Zwei Gesetzesvorschläge zur Reform des Landesjustizrats (Krajowa Rada Sądownictwa)

Von Joanna Maria Stolarek, Paul Naumann (Heinrich Böll Stiftung, Warschau)

Zusammenfassung
Seitdem die von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) geführte Regierung 2015 mit der Umstrukturierung der Justiz begonnen hat, nimmt die Rechtssicherheit in Polen stetig ab. Nach dem Regie- rungswechsel infolge der Parlamentswahlen im Oktober 2023 hat nun das beratende Gremium des polni- schen Justizministeriums zwei Gesetzesvorschläge zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit mit einem Fokus auf den Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa) vorgelegt: Der erste beinhaltet ein schnelles Vorgehen, während der zweite einen schrittweisen Prozess verfolgt. Beide haben eine kontroverse Debatte darüber entfacht, wie die Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederhergestellt werden kann.

Zehn Jahre Politisierung der Justiz: Polens Rechtssystem in der Krise

Die Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen begann im Jahr 2015. Anfang Oktober, während der letzten Sejmsitzung vor den Parlamentswahlen, ernannte die Mehrheit der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) noch rasch fünf Nachfolger für die bald vakanten Richterposten im Verfassungstribunal (Trybunał Konstytucyjny). Das polnische Verfassungstribunal ist unter anderem dafür zuständig, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu überprüfen und über Streitigkeiten der Gewaltenteilung zwischen staatlichen Behörden zu entscheiden. Während drei dieser Ernennungen rechtmäßig waren, da die Stellen vor der Konstituierung des neu gewählten Sejm frei wurden, sollten die beiden anderen erst Anfang Dezember frei werden und hätten von der neuen Parlamentsmehrheit besetzt werden müssen. Staatspräsident Andrzej Duda, der sein Amt im August angetreten hatte, weigerte sich, alle der fünf ernannten Richter zu vereidigen. Stattdessen nominierte das neue von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) dominierte Parlament fünf Verfassungsrichter und -richterinnen. Somit entstanden drei Doppelbesetzungen für drei Richterposten im Verfassungsgericht: Drei vom Parlament rechtmäßig gewählte und vom Präsidenten nicht vereidigte und drei vom Parlament nicht rechtmäßig gewählte, aber vom Präsidenten vereidigte Richter. Den nicht rechtmäßig gewählten, vereidigten »Richter-Doubles« untersagte der Präsident des Verfassungsgerichts jedoch die Teilnahme an Entscheidungen. Daraufhin änderte die PiS-Regierung die Verfahrensregeln und weigerte sich, die Urteile des Tribunals, welche im Einklang mit der Verfassung allgemein bindend und endgültig sind, im Amtsblatt zu veröffentlichen, wodurch sie laut Regierung ihre Rechtskraft verlören. Mit der Ernennung weiterer Richter und Richterinnen und der Ablösung des Präsidenten des Verfassungstribunals war die Übernahme des Gerichts 2016 abgeschlossen und wurde von da an von der Regierung genutzt, um umstrittenen Gesetzesvorschlägen Legitimität zu verleihen.

Zu Beginn desselben Jahres übernahm der damalige Justizminister Zbigniew Ziobro die Rolle des Generalstaatsanwalts. 2017 unterzeichnete Präsident Duda das Gesetz über die ordentlichen Gerichte, welches Ziobro ermöglichte, in die ordentlichen Gerichte einzugreifen und die Präsidenten und Vizepräsidenten der regionalen Gerichtsbarkeit auszutauschen. Außerdem wurde die Zusammensetzung des Landesjustizrats im Sinne der PiS geändert. Die Aufgabe des Rats besteht darin, die Unabhängigkeit der Justiz sicherzustellen und Richterposten zu besetzen. Die Mehrheit der Mitglieder (15 von 25) wurde bis 2018 von der Richterschaft selbst bestellt. Die von der PiS geführte Parlamentsmehrheit hob jedoch die Amtszeit dieser 15 Mitglieder mit einem neuen Gesetz auf, obwohl sie in der Verfassung auf vier Jahre festgelegt ist. Besetzt wurden die somit vakant gewordenen Stellen nicht mehr durch die Richterschaft, sondern durch eine einfache Mehrheitswahl im Sejm. Seit der verfassungswidrigen Neubesetzung wird der Rat, ebenso wie neu geschaffene Kammern häufig mit dem Präfix »neo« bezeichnet. Überdies wurden mit der Absicht, Richter und Richterinnen durch politisch loyale Gefolgsleute zu ersetzen, Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet und etwa zwei Drittel der Richterschaft des Obersten Gerichtshofs (Sąd Najwyższy) zwangspensioniert, obwohl sie laut Verfassung explizit unabsetzbar sind.

Reaktionen der EU

Während es in Polen aufgrund dieser schwerwiegenden Verfassungsverletzungen zunehmend Proteste und Initiativen von Juristenverbänden gab, reagierten die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten nur zögerlich. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) stellten jedoch fest, dass die Zusammensetzung des Verfassungstribunals nicht rechtmäßig ist und gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt, der das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht garantiert. Weitere Verstöße gegen die Unabhängigkeit polnischer Gerichtskammern wurden in mehreren Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) festgestellt. Darüber hinaus weigerte sich der EuGH, auf ein Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, das von Neo-Richtern der Neo-Kammer für außerordentliche Kontrolle des Obersten Gerichtshofs eingeleitet worden war, womit er effektiv seine Ablehnung ihrer Legitimität als Justizorgan signalisierte. Die Europäische Kommission hat schließlich mit Unterstützung des Europäischen Rates im Jahr 2022 damit begonnen, Mittel aus der Aufbau- und Resilienzfazilität aufgrund der Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen zurückzuhalten. Die Auszahlung dieser Mittel war nun an die Bedingung geknüpft, dass Polen gemäß Artikel 47 der Charta der Grundrechte die unabhängige Justiz wiederherstellt, so dass die Ausgaben der Gelder von polnischen Gerichten unabhängig überprüft werden können.

Die neue, im Dezember 2023 vereidigte Regierung, die von der Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska – KO) unter Donald Tusk geführt wird, legte einen Fahrplan vor, wie die Rechtsstaatlichkeit wiederhergestellt und die von der EU-Kommission gesetzten Meilensteine erreicht werden sollen. Daraufhin erhielt Polen nach der Genehmigung durch den Europäischen Rat und die Kommission im Juli 2024 alle zuvor zurückgehaltenen Mittel in Höhe von 137 Milliarden Euro. Bemerkenswert ist, dass dies geschah, ohne dass die geforderten Reformen umgesetzt werden konnten, was Fragen darüber aufwirft, warum eine solche Entscheidung getroffen wurde.

Unterdessen nimmt der Mangel an Transparenz im polnischen Justizsystem weiter zu. Der Neo-Landesjustizrat hat mittlerweile rund 3.200 sogenannte Neo-Richter ernannt, deren nicht rechtmäßige Ernennungen die Glaubwürdigkeit des Justizsystems in Frage stellen und ein zunehmend unberechenbares rechtliches Umfeld schaffen.

Zusätzlicher Druck durch ein Urteil des EGMR

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied am 23. November 2023 in der Rechtssache Lech Wałęsa gegen Polen, dass eine Kammer, die aus Neo-Richtern und -Richterinnen zusammengesetzt ist, gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. In dem Pilotverfahren stellte der Gerichtshof systemische Probleme fest, die diesen Verstößen zugrunde lagen, und verpflichtete die polnischen Behörden, diese zu beheben. Er ordnete die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landesjustizrats an, indem sichergestellt wird, dass 15 seiner Mitglieder wieder von der Richterschaft selbst gewählt werden. Darüber hinaus betonte der Gerichtshof die Notwendigkeit, den Status der unter Beteiligung des Neo-Landesjustizrats ernannten Richter und Richterinnen und die Gültigkeit ihrer Urteile zu klären. Er betonte, dass Angelegenheiten, die die Unabhängigkeit der Justiz betreffen, von Gremien überprüft werden müssen, die die Kriterien eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts nach dem Gesetz erfüllen. Aufgrund einer vom EGMR gewährten Fristverlängerung muss Polen das Urteil bis November 2025 umsetzen. Derzeit sind etwa 700 Fälle, die das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht in Polen betreffen, vor dem Gerichtshof anhängig.

Zwei Reformvorschläge zum Landesjustizrat

Vor dem Hintergrund der näher rückenden Frist des Pilotverfahrens steht die polnische Regierung vor der Herausforderung, die Reformen so umzusetzen, dass sie sowohl den nationalen Erwartungen als auch den europäischen Standards gerecht werden. Das im Justizministerium angesiedelte, allerdings getrennt vom Justizminister oder dem Ministerrat tätige Kodifizierungskomitee hat die Aufgabe, Gesetzesvorschläge zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit auszuarbeiten. Anfang Februar 2025 hat das Komitee zwei Gesetzesentwürfe unter einem langen Titel vorgelegt: Das Gesetz zur Wiederherstellung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiisches, gesetzlich verankertes Gericht durch die Regelung der Auswirkungen der Beschlüsse des Landesjustizrats aus den Jahren 20182025. Darin werden zwei unterschiedliche Ansätze zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und zur Beseitigung von Systemmängeln dargestellt.

Option 1

Der erste Vorschlag gilt als deutlich schneller. Er regelt die Frage der Neo-Richter, die nach 2017 ernannt wurden, durch ein parlamentarisches Gesetz (»na mocy ustawy«), das eine rasche und entschiedene Lösung ermöglicht. Er basiert auf der Prämisse, dass Neo-Richter nicht rechtmäßig bestimmt wurden, was bedeutet, dass sie kein Amt innehaben, das verfassungsrechtlich geschützt wäre, sodass sie in der Verteidigung ihres Postens keinen Anspruch auf Anerkennung durch supranationale Gerichte wie den EGMR haben.

Bei diesem Ansatz würden die Ernennungen von Richtern und Richterinnen durch den Neo-Landesjustizrat ex lege als ungültig angesehen, sodass etwa 1.200 Neo-Richter, die durch den Neo-Landesjustizrat befördert wurden, in ihre früheren Positionen zurückkehren müssten. Während einer Übergangszeit von bis zu zwei Jahren könnten diese Richter weiterhin über aktuelle Fälle entscheiden, allerdings nur als delegierte Richter. Der Landesjustizrat hätte die Befugnis, die Delegierung zu widerrufen, wenn die fortgesetzte Rechtsprechung des Richters nicht mit der Wahrnehmung des Gerichts als unparteiische und unabhängige Institution vereinbar wäre.

Ein neu gegründeter, legitimierter Landesjustizrat würde neue Auswahlverfahren für die Positionen von Richtern und Richterinnen durchführen, die zwischen 2018 und 2025 ernannt wurden. Den derzeitigen Neo-Richtern und -Richterinnen würde das Recht garantiert, an diesen Auswahlverfahren teilnehmen zu können.

Darüber hinaus müssten rund 300 Personen, die vor ihrer Ernennung keinen richterlichen Status hatten (z. B. ehemalige Anwälte und Notare), in ihre früheren Berufe zurückkehren oder in die Rolle eines Gerichtsreferendars wechseln. 55 Richter, die an das Oberste Verwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) und den Obersten Gerichtshof berufen wurden, müssten an ihre früheren Positionen zurückkehren.

In der Zwischenzeit würden rund 1.700 sogenannte »junge Richter und Richterinnen«, ehemalige Gerichtsassessoren, Notare und Rechtsassistenten, in ihrem Richteramt bestätigt, obwohl sie ebenfalls vom Neo-Landesjustizrat ernannt wurden. Diese Entscheidung beruht auf der Annahme, dass ihre Ernennungen nicht politisch motiviert waren und dass der Neo-Landesjustizrat ihr einziger gangbarer Weg zum Richteramt war, da es keine unabhängige Alternative gab. Infolgedessen müssten insgesamt ‚nur‘ 1.500 Richterstellen neu besetzt werden.

Diesem Ansatz zufolge können Neo-Richter und -Richterinnen, die wissentlich Ernennungen durch ein rechtswidriges Verfahren angenommen haben, relativ schnell abberufen werden. Das Kodifizierungskomitee gibt an, dass die meisten Stellen bis zum dritten Quartal 2027 wieder besetzt werden könnten. Der Vorschlag deckt sich mit der öffentlichen Forderung nach einer schnellen Abrechnung mit der PiS-Regierung und einer gründlichen Umkehr ihrer Justizpolitik, bevor Ende 2027 eine neue Regierung ihr Amt antritt.

Option 2

Die zweite Option schlägt einen schrittweisen Prozess vor, der sich auf eine systematische Überprüfung der Entscheidungen des Neo-Landesjustizrats konzentriert. Bei diesem Ansatz würde der Gesetzgeber die Ernennungen nicht direkt annullieren, sondern ein neu konstituierter und legitimierter Landesjustizrat würde die früheren Ernennungen von Richtern und Richterinnen neu bewerten. Alle vom Neo-Landesjustizrat durchgeführten Richterernennungen würden neu aufgerollt werden.

Der reformierte Landesjustizrat würde Entscheidungen für verschiedene Kohorten fällen, um das Verfahren für Personen, die von denselben rechtlichen Umständen betroffen sind, zu straffen. Während des Überprüfungsprozesses würden die unter dem Neo-Landesjustizrat ernannten Richter und Richterinnen weiterhin an ihren derzeitigen Gerichten im Rahmen einer Delegation tätig sein. Die Berufung der Neo-Richter und -Richterinnen am Obersten Gerichtshofs und dem Obersten Verwaltungsgericht würden jedoch per se annulliert. Wie bei der ersten Option wäre die größte Gruppe, die »jungen Richter und Richterinnen«, nicht betroffen. Ihr Status würde per Gesetz bestätigt, so dass sie von dem Überprüfungsverfahren ausgenommen wären.

Es sei darauf hingewiesen, dass gegen die Entscheidungen des Landesjustizrats während dieses Überprüfungsverfahrens bei der Arbeitskammer des Obersten Gerichtshofs Berufung eingelegt werden kann. Folglich sieht dieser Ansatz eine längere Zeitspanne vor, da der Justizminister die Auswahlverfahren für freie Stellen erst dann ausschreiben kann, wenn das Berufungsverfahren abgeschlossen ist und die Entscheidungen des Landesjustizrats veröffentlicht wurden. Die gesamte Überarbeitung soll nach Angaben des Kodifizierungsausschusses bis 2030 abgeschlossen sein.

Darüber hinaus bringen beide Gesetzesvorschläge erhebliche Änderungen am Obersten Gerichtshof mit sich. Neben dem Ausschluss der Neo-Richter und -Richterinnen aus der Rechtsprechung des Gerichts werden außerordentliche Beschwerden abgeschafft und zwei Kammern, die Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten und die Kammer für berufliche Verantwortung, aufgelöst. Ihre Aufgaben werden von der Kammer für Arbeitsrecht, soziale Sicherheit und öffentliche Angelegenheiten übernommen. Wichtig ist, dass Urteile, die unter Beteiligung von Neo-Richtern und -Richterinnen gefällt wurden, im Allgemeinen in Kraft bleiben. Lediglich in Fällen, in denen eine Partei zuvor eine Entscheidung aufgrund des fragwürdigen Status des Richters förmlich angefochten hat, würden die Urteile für ungültig erklärt.

Wie soll es weitergehen? Rechtsgutachten zu den beiden Vorschlägen

Der erste, entschiedenere Ansatz ist auf Kritik gestoßen, insbesondere wegen der Bedenken hinsichtlich seiner angeblichen Verfassungswidrigkeit und der Gefahr einer Einmischung des Gesetzgebers in Justizangelegenheiten. Diese Kritik wurde von der Venedig-Kommission, dem beratenden Gremium des Europarats in Verfassungsfragen, in einer im Oktober 2024 veröffentlichten Stellungnahme nachdrücklich geäußert. Während die Venedig-Kommission die allgemeine Richtung beider Vorschläge unterstützt, weist sie darauf hin, dass es unzulässig sei, alle Entscheidungen des politisch vereinnahmten Neo-Landesjustizrats seit 2018 per Gesetz für ungültig zu erklären. Folglich hat sie sich für den zweiten Ansatz ausgesprochen und betont, dass jeder Fall einzeln von einem unparteiischen, rechtlich konstituierten Gremium beurteilt werden muss und dass die Richter und Richterinnen, die mit nachteiligen Entscheidungen konfrontiert sind, das Recht haben müssen, Berufung einzulegen, was einen wesentlichen Schritt zur Umsetzung des EGMR-Urteils Wałęsa vs. Polen darstellen würde.

Die Venedig-Kommission missbilligt die Idee, die Stellen der Neo-Richter und -Richterinnen durch gesetzgeberische Maßnahmen neu zu besetzen, da dies nicht in die Zuständigkeit des Parlaments fällt. Sie warnt, dass die Einmischung gegen europäische Rechtsstandards verstoße und das Prinzip der Gewaltenteilung untergraben könnte. Gleichzeitig betont die Venedig-Kommission, dass die einzelnen Überprüfungen effizient durchgeführt werden müssen, und schlägt vor, die Fälle zu gruppieren, um übermäßige Verzögerungen zu vermeiden – ein Aspekt, der zu weiteren Diskussionen darüber einlädt, wie eine solche Gruppierung strukturiert sein sollte.

Experten der nichtstaatlichen Helsinki-Stiftung für Menschenrechte in Warschau fordern für beide Vorschläge eine umfassende Folgenabschätzung, um die Auswirkungen der Reform auf laufende Gerichtsverfahren vollständig zu verstehen. Darüber hinaus ist die Stiftung besorgt über die vorgesehene Geschwindigkeit des Umsetzungsprozesses. Die erste Option könnte das Justizwesen ernsthaft destabilisieren und zu seinem Zusammenbruch führen. Dem Gesetzesvorschlag zufolge sollen etwa 300 Richter, die aus anderen juristischen Berufen gewechselt sind, degradiert werden, so dass einige Gerichte unterbesetzt sein könnten. Am Landgericht in Opoczno beispielsweise sind drei von vier Richtern Neo-Richter mit nichtjuristischem Hintergrund – eine Situation, die sich in zahlreichen kleineren Gerichten im ganzen Land widerspiegelt. Die Experten betonen außerdem, dass trotz der Angaben des Kodifizierungskomitees für beide Vorschläge ein transparenter und konkreter Zeitplan fehle.

Außerdem stelle die Delegation von Richtern und Richterinnen eine Herausforderung dar. Wenn 1.200 von ihnen degradiert würden, bestünde ein erhebliches Risiko, dass viele die Rechtsprechung ganz einstellen und die ohnehin schon schwache Justiz weiter schwächen würden. Dies könnte zu einem Rechtsvakuum führen, da die Gerichte mit Personalknappheit und einem Mangel an qualifizierten Fachleuten zu kämpfen haben.

Abgesehen von diesen eher pragmatischen Bedenken hinsichtlich der Umsetzung der Vorschläge, kritisierten Rechtswissenschaftler die Meinung der Venedig-Kommission und der Helsinki-Stiftung.

Kim Lane Scheppele, Professorin für Soziologie und internationale Angelegenheiten an der Princeton University (USA), argumentiert, dass die Venedig-Kommission in ihren jüngsten Stellungnahmen der formalen Legalität Vorrang vor der inhaltlichen Unabhängigkeit der Justiz einräumt. Dies legitimiere effektiv die von der PiS durchgeführte Justizreform. Die Venedig-Kommission behauptet nun, dass selbst nicht rechtmäßig ernannte Richter als rechtmäßig behandelt werden müssen, solange ihre Auswahl nach formalen rechtlichen Verfahren erfolgte. Diese engstirnige juristische Sichtweise markiert einen Wandel, wie Scheppele argumentiert, und steht im Widerspruch zu den früheren Positionen der Venedig-Kommission. Sie macht es der neuen polnischen Regierung politisch unmöglich, die Unabhängigkeit der Justiz im Einklang mit den europäischen Standards wiederherzustellen. Scheppele hält dies für einen gefährlichen Präzedenzfall, bei dem der juristische Formalismus dazu benutzt wird, die Folgen der richterlichen Vereinnahmung zu verfestigen, anstatt sie zu korrigieren.

In einem ähnlichen Tonfall kritisiert Wojciech Sadurski, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Sydney (Australien), die Venedig-Kommission dafür, dass sie nicht erkennt, dass strukturelle Mängel entsprechende systemische Lösungen erfordern. Er argumentiert, dass die Stellungnahme der Venedig-Kommission auf dem grundlegenden Missverständnis beruht, dass die Annullierung von Richterernennungen einer Entlassung von Richtern gleichkomme, was der Gesetzgeber nicht tun könne. Er erklärt, dass Ernennungen, die durch ein verfassungswidriges Gremium vorgenommen wurden, von Anfang an rechtlich nichtig waren und keinen legitimen richterlichen Status verliehen haben. Daher plädiert die Venedig-Kommission auf unverständliche Weise für die unnötige individuelle Beurteilung der Neo-Richter. Damit zeige die Venedig-Kommission übermäßig viel Sympathie für diejenigen, die sich bereitwillig durch ein fehlerhaftes System bewegten, zulasten derjenigen, die die richterliche Integrität hochhielten und sich nicht über das Gremium berufen ließen. Darüber hinaus unterscheidet Sadurski zwischen dem Status der Neo-Richter und der Gültigkeit ihrer Urteile und betont, dass die Parteien eines Gerichtsverfahrens nicht für frühere Missbräuche der Regierung büßen sollten. Angesichts des institutionellen Zusammenbruchs, den die PiS hinterlassen hat, argumentiert er, dass Lösungen eher von ethischen Grundsätzen und praktischen Überlegungen als von strengem juristischem Formalismus geleitet werden müssen.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beiden Vorschläge ein weiterer kleiner Schritt in einem langen und komplexen Prozess zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen sind. Ein großes Hindernis bleibt der noch amtierende Präsident Andrzej Duda, der regelmäßig ankündigt, jede von der neuen Regierung vorgeschlagene Justizreform mit seinem Veto zu blockieren. Das Parlament verfügt nicht über eine ausreichende Mehrheit, um seine Entscheidung zu überstimmen. Dennoch bestehen beträchtliche Chancen für eine Übergangslösung nach der Präsidentschaftswahl, falls Karol Nawrocki, der von der PiS unterstützte Präsident, verliert.

Die Präsidentschaftswahlen am 18. Mai und die voraussichtliche Stichwahl am 1. Juni 2025 markieren jedoch einen Punkt, an dem sich der Kreis der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit zu schließen scheint und eine Sackgasse ohne klare Lösung entsteht. Sollten die Wahlen vor Gericht angefochten werden, wäre die oben erwähnte Neo-Kammer für außerordentliche Kontrolle des Obersten Gerichtshofs – die durch den Neo-Landesjustizrat mit Neo-Richtern bestellt wurde – dafür zuständig, die Wahlen für gültig oder ungültig zu erklären. Um dies zu verhindern, wurde eine Sonderregelung vorgeschlagen, die vorsah, dass die 15 dienstältesten Richter und Richterinnen des Obersten Gerichtshofs, unter denen sich keine Neo-Richter befinden, stattdessen die Entscheidung überwachen. Duda wurde in die Beratungen über den Gesetzesentwurf einbezogen, legte aber am 10. März 2025 sein Veto gegen den Vorschlag ein.

Die Vorschläge und Stellungnahmen zeigen, dass verschiedene, zum Teil gegensätzliche Aspekte beachtet werden müssen, um eine rechtlich solide und politisch mögliche Lösung zu finden. Die erste Option berücksichtigt die dringende Notwendigkeit eines raschen Wandels, birgt jedoch das Risiko einer erheblichen Unterbesetzung. Der zweite Vorschlag birgt die Möglichkeit, dass eine künftige Regierung den Reformprozess im Jahr 2027 stoppt, was jeden Fortschritt rückgängig machen und den Status quo festigen würde. Bedauerlicherweise hat die Venedig-Kommission bei dieser Gelegenheit keine Lösung vorgeschlagen, die geeignet wäre, die aktuelle Krise konstruktiv anzugehen. Eine baldige Stellungnahme des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office für Democratic Institutions and Human Rights – ODIHR) wird erwartet.

Lesetipps / Bibliographie

Gutachten der Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) des Europarats in englischer Sprache:
Poland – Joint Opinion of the Venice Commission and the Directorate General of Human Rights and Rule of Law (DGI) of the Council of Europe on the draft law concerning the status of judges appointed or promoted between 2018 and 2025 and other related matters [Gutachten und Erläuterung der Venedig-Kommission des Europarats zum Gesetzesvorschlag über den Status von Richtern, die zwischen 2018 und 2025 berufen oder befördert wurden, und damit zusammenhängende Angelegenheiten]. Requested by: Council of Europe, Parliamentary Assembly, Monitoring Committee, President. Strasbourg, 05.05.2025.
https://www.coe.int/en/web/venice-commission/-/opinion-1238 (abgerufen am 19.05.2025).

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