Schon vor dem Schaden klug
Die Geschichte mit dem Gas, dem Übergangsrohstoff der Energietransformation, war mit dem Abschluss der Bauarbeiten an der Baltic Pipe zwischen Norwegen und Polen und der Kündigung des polnisch-russischen Gasliefervertrags nicht zu Ende. Die Sache hatte im Februar 2022 von sich reden gemacht, als Russland nach mehrmonatiger Energiekrise, ausgelöst von der staatlich kontrollierten Firma Gazprom, die systematisch das Gasangebot in Europa verknappt hatte, in der Ukraine militärisch einmarschiert war. Das gesunkene Gasangebot führte im Zusammenspiel mit geringen Vorräten zu Höchstpreisen in ganz Europa, diese wiederum verteuerten die Stromerzeugung, die in entscheidendem Maße von dem Energieträger Gas abhängt. So verwandelte sich die Krise auf dem Gasmarkt in eine des gesamten Energiesektors. Die höheren Gas- und Strompreise förderten den Einsatz von Kohle, steigerten deren Nachfrage und erhöhten auch deren Preis. Die Energiekrise führte zu einem erheblichen Inflationsdruck und damit einhergehend zu wirtschaftlichen Problemen, die bis heute sichtbar sind. Polen war jedoch in der Lage darauf zu reagieren, indem es einfach den Plan beschleunigte, kein Gas mehr aus Russland zu beziehen. Unter normalen Bedingungen wäre es dazu mit dem Auslaufen des Vertrags zwischen der Polnischen Erdölbergbau und Gas AG (PGNiG) und Gazprom Ende des Jahres 2022 gekommen. Russland drehte jedoch den Gashahn schon im April 2022 unter dem Vorwand eines Streits über die Zahlungsmodalitäten in Rubel zu. Polen beschleunigte den Ausbau eines eigenen LNG-Terminals und der polnisch-litauischen GIPL-Gasleitung, es unterschrieb auch einen langfristigen Vertrag mit dem norwegischen Konzern Equinor, der maximale Liefermengen durch die neu eingerichtete Baltic Pipe garantiert. Die polnischen Ideen einer Verpflichtung zur Bevorratung von Gas vor dem Winter und einer Bedarfsbündelung in einer Agentur, die gemeinsame Einkäufe organisiert, was die Verhandlungsposition der Interessenten verbessert, wurden in europäische Vorschriften aufgenommen. Deutschland, das seine wirtschaftliche Entwicklung unter Einbeziehung russischer Gaslieferungen geplant hatte, die seine Energiewende absichern sollten, musste sich an Polen ein Beispiel nehmen und in kürzester Zeit fünf Gasterminals in Betrieb nehmen, um sich auf nicht-russisches Gas umzustellen. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Veränderungen sind für Deutschland bis heute spürbar. Doch die Geschichte nimmt auch auf dem polnischen Gasmarkt weiter ihren Lauf. Trotz der guten Versorgung des Markts mit der Perspektive, gänzlich unabhängig von Russland zu bleiben, muss mit die Liefersicherheit beeinträchtigenden Zwischenfällen gerechnet werden: vom Wintereinbruch, der den Bedarf erhöht, bis zu Sabotage wie im Fall der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 sowie des Balticconnectors (im Herbst 2023 durch einen chinesischen Frachter unterbrochene Gasverbindung zwischen Finnland und Estland). Diese Bedrohung wächst angesichts der militärischen Entwicklung im Osten. Als Übergangsbrennstoff der polnischen Energiewende soll das Gas aber durch das Flüssigerdgasterminal in Swinemünde (Świnoujście) und die Baltic Pipe gesichert sein, im Jahr 2028 soll noch eine schwimmende Speicher- und Wiederverdampfungseinheit (FSRU) in der Danziger Bucht hinzukommen.
Abschied von der Kohle und Boom der erneuerbaren Energien
Die Energietransformation selbst hingegen befindet sich in der Etappe der Realisierung. Die Debatte von vor einigen Jahren darüber, ob sie sinnvoll ist, wurde von einer Politik der vollendeten Tatsachen vollzogen, die einer strategischen Planung in Polen vorangeht. Polen erzeugt gegenwärtig etwa 60 Prozent seines Stroms mit Kohle. Das ist viel und wenig zugleich. Viel ist es im europäischen Vergleich, weil der EU-Energiemix zu 18 Prozent von Festbrennstoffen abhing, allen voran von der Kohle. In Bezug auf Polen ist es jedoch wenig, weil noch vor einem Jahrzehnt 90 Prozent des in diesem Land erzeugten Stroms aus Kohle gewonnen wurden. Es sei angemerkt, dass die Energiepolitik Polens bis 2040, verabschiedet im Jahr 2020, das Potential der Photovoltaik unterschätzte, deren Boom die Erwartungen der Planer und ihre Annahme von fünf bis sieben Gigawatt im Jahr 2040 übertraf. Gegenwärtig steigt der Anteil erneuerbarer Energiequellen bezogen auf einen Tag schon nicht selten auf mehr als 50 Prozent. Die Energiewende Polens ist eine Tatsache. Im Jahr 2023 erhöhte sich die Leistung der Photovoltaik durch neue Anlagen um 41 Prozent. Die Gesamtleistung der Photovoltaikanlagen, die bis Ende 2023 installiert waren, betrug laut der Agentur für Industrieentwicklung schon 17 Gigawatt. Es ist immer noch nicht zur Liberalisierung der Vorschriften für die Windenergieanlagen an Land gekommen, was es ermöglichen würde, weitere Gigawatt erneuerbarer Energie zu erzeugen. Dem Polnischen Windenergieverband zufolge liegt das Potential der Windräder an Land bei einer Entfernung von 500 Metern zu Wohnbebauungen, wie sie in den liberalsten Vorschriften vorgeschlagen wird, in Polen bei 41,4 Gigawatt. Das Potential der Offshore-Windkraftanlagen beträgt laut dem Polnischen Windenergieverband rund 33 Gigawatt. Die Aktualisierung der Polnischen Energiepolitik bis 2040 geht von 50 Gigawatt erneuerbarer Energiequellen im Jahr 2030 und 88 Gigawatt im Jahr 2040 aus. Der Netzbetreiber Polnische Elektroenergetische Netze (Polskie Sieci Elektroenergetyczne, PSE) nimmt jedoch Beschränkungen dieses Potentials vor, um die Stabilität des Systems aufrechtzuerhalten. Schon jetzt werden die erneuerbaren Energien immer öfter aus dem Netz genommen und ihre Betreiber dafür entschädigt. Das neue System zur Förderung von Photovoltaik bietet jedoch einen geringeren Erstattungssatz. Die beschränkte Flexibilität des Systems sowie die weniger einträglichen wirtschaftlichen Bedingungen können zur Folge haben, dass der Boom der erneuerbaren Energien etwas ins Stocken gerät, wenn diese Barrieren nicht durch neue Investitionen sowie Ideen für eine staatliche Unterstützung überwunden werden. Zudem zeichnen sich weitere Netz-Megaprojekte wie die Nord-Süd-Stromtrasse ab, die die atomar-erneuerbare Stromerzeugung an der Ostsee mit dem industriellen Süden des Lands verbinden soll. Dieses Projekt der teuren HVDC-Technologie soll Milliarden Zloty kosten, es beinhaltet eine Entwicklung des Übertragungs- und des Verteilungsnetzes im ganzen Land und soll den zunehmenden Zerstreuungsprozess der Energiequellen in Polen akkommodieren.
Eine stabile Basis weiterhin notwendig
Die Notwendigkeit, eine stabile Grundlast des Stromnetzes zu garantieren, die nach den Richtlinien des Netzbetreibers PSE ungefähr sechs Gigawatt betragen sollte (das größte konventionelle Kraftwerk in Europa, das Kraftwerk Bełchatów, hat eine Leistung von fast fünf Gigawatt), bedeutet, dass die bestehenden Leistungen aus der Kohleverstromung durch neue, weniger Emissionen verursachende Blöcke zur Bereitstellung der Grundlast ersetzt werden müssen. Die verfügbare Leistung ist wegen der unterschiedlichen Produktionszeiten der einzelnen Energiequellen ein wichtigerer Faktor als die installierte Leistung. Ein Atomkraftwerk kann ohne Unterbrechung das ganze Jahr lang laufen, erneuerbare Energiequellen sind abhängig vom Wetter. Bevor jedoch die Kohle von der Bühne abtritt, ist es notwendig, die bestehende Leistung aufrechtzuerhalten. Das wird garantiert durch öffentliche Hilfe in Form eines Strommarkts, der es ermöglicht, in Auktionen die Verfügbarkeit des Kraftwerks zu verkaufen, die dann auf den Stromrechnungen mit der sogenannten Leistungsgebühr bezahlt wird. Diese Lösung sollte anfangs bis zum Jahr 2025 Bestand haben, sie wird bis 2038 Anwendung finden und der Verband Wirtschaftsgesellschaft der Polnischen Kraftwerke (Towarzystwo Gospodarcze Polskie Elektrownie) fordert, die Auktionen auf dem Strommarkt bis zum Jahr 2040 fortzusetzen. Das ist eine mögliche Art, eine stabile Grundlast bereitzustellen, bis sich eine Alternative auftut. Die Reform in Gestalt der Nationalen Agentur für Energiesicherheit, die Kohle-Aktiva in einer Staatsgesellschaft bündeln sollte, zerschlug sich nach dem Regierungswechsel des Jahres 2023. Das bedeutet, dass in den 2020er Jahren weiterhin in großem Maße die Kohlekraftwerke die Grundlast bereitstellen, die schrittweise von der Spitzenenergie gasbetriebener Kraftwerke verdrängt werden, vielleicht mit Unterstützung einer neuen Art von Strommarkt, über den die Regierung schon mit Brüssel diskutiert. Erst in den 2030er Jahren soll sich diese Situation durch das Duett der Atom- und erneuerbaren Energien ändern.
Atom seit Jahren in Sicht
Polen hat nach 30 Jahren Diskussion schließlich den Standort für das erste Kernkraftwerk Lubiatowo-Kopalino in Pommern ausgewählt. Die Polnischen Kernkraftwerke unterschrieben eine Projektvereinbarung mit dem Konsortium Bechtel-Westinghouse aus den USA für den Bau von drei AP1000-Reaktoren an dem Standort. Derzeit werden Gespräche über einen Bauvertrag mit den Amerikanern und ein Finanzierungsmodell mit der Europäischen Kommission geführt. Das bedeutet, dass das Atomkraftwerk nach Inbetriebnahme Zuschüsse erhält mittels einer Gebühr auf den Stromrechnungen, vergleichbar der sogenannten Leistungsgebühr, die den Strommarkt finanziert. Ungelöst bleibt das Schicksal des zweiten Standorts für ein Kernkraftwerk, das im Programm der Polnischen Atomenergie vorgesehen ist. Die Anhängerschaft der Atomenergie will dieses Programm aus dem Jahr 2021 aktualisieren und dort ein zweites Werk sowie die Technologie kleiner Kernreaktoren (SMR) ergänzen (siehe Polen-Analysen 323). Die Gegner argumentieren, man solle es bei einem Standort in Pommern belassen und auf die Technologie der Energiespeicherung in Verbindung mit durch die Verbrennung von Erdgas erzeugte Spitzenenergien setzen, später dann auf erneuerbare Gase: Biomethan und Wasserstoff. Es steht somit die Entscheidung aus, ob und mit wem ein zweites Kernkraftwerk in konventioneller Technologie gebaut werden soll. Neben den Amerikanern signalisieren die Koreaner von KHNP und die Franzosen von EDF ihr Interesse. Eine Herausforderung bleibt die Tatsache des Technologiestreits zwischen Westinghouse und KHNP über die APR1400-Technologie, die von der koreanischen Seite für den Standort Pątnów-Konin in Zusammenarbeit mit dem privaten ZE PAK sowie der Polnischen Energiegruppe (PGE) vorgeschlagen wurde. Eine weitere Herausforderung ist die Tatsache, dass das französische EDF die EPR2-Technologie anbietet, die noch nirgendwo zum Einsatz kam. Es sei auf den Standort Bełchatów hingewiesen, an dem in den 2030er/2040er Jahren ein Braunkohlekraftwerk seinen Betrieb einstellen wird. Ohne auf den neuen Tagebau Złoczew zurückzugreifen, was durch die EU-Klimapolitik blockiert wird, werden die in der Nähe gelegenen, für den Betrieb des Kraftwerks notwendigen Lagerstätten Mitte der 2030er Jahre erschöpft sein. Dann werden die Voraussetzungen gegeben sein, diese Leistung von fünf Gigawatt durch andere zu ersetzen, eine der Lösungen hierfür kann die Kernenergie sein. Unbekannt ist das Schicksal zahlreicher Technologien kleiner SMR-Kernreaktoren. Der Regierungswechsel in Polen führte zur Aussetzung des SMR-Projekts in Zusammenarbeit von Orlen-Synthos und GE Hitachi mit einer BWRX-300-Technologie. Während die Technologie selbst eine Miniaturversion der großen Reaktoren von GE Hitachi ist, stellt die Notwendigkeit, angesichts des politischen Streits über das Verhältnis von Orlen-Synthos bei dem Projekt ein neues Modell für die Zusammenarbeit zu finden, das Tempo der Realisierung dieses Unterfangens in Frage. Die übrigen SMR-Technologien, die in der Vergangenheit in Polen in Betracht gezogen wurden, kamen bei keinem realisierten Projekt zum Einsatz. Trotzdem weckt die Technologie an sich das Interesse der Wirtschaft, die an stabilen Energielieferungen ohne CO2-Emissionen interessiert ist, um Produkte ohne CO2-Fußabdruck zu einem konkurrenzfähigen Preis anbieten zu können. Der Kurs der entstehenden Riesenbranchen wie der Datenbanken, darunter Microsoft, in Richtung Atomenergie eröffnet die Chance, zu diesem Ziel eine der SMR-Technologien zu nutzen, und das ist die Voraussetzung dafür, dass Polen ihre Entwicklung weiterhin verfolgt.
Strategie versus Politik der vollendeten Tatsachen
Zu Veränderungen in der polnischen Energiewirtschaft kommt es abseits und nicht infolge durchdachter strategischer Entscheidungen. Die Politik der vollendeten Tatsachen hängt in diesem Bereich von starken Persönlichkeiten ab, wie es in der Vergangenheit Jerzy Buzek oder Piotr Naimski waren, oder von unerwarteten Umständen, die bisherige Prozesse beschleunigen wie die plötzlich sinkenden Preise von Photovoltaikanlagen, die in Verbindung mit einem gut gemachten Förderprogramm (Mój prąd, Mein Strom) nach 2015 einen Boom auslösten, oder auch die Energiekrise von 2021 und dem nach deren Beginn erfolgenden Einmarsch Russlands in die Ukraine. Die gegenwärtige polnische Energiepolitik bis zum Jahr 2040 geht von einer Zunahme des Anteils erneuerbarer Energien im Strom-Mix auf 32 Prozent im Jahr 2030 aus. Der Anteil der Kohle soll auf 56 Prozent fallen. Der Landesplan für Energie und Klima, der der Europäischen Kommission im Februar 2024 vorgelegt wurde, nennt einen Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung in Höhe von 50,1 Prozent im Jahr 2030. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Dokumenten ist erheblich, der wahre Stand der Stromerzeugung hat seinen Platz irgendwo dazwischen. Die strategischen Pläne befinden sich sozusagen abseits der Projekte, die von staatlichen Gesellschaften, privaten Trägern sowie Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt werden. Entscheidend ist der Einfluss der gesellschaftlichen Seite auf diesen Prozess. Die Regierung hat mit den Bergbaugesellschaften einen Termin für die Schließung des letzten Kohlebergwerks im Jahr 2049 ausgehandelt. Jede Beschleunigung der Energiewende erfordert die Neuverhandlung dieses Plans und die Übernahme der sozialen Folgekosten. Auf europäischer Ebene ist ein Prozess anhängig zum Europäischen Grünen Deal; der Prozess kann, muss aber nicht zu einer Kurskorrektur führen, die den auf dem Weg der Energiewende weniger vorangeschrittenen Ländern wie Polen Zeit und Geld verschafft. Die polnische Energiewende kommt vorwärts. Der Boom der erneuerbaren Energien übertraf die Erwartungen, aber er erfordert auch entsprechende Vorsorgemaßnahmen, damit er nicht verpufft. Paradoxerweise sind in diesem Zusammenhang Projekte außerhalb des Sektors der erneuerbaren Energien entscheidend, das heißt einerseits eine Gasinfrastruktur, die einen sicheren Zugang zu dem Übergangsbrennstoff nicht-russischer Herkunft ermöglicht, und andererseits eine stabile Grundlast in Form der geplanten Kernenergie. Eine strategische Betrachtung der polnischen Energiepolitik ermöglicht eine Bewertung der Entwicklungsfortschritte aus dieser Perspektive und es gilt anzumerken, dass die Entwicklung schwungvoll vonstattengeht. Ihre größten Erfolge sind Megaprojekte der Dritten Polnischen Republik vom Ausmaß einstiger Projekte wie der Zentralen Industrieregion COP oder des Überseehafens in Gdingen (Gdynia) in der Zwischenkriegszeit.
Die polnische Erfahrung zeigt, dass man sich nicht nur auf eine von vielen Kennziffern des Fortschritts in der Energiewende wie den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung konzentrieren kann. Wichtig ist ebenfalls die Diversifizierung und Stabilität der Lieferungen, aber auch die energetische Souveränität, also das Vermeiden einer systemischen Abhängigkeit, sei es von russischem Gas oder dem Energieimport aus dem Ausland. Es wäre wünschenswert, diese Imperative würden in Polen immer öfter infolge strategischer Entscheidungen realisiert anstatt nur aufgrund starker Politiker-Persönlichkeiten und deren Politik der vollendeten Tatsachen.
Übersetzung aus dem Polnischen: Benjamin Voelkel
Dieser Text erschien in »Jahrbuch Polen 2025: Energie«, herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut, Wiesbaden: Harrasowitz Verlag 2025. Das Jahrbuch kann bestellt werden unter der E-Mail-Adresse: verlag@harrassowitz.de.