhumierung der polnischen Opfer des Massakers von Wolhynien. Ein großes Echo riefen die Erklärungen der ukrainischen Regierung im Januar hervor, die Beschränkungen bei der Suche und Exhumierung der Opfer des Zweiten Weltkrieges und der Repressionen auf dem Gebiet der Ukraine, wozu auch die Opfer des Massakers von Wolhynien gehören, tatsächlich aufzuheben. Allerdings zogen diese Aussagen unterschiedliche Reaktionen nach sich: Die einen sehen in ihnen die Ankündigung realer Veränderungen, andere begegnen ihnen mit Distanz und stellen die Ehrlichkeit der ukrainischen Intentionen in Frage. Hier wird sichtbar, wie tief das Misstrauen bei diesem Thema ist.
Ungeachtet dessen, welche Emotionen diese Aufgaben wecken, bleibt eines unverändert: Für die Mehrheit der Polen hat es strategische Bedeutung, dass die Ukraine ihre Souveränität und Fähigkeit zur selbständigen Gestaltung ihrer Politik behält. Diskussionen über ihre europäische Zukunft, die Behebung der Kriegsschäden und die Perspektiven einer internationalen Nachkriegsordnung gründen auf der Überzeugung, dass die Ukraine ein unabhängiges Land bleibt. Das ist ein wesentlicher Bestandteil des polnischen Denkens.
Das alltägliche Leben in Polen hat seinen eigenen Rhythmus und die Ukrainer schreiben sich mehr und mehr in ihn hinein. Bis vor kurzem war der Begriff »Flüchtling« die dominierende Beschreibung, heute aber verliert er an Bedeutung – die Ukrainer arbeiten, studieren, bewegen sich zwischen den beiden Ländern und werden Teil der polnischen Gesellschaft. Auch wenn es nicht an skeptisch eingestellten Gruppen mangelt, die die zahlenstarke Präsenz der Ukrainer beäugen, und Spannungen und Konflikte unausweichlich sind, bleibt deren Ausmaß gering. In Großstädten und vielen Branchen hat die Anwesenheit der Ukrainer schlicht Schlüsselbedeutung für die Aufrechterhaltung der Flexibilität am polnischen Arbeitsmarkt. Gemeinsame historische Erfahrungen und die kulturelle Nähe begünstigen die Integration, und die immer besseren Polnischkenntnisse der Ukrainer verringern zusätzlich die Distanz zwischen den beiden Gesellschaften.
Der Vergleich mit Umfrageergebnissen von Anfang 2024 zeigt, dass sich in Polen ein stabiles gesellschaftliches Meinungsbild über die Ukraine und die Ukrainer bei einem gewissen Anstieg negativ eingefärbter Urteile gebildet hat. Auf diese negativen Einstellungen hatten mehrere Faktoren Einfluss – von den medial vermittelten Nachrichten zur Situation an der Front, über Spannungen in den polnisch-ukrainischen Beziehungen sowie tägliche Interaktionen mit der zahlenstarken ukrainischen Gesellschaft in Polen bis zum Wirken der russischen Desinformation.
Die polnische Gesellschaft betrachtet die Ukraine gegenwärtig auf zweierlei Weise. Beim Thema Krieg sprechen sich die Polen weiter für militärische und politische Unterstützung für die Ukraine aus und sind sich der Konsequenzen einer möglichen Niederlage des Nachbarn und der sich daraus ergebenden Gefahren für die polnische Sicherheit bewusst. Gleichzeitig zeigt sich eine immer größere Vorsicht bei der Bewertung möglicher Formen polnischen Engagements in dem Konflikt. Den zweiten Bereich kann man »außerhalb des Krieges« oder sogar »nach dem Krieg« nennen. Er umfasst historische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen und Aufgaben. Das heißt, er betrifft gewissermaßen die erwartete Gestalt der Beziehungen nach dem russischen Angriffskrieg. Die Linien dieser Aufgaben zeichnen sich immer stärker in den Umfrageergebnissen ab.
Die ersten Kriegsmonate waren für die polnische öffentliche Meinung zeitweilig viel eindeutiger: Die massenhaft eintreffenden Geflüchteten brauchten Unterstützung und Betreuung. Die Gesellschaft verband sich in Solidarität, und die Mobilisierung, um Hilfe zu leisten, war beinahe instinktiv. Heute fragen sich viele Polen, ob die sich in Polen aufhaltenden Ukrainer immer noch Unterstützung auf der bisherigen Grundlage brauchen. Besondere Emotionen ruft das angebliche Anspruchsdenken eines Teils der ukrainischen Bürger in Polen hervor. Ein Teil der Befragten ist überzeugt, dass das System der Sozialleistungen übermäßig belastet ist und manche Ukrainer die angebotene Hilfe missbrauchen. Es treten Meinungen auf, dass der polnische Staat überprüfen sollte, nach welchen Prinzipien er Personen unterstützt, die schon in Polen heimisch geworden sind und eine gewisse finanzielle Stabilität erreicht haben.
Die Untersuchungsergebnisse weisen auch auf einen fortschreitenden Prozess der »Entmythologisierung« der Ukraine in den Augen der Polen hin. Zwar ist weiter Anerkennung für die heldenhafte Haltung der gegen den russischen Angreifer kämpfenden Ukrainer festzustellen, aber immer häufiger wird auch erkennbar, dass ein Bewusstsein der alltäglichen Probleme besteht, mit denen sich ukrainische Gesellschaft und Staat messen müssen. Auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen mit den in Polen lebenden Ukrainern sehen die Polen sowohl deren Entschlossenheit und Unternehmergeist als auch gewisse Schwierigkeiten im Integrationsprozess.
Das Thema Ukraine ist der polnischen öffentlichen Meinung immer vertrauter geworden, denn es schreibt sich ganz natürlich in die tägliche Realität ein. In den ersten Kriegsmonaten dominierte in der Narration das Pathos, heute dagegen betreffen die Gespräche über die Ukraine häufiger pragmatische und lebenspraktische Fragen. Diese Veränderung ist allerdings keine vollkommene Abkehr vom bisherigen Trend der gezeigten Unterstützung und Sympathie. Sie stellt eher eine Korrektur und Anpassung an einen realistischeren Blick auf die polnisch-ukrainischen Beziehungen dar.
Es zeigt sich also, dass trotz auftretender Spannungen, die unvermeidlich zwischen Nachbarstaaten sind, und eines Rückgangs der positiven Emotionen Polen für die Ukrainer der nächste Nachbar und einer der wichtigsten Partner bleibt – und die Ukraine für die Polen ein Staat, dessen unabhängige Existenz enorme Bedeutung für die polnische Sicherheit hat. Die engen Beziehungen können helfen, die erwünschte regionale Ordnung zu gestalten. Der hohe Preis der Unterstützung, den Polen für die Ukraine zahlt, die kulturelle und wirtschaftliche Nähe sowie die immer noch starke Überzeugung, dass es in der Zukunft einer engen Zusammenarbeit bedarf, zeigen, dass die Beziehungen zwischen den beiden Nationen ein solides Fundament haben. Dieses muss man pflegen, indem unvermeidliche Konflikte antizipiert und möglichst schnell Kompromisslösungen gefunden werden.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate