Eine Bilanz der polnischen Schulpolitik seit 1989

Von Sonja Steier (Bochum)

Zusammenfassung
Der politische Umbruch des Jahres 1989 löste im polnischen Bildungsbereich einen tiefgreifenden Wandel aus, der sich sowohl durch institutionelle als auch konzeptionelle Reformelemente auszeichnete und anfangs teilweise von unkoordinierten oder auch widersprüchlichen, insgesamt jedoch tiefgreifenden Reformmaßnahmen begleitet wurde. Zehn Jahre später mündeten diese Maßnahmen in eine grundlegende systemische Reform, die hauptsächlich mit der bevorstehenden EU-Integration und den damit im Zusammenhang stehenden Herausforderungen sowie mit der Reform der territorialen Selbstverwaltung (Dezentralisierung) begründet wurde. Alle nachfolgenden bildungspolitischen Neuerungen setzten konsequent an der 1999 begonnenen strukturellen Bildungsreform an. Seitdem hat sich die Dynamik dieser Prozesse jedoch weiter beschleunigt und viele der Reformansätze im Bildungssektor folgen inzwischen nicht nur den Linien europäischer Bildungspolitik, sondern sind auch – ähnlich den deutschen Entwicklungen – als Lösungsversuche für den verschärften Wettbewerb und die Internationalisierung aller Lebensbereiche zu werten. Dieser Prozess kann mit dem Begriff der »rollenden Bildungsreform« beschrieben werden. Er lässt sich zugleich grob in drei Perioden unterteilen.

Phasen der Bildungsentwicklung seit 1989

Die erste Periode im polnischen Bildungswesen wurde mit dem Bildungsgesetz aus dem Jahre 1991 eingeleitet und brachte nicht nur die Loslösung vom sozialistischen Erbe mit sich, sondern schrieb vor allem neue bildungspolitische Ziele, Prinzipien und inhaltliche Vorgaben für die Modernisierung der weitgehend stabil gebliebenen Grundstrukturen des bestehenden Bildungswesens fest. Die Veränderungen betrafen primär das Schulwesen und die Neuausrichtung seiner ideellen Grundlagen und seiner Aufgaben mit Blick auf eine noch junge Demokratie. Hierzu gehörten in erster Linie der Abschied von marxistischen Erziehungszielen und Bildungsinhalten mit ihrer Ausrichtung auf eine neue sozialistische Persönlichkeit zugunsten einer an reformpädagogische Traditionen anknüpfenden Kind- bzw. Schülerorientierung, die Aufgabe von Russisch als erste obligatorische Fremdsprache zugunsten westlicher Fremdsprachen sowie die Einführung des Religionsunterrichts und der Gesellschaftskunde anstelle der kommunistischen staatsbürgerlichen Erziehung.

Hinzu kamen sowohl Veränderungen, welche die Steuerung und Finanzierung des Bildungssystems als auch ein neues Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft betrafen. Letzteres hatte zur Folge, dass nichtstaatliche Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen des Bildungssystems gegründet werden konnten, was zu Beginn des Transformationsprozesses viele private und alternative Bildungsinitiativen hervorrief und auf der Ebene des tertiären Bildungssektors einen bis heute anhaltenden Gründungsboom privater Hochschulen nach sich zog. Insgesamt gelang es in dieser ersten Phase der Bildungsreformen das staatssozialistische Bildungsmonopol zu beseitigen, die Bildungsverwaltung zu vereinfachen und das Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Hochschule zu demokratisieren.

Die zweite Periode setzte im Jahre 1999 mit einer großangelegten Strukturreform ein und zielte zunächst im ersten Schritt auf die Neustrukturierung des Pflichtschulbereichs (7–16-jährige Schüler) und seit dem Schuljahr 2002 im zweiten Schritt auch auf die der Schulen der oberen Sekundarstufe (16–18-jährige Jugendliche) einschließlich der Regelung des Hochschulzugangs (Zentralabitur, Zulassungsregelungen für die Hochschulen) ab. Begründet wurde dieser radikale Reformvorstoß mit den Erfordernissen einer neuen Wissensgesellschaft, deren Reichtum das Bildungskapital ausmacht, und ferner mit der Notwendigkeit des »lebenslangen Lernens« sowie generell mit der Steigerung der Qualität von Bildung. Gleichzeitig reagierte man damit auch auf das sich abzeichnende demographische Tief. Ferner sah man sich angesichts des bevorstehenden EU-Beitritts herausgefordert, notwendige Anpassungen vorzunehmen, die das eigene polnische Bildungswesen befähigen sollten, in Konkurrenz zu den alten »westeuropäischen« Bildungsmodellen zu treten und die polnischen Bürger adäquat auf den europäischen Binnenmarkt vorzubereiten.

Die dritte Periode der Umgestaltungen des polnischen Bildungswesens, welche im Jahre 2007 begann und bis heute fortdauert, zielt hauptsächlich auf zwei Bereiche ab: einerseits auf die Umstrukturierung des Weiterbildungssektors, was sowohl die Berufsbildung, den Post-Sekundarbereich als auch den tertiären Sektor einbezieht, und andererseits auf eine curriculare Reform, die eine inhaltliche Überholung der Stundentafel, der Lehrpläne und zugleich der Schulkultur umfasst. Die für den Schulbereich überwiegend als innere Bildungsreform zu kennzeichnende Reformphase stellt nicht nur die konsequente Folge der beiden vorherigen Etappen dar, vielmehr ist sie komplementär zur Strukturreform angelegt.

Im Rahmen der 1999 begonnenen umfassenden Bildungsreform lassen sich folgende bedeutende Neuerungen ausmachen:

die Verlängerung der Schulpflicht von acht auf neun Jahre, höchstens jedoch bis zum 18. Lebensjahr,die Einführung eines obligatorischen Vorschuljahres, der sog. »Null-Klasse« (poln. zerówka) im Schuljahr 2005, die Vorverlegung des Einschulungsalters der Kinder von sieben auf sechs Jahre im Schuljahr 2009 und die geplante Durchsetzung der Schulpflicht für alle Sechsjährigen ab dem Schuljahr 2012,die seit 2002 sukzessive Einführung landesweiter qualitätssichernder Mechanismen an Übergangsschwellen des Bildungssystems in Form von Tests am Ende der drei Schulstufen und die damit einhergehendeexterne Leistungsbewertung durch zentrale und regionale Prüfungskommissionen sowiedie Einführung von an zentralen curricularen Vorgaben orientierten Prüfungsstandards,die Einführung des Zentralabiturs (poln. Nowa Matura) im Schuljahr 2005, zunächst für die humanistischen Fächer, seit dem Schuljahr 2009 auch für Mathematik und Naturwissenschaften als Teil einer solchen zentralen externen Leistungsbewertung und schließlichdie Abschaffung der Aufnahmeprüfungen an den Hochschulen.

Gliederung des Schulwesens

Das polnische Bildungswesen weist im Vergleich zu Deutschland einen dreistufigen horizontalen Aufbau auf. Die Basis bildet auf der ersten, sog. Primarstufe die sechsjährige Grundschule (Beginn der Schulpflicht mit sieben bzw. sechs Jahren). Darauf baut die zweite, untere Sekundarstufe mit dem dreijährigen Gymnasium (Ende der Schulpflicht mit 15/16 Jahren) auf, und schließlich setzen unterschiedliche weiterführende Schulen der oberen Sekundarstufe (bzw. der Sek. II) die dritte Stufe der horizontalen Gliederung des polnischen Schulwesens fort. Die staatlichen Schulen in Polen sind unentgeltlich, allerdings müssen Eltern für die Lehrbücher ihrer Kinder in der Regel selbst aufkommen. Es gibt also keine Schulmittelfreiheit. Das Schuljahr beginnt am 1. September und endet in der zweiten Junihälfte. Die Zuständigkeit, Finanzierung und Organisation für das gesamte Bildungssystem obliegt weitgehend der zentralen Kompetenz des polnischen Bildungsministeriums (poln. Ministerium Edukacji Narodowej). Im Jahr 2008 betrugen die öffentlichen Bildungsausgaben 4,1 % des Bruttoinlandsprodukts.

Vorschulerziehung

Die vorschulische Erziehung und ihre Einrichtungen wie Kindergärten oder Vorschulabteilungen in den Grundschulen sind anders als in Deutschland fester Bestandteil und erste Bildungsstufe des polnischen Bildungswesens. Demnach sichert die Vorschulerziehung neben der Betreuung auch die Vorbereitung auf das schulische Lernen und soll damit Bildungsbenachteiligungen, die durch soziale bzw. familiale Defizite bedingt sind, kompensieren und zugleich auch spezifische Begabungen möglichst früh erkennen. Der Besuch einer Vorschuleinrichtung ist im Umfang von fünf Stunden täglich kostenlos. Ein darüber hinausreichendes Angebot ebenso wie die Mahlzeiten sind dagegen kostenpflichtig. Die Elementarbildung umfasst Kinder im Alter von 3–6 Jahren. Das letzte Kindergartenjahr wurde ab dem 1. September 2004 für sechsjährige Kinder verpflichtend, und im Jahr darauf wurde es als obligatorische Vorschulklasse eingeführt. Infolge dessen beginnt die Schulpflicht seit dem Schuljahr 2009 für polnische Kinder nach Maßgabe der Eltern mit 6 Jahren und wird ab dem Schuljahr 2012 landesweit zur Pflicht. Gleichzeitig hat jeder Fünfjährige das Recht auf einen Kindergartenplatz.

Pflichtschulbildung

Anders als in den meisten deutschen Bundesländern beginnt in Polen die Pflichtschulbildung auf der Primarstufe mit einer sechsjährigen Grundschule (poln. szkoła podstawowa). Die polnische Grundschule unterteilt sich zudem in zwei Lehrzyklen, nämlich in die Klassen 1–3 mit integriertem Fachunterricht (Klassenlehrerprinzip) und in die Klassen 4–6 mit Blockunterricht (Naturwissenschaft, Sprache, Sozialkunde, Technik – Fachlehrerprinzip). In der 5. Klasse setzt der Unterricht in der ersten Fremdsprache, in der Regel mit Englisch ein. Die polnische sechsjährige Grundschule schließt mit einer verpflichtenden, jedoch nicht-selektiven Prüfung, einem sog. 60-minütigen Grundschultest, nach der Klasse 6 ab. Der Test erfasst das Fähigkeits- und Kenntnisniveau der Grundschulkinder in den Bereichen Lesen, Schreiben, Problemlösen, Umgang mit Informationen (Tabellen, Briefe, Landkarten, Zeitungsartikel), soll Auskunft über die individuelle Entwicklung eines jeden Schülers geben und ist dabei ein Diagnoseinstrument für Lehrer, Eltern und Schüler.

Unabhängig jedoch von dem erzielten Prüfungsergebnis – die polnische Primarstufe kennt das Sitzenbleiben nicht – besuchen die polnischen Schüler (im Alter von 13–15 Jahren) auf der unteren Sekundarstufe für drei Jahre ein allgemeinbildendes Gymnasium (poln. gimnazjum). Im Gegensatz zum deutschen Gymnasium ist das polnische Gymnasium keine zum Abitur führende Schule mit unterer und oberer Sekundarstufe, sondern nur eine Schule der Sekundarstufe I, die einen Teil der Schulpflicht abdeckt. Das relativ dichte Netz der Gymnasien soll einen verbesserten Zugang zur Bildung für alle Schichten sicherstellen und durch eine verbesserte Unterrichtsqualität eine qualitativ hochwertige Grundbildung vermitteln. Die polnische Gymnasialbildung wird mit einer standardisierten externen Prüfung (poln. egzamin gimnazjalny) auf regionaler Ebene nach der Klasse 9 abgeschlossen. Im wesentlichen werden Fähigkeitsüberprüfungen (Lesen, Interpretation, Produktion und Reproduktion, in punktueller Anlehnung an PISA) und innerfachlich orientierte Wissensaufgaben (Physik, Chemie, Mathematik) vorgenommen. Zunächst hatte diese externe Prüfung am Ende der Gymnasialschule vornehmlich die Schuleignung ihrer Absolventen im Blick und damit hauptsächlich einen Informationscharakter. Mit dem teilweisen Wegfall der Eingangsprüfung beim Übergang zu den weiterführenden Schulen stieg die Bedeutung dieser externen Gymnasialprüfung in Richtung einer Selektionsfunktion. Dies liegt darin begründet, dass die weiterführenden (postgymnasialen) Sekundarschulen ihre Auswahl inzwischen nach der zu erreichenden Punktzahl im Test (neben Noten in Polnisch und drei weiteren von der Schule frei wählbaren Fächern) treffen, die schließlich über eine Ablehnung oder Aufnahme entscheidet.

Der gesamte Pflichtschulbereich, d. h. die Grundschulen und die Gymnasien, befinden sich in der Trägerschaft der Gemeinde. Beide Schulformen machen die neunjährige Schulpflicht aus. Auf einen Lehrer kommen hier in der Regel 13–17 Schüler. Das polnische Pflichtschulwesen ist seit einigen Jahren von einem allmählichen Geburtenrückgang betroffen, der sowohl in der Grundschule als auch im Gymnasium sinkende Schüler- und Absolventenzahlen zur Folge hat, bisher jedoch vor allem zur Schließung von Grundschulen führte und noch keine Auswirkungen auf das Schulnetz der Gymnasien zeitigte.

Weiterführende Schulen

Auf der oberen Sekundarstufe (16–18/20 Jahre), also der dritten Stufe des polnischen Schulwesens, finden sich allgemeinbildende, berufliche und doppeltqualifizierende Schulen mit unterschiedlicher Dauer. Davon führen drei zum Abitur, so dass polnische Schüler im Regelfall das Abitur nach zwölf Schuljahren abgelegt haben. Der Zugang erfolgt nur noch bei der berufsbildenden Schule über eine Aufnahmeprüfung.

Alle weiterführenden Schulen werden von den 1999 neu eingeführten Landkreisen getragen. Diese an das dreijährige Gymnasium anschließende obere Sekundarstufe differenziert sich seit dem Schuljahr 2002/03 in vier Schultypen:

Das Allgemeinbildende Lyceum (poln. liceum ogólnokształcące), das nach drei Jahren zum Abitur führt (95 % Abiturienten im Schuljahr 2007/08), bildet den klassischen Zugang zum Hochschulwesen und sichert die Allgemeinbildung durch einen breiten obligatorischen Fächerkanon. Das profilierte Lyceum (poln. liceum profilowanie), das als ein völlig neuer Schultyp in fünfzehn Profilen (z. B. Mechatronik, Informatik, Umwelttechnik, Verwaltung und Ökonomie) ebenfalls nach drei Jahren zum Abitur führt, stieß seit seiner Einführung auf eher verhaltenes Interesse. Nur knapp 5 % aller Gymnasiasten wechselt auf diesen Schultyp. Nur 76,9 % aller Absolventen erhielten im Schuljahr 2008/09 das Abiturzeugnis, alle übrigen verlassen das Lyzeum mit einem Abgangszeugnis.Das Technikum (poln. technikum) ist ein doppeltqualifizierender Bildungstyp, der parallel zur Technikerqualifikation (z. B. im Bankwesen, Landschaftsbau, Gesundheitswesen) auch das Abitur (71 % Abiturienten im Schuljahr 2008/09) verleiht. Das Technikum erfreut sich in Polen seit Jahrzehnten einer breiten gesellschaftlichen Anerkennung. Die Berufsgrundschule (poln. zasadnicza szkoła zawodowa) vermittelt in zwei bis drei Jahren eine Facharbeiterausbildung in Ausbildungsberufen wie beispielsweise Landwirt, Bergmann, Bauarbeiter, Maschinenbauer oder Metallarbeiter. Sie berechtigt zudem mit ihrem Abschluss zum Übergang in die seit 2004/05 neu eingeführten, zwei- bzw. dreijährigen ergänzenden Ausbildungsformen der o.g. Schultypen. Die polnische Berufsgrundschule unterscheidet sich deutlich vom deutschen beruflichen dualen Ausbildungssystem. Die Ausbildung ist vollzeitschulisch organisiert und ein Bestandteil des Sekundarschulsystems, also nicht betriebsgestützt. Es gibt nur wenige berufspraktische Elemente.

Alle weiterführenden Schultypen sind seit Beginn der 1990er Jahre von der Bildungsexpansion betroffen, was auf die steigende gesellschaftliche Wertschätzung höherer Bildungsabschlüsse und die seinerzeit eher unspezifischen Erfordernisse des polnischen Arbeitsmarktes zurückging. Allerdings lässt sich seit einigen Jahren ein verändertes Bildungsverhalten beobachten, das auf ein zunehmendes Interesse an beruflichen Ausbildungsgängen hindeutet. Gewinner dieser Entwicklung im Bildungswesen sind tendenziell die Berufsgrundschulen mit ihrem Angebot konkreter beruflicher Ausbildung. Dies hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen: Einerseits mit der allmählichen Öffnung des europäischen Binnenmarktes nach dem Beitritt Polens zur EU auch für polnische Arbeitnehmer, was zur verstärkten Arbeitsmigration führte. Andererseits hatte dieser Abfluss von polnischen Fachkräften und beruflich Qualifizierten ins europäische Ausland nach der Erholung der polnischen Wirtschaft eine spürbare heimische Nachfrage verursacht. Inzwischen werden Nachwuchskräfte in verschiedenen Branchen dringend gesucht. Die polnische Jugend, vor allem junge Männer, orientiert sich nun mehr in Richtung der Berufsgrundschulen. Diese galten bisher als das schwächste Glied des polnischen Bildungswesens und mussten stets gegen ihr schlechtes Ansehen ankämpfen. Diese Veränderung könnte möglicherweise zur Attraktivität des berufsbildenden Schultyps beitragen und sein gesellschaftliches Prestige steigern. Dennoch sind alle im weitesten Sinne weiterführenden berufsbildenden Schultypen (Technikum, profiliertes Lyceum und die Berufsgrundschule) seit der Jahrtausendwende vom Rückgang der Schülerzahlen betroffen, ein Umstand, der auf das allgemeine demographische Tief zurückzuführen ist. Dennoch kommen in den weiterführenden Schulen auf einen Lehrer durchschnittlich bis zu 20 Schüler.

Die weiterführenden Schulen enden alle mit zentralen Abschlussprüfungen. Am Ende der dritten Schulstufe (Sek. II.) stehen also einerseits das Zentralabitur (poln. egzamin maturalny) und andererseits die externe Berufsprüfung (poln. egzamin zawodowy). Beide Prüfungsformen setzen sich aus schriftlichen und mündlichen bzw. praktischen Prüfungsteilen zusammen. Während sich die schriftlichen Teile der Abiturprüfung ebenso wie die der Berufsprüfung an einem extern konzipierten und landesweit vorgegebenen Aufgabensatz orientieren und auch extern aus- und bewertet werden (durch zentrale oder regionale Prüfungskommissionen), werden die mündlichen Teile beider Abschlussprüfungen schulintern abgenommen. Allerdings lösen die Berufsschüler eine zentral vorgegebene Aufgabe, die zwar von einer internen Prüfungskommission abgenommen, jedoch nach landesweit einheitlichen Kriterien bewertet wird. Hingegen erfolgen die Themenvergabe, der Prüfungsablauf und die Leistungsbewertung im mündlichen Teil des Abiturs durch eine schulinterne Prüfungskommission, der lediglich ein externes Mitglied angehört. Vier der fünf Aufgaben der mündlichen Prüfung im Abitur decken den sprachlichen Bereich durch Fremdsprachen und Polnisch ab, wobei zum letzteren eine Schülerpräsentation und eine anschließende Diskussion gehören. Das neue Prüfungsformat löst damit die bisherige Praxis einer bloßen Wissensabfrage und hebt stärker auf Fähigkeits- und Kenntnisentwicklung des Schülers ab. Alle auf den drei Übergangsstufen des Bildungswesens praktizierten Prüfungsformen – Grundschultest, Gymnasialtest sowie das Zentralabitur (einschließlich Berufsprüfung) –, kombinieren sowohl externe als auch interne Prüfungsmodi miteinander. Während die beiden Ersten tendenziell auf die individuelle Entwicklung des Schülers abzielen und damit eher der Logik einer Schullaufbahnbegleitung folgen, kommt für das Abitur und die Berufsprüfung mit der Stärkung von Instrumenten zentraler Prüfungskommissionen, die nach quasi objektivierbaren Kriterien entscheiden, vielmehr die Allokations- bzw. Selektionsfunktion der Schule zum Tragen. Dies kommt der Aufwertung der Zertifikate am Übergang in abnehmende Subsysteme (Hochschule/Beschäftigungssystem) gleich. Und so verwundert es kaum, dass mit dem neuen Zentralabitur die Zuweisung der Studienplätze nicht mehr mittels Aufnahmeprüfungen der Hochschulen, sondern anhand der im Abitur ereichten Punktzahl vergeben werden. Diese Regelung ließe sich eventuell mit dem deutschen Numerus Clausus, also der Vergabe des Studienplatzes nach Noten, vergleichen.

Schulvielfalt

Seit dem politischen Umbruch hat das polnische Schulwesen mit Blick auf die Pluralität der Trägerschaften und die Vielfalt der pädagogischen Konzepte eine enorme Bereicherung erfahren. Zugleich entspricht es mit seinem differenzierten Schulangebot den unterschiedlichen Bedürfnissen heterogener gesellschaftlicher Gruppen. Das gilt beispielsweise für die wachsende Zahl nichtstaatlicher Schulen. Ihre Zahl, vornehmlich der Grundschulen und der Gymnasien sowie die ihrer Schüler wächst zwar langsam, aber stetig. Inzwischen machen 6,3 % aller Grundschulen mit 2,6 % aller Schüler und 9,7 % aller Gymnasien mit 3,6 % aller Schüler den privaten Bildungssektor aus. So konnten alternative Schulen oder Schulen mit reformpädagogischem Profil wie Montessori, Korczak oder Freinet, die von basisdemokratischen Bildungsinitiativen getragen wurden, entstehen. Diese Schulen sind in der Regel kleiner, besser ausgestattet und verfügen über besser ausgebildetes, junges Personal. Die nichtstaatlichen Schulen dürfen keinen Gewinn erwirtschaften. Die laufenden Kosten werden bis zu 100 % aus dem Staatshaushalt bestritten. Die Träger dieser Schulen können Vereine, Stiftungen, Gesellschaften, Verbände, aber auch konfessionelle Organisationen sein ebenso wie Privatpersonen. Die Klientel nichtstaatlicher Schulen stammt zumeist aus der wohlhabenden Mittelschicht großstädtischer Regionen wie Warschau oder anderer urbaner Zentren.

Aufgrund einer neuen Anerkennungspolitik gegenüber den Minoritäten im Lande und einer inzwischen auch weitgehend freizügigen Gründungspraxis gelang nach 1992 die Einrichtung von Minderheitenschulen. Seitdem nahmen sie recht schnell einen enormen Aufschwung. Ihr Ausbau wurde zuletzt durch das Gesetz über die nationalen und ethnischen Minderheiten aus dem Jahre 2005 begünstigt. Dieses schreibt das Recht auf den muttersprachigen Unterricht in nationalen, ethnischen und regionalen Minderheitensprachen auf allen Stufen des Bildungssystems, vom Kindergarten bis zum Abitur, fest. Die auffälligste Entwicklung nahmen von Anfang an die Schulen der größten Minderheit in Polen, nämlich die der Deutschen. Sie machen mehr als 40 % aller Minderheitenschulen im Pflichtschulbereich (sechsjährige Grundschulen und Gymnasien) aus, und ihr Schüleranteil beläuft sich auf etwa 70 % aller Minderheitenschüler. Es gibt aber auch Schulen für die ukrainische, belarussische, tschechische, litauische, jüdische und andere Minderheiten. In den letzten Jahren erfährt auch das Unterrichtsangebot im regionalen Dialekt Kaschubisch eine größere Nachfrage. Während der Pflichtschulbereich über ein ausgebautes Netz von Minderheitenschulen verfügt und sich einer regen Nachfrage erfreut, ist das Interesse an muttersprachigen Angeboten im weiterführenden Bildungsbereich eher gering. Das zeigt sich vor allem an den Abiturfächern. Höchstens jeder dritte Schüler der Minderheitenschulen oder Schulen mit einem solchen Sprachangebot wählte 2008/09 seine Muttersprache als Abiturfach.

Fremdsprachen / Informationstechnologien

Die Kenntnis fremder Sprachen gehört neben der muttersprachigen Kompetenz zur Grundlage jedweder modernen allgemeinen Bildung. Ihre Beherrschung öffnet den jungen Menschen den Zugang zu Informationen und damit zur Welt. Ein frühzeitiger Beginn verspricht wiederum den bestmöglichen Effekt. Der Fremdsprachenunterricht in der polnischen Schule beginnt jedoch wie in Deutschland auch in der 5. Klasse (der Grundschule) und wird entweder als obligatorisches Fach oder als Zusatzunterricht angeboten. In Polen lernen immer mehr junge Menschen eine Fremdsprache. Eine Fremdsprache lernen über 55 % und zwei Fremdsprachen lernen 43 % der Schüler an Schulen des unteren und oberen Sekundarbereichs. Die quantitative Entwicklung der vergangenen 20 Jahre zeigt einen bemerkenswerten Aufwärtstrend, dies gilt insbesondere für die westlichen Fremdsprachen, vor allem für Englisch. Englisch als erste obligatorische Fremdsprache dominiert damit sowohl den Pflichtschulbereich als auch den weiterführenden Bildungssektor. Der Anteil der Schüler, die am obligatorischen Englischunterricht teilnehmen, stieg seit dem Schuljahr 1999/2000 (46,9 %) um 36 Punkte. Im Schuljahr 2008/09 lernten 83 % der polnischen Grundschulschüler und 79 % der Gymnasiasten Englisch. In den weiterführenden Schulen wird Englisch als erste Fremdsprache von über 95 % der Schüler gelernt. An zweiter Stelle folgt Deutsch mit knapp 1/3 der gesamten Schülerpopulation, auch wenn seit 2005 ein allmählicher Rückgang des Interesses zu verzeichnen ist. Immerhin wird Deutsch als Fremdsprache in den weiterführenden Schulen von über 60 % dieser Schülerschaft gewählt. Demgegenüber sinkt die Popularität des Russischen als erste obligatorische Fremdsprache kontinuierlich. Nur noch 10,1 % aller Schulen bieten Russisch obligatorisch an. Deutsch wird häufiger in den westlichen und Russisch in den östlichen Regionen Polens angeboten und gewählt (Phänomen der Grenzregionen). Noch weniger Schulen bieten Französisch als erste Fremdsprache an, nämlich lediglich 6,2 %. Dass Französisch seit den 1990er Jahren als erste obligatorische Fremdsprache an Bedeutung verliert, mag nicht allein an der Attraktivität der Sprache liegen, sondern könnte einfach an dem fehlenden Angebot der Schulen aufgrund des Lehrermangels liegen. Ferner orientiert sich die junge polnische Generation, wie viele ihrer Zeitgenossen auch, gerne an dem amerikanischen Lebensstil. Dies gilt vor allem für Musik, Mode oder andere Konsumgüter, was u. a. auch die Hinwendung zur englischen Sprache mitbefördert. Diese Entwicklung zugunsten der westlichen Fremdsprachen lässt sich zunächst positiv als eine gelungene Anpassung der polnischen Bildung an die Herausforderung der europäischen Integration und der Globalisierung des gesellschaftlichen sowie ökonomischen Lebens deuten. Kritisch gewendet, ließe sich anmerken, dass damit eine Monopolstellung, nämlich vormals des Russischen nun durch die Vormacht des Englischen als Lingua franca abgelöst wird und diese Entwicklung offensichtlich zu einem gewissen Nachteil der Sprachenvielfalt erfolgt.

Zu den weiteren auffälligen Neuerungen gehört auch der Einzug des Computers in die polnischen Schulen. Die Ausstattung mit Computern hat sich seit der Reform 1999 auf allen Stufen des Bildungswesens enorm verbessert. Das gilt auch für den Zugang und die Nutzung des Internets. Auf der Ebene der Grundschule erreichte der Grad der Computerisierung 95,7 % (2009/10). Auch die Gymnasien sowie die postgymnasialen (weiterführenden) Schultypen haben aufgeholt und erweiterten ihr Angebot an neueren Informationstechnologien. Beinah unverändert abgeschlagen bleiben lediglich profilierte Lyzeen und Berufsgrundschulen. An den Allgemeinbildenden Lyzeen sieht die Situation entspannter aus. Im Schuljahr 2009/10 besaßen 78,1 % aller Lyceen dieses Typs eine Computerausstattung. Über 90 % aller Computer an Allgemeinbildenden Lyzeen haben einen Internetanschluss. Auf einen PC kommen an diesem Schultyp im Durchschnitt zehn Schüler. Auch wenn insgesamt die Ausstattung der Schulen mit PC-Ausrüstung und weiteren Informations- und Kommunikationsmedien modernisiert wurde und gegenüber dem Beginn der bildungspolitischen Offensive »Für jedes Gymnasium ein Computer« vor zehn Jahren Fortschritte machte, steht Polen im internationalen Vergleich eher im unteren Feld. Im OECD-Ranking von 28 Ländern belegt Polen im Untersuchungsjahr 2006 Platz 22 vor Portugal und nach Estland.

Schulkultur

Die Schulnoten in Polen umfassen eine sechsstufige Skala, die von sechs – beste Note: ausgezeichnet/hervorragend – bis hin zu eins – ungenügend – reicht und sich genau umgekehrt zur deutschen Notenskala verhält. Traditionsgemäß werden in polnischen Schulen auch Noten für das Betragen des Schülers vergeben. Ähnlich den »Kopfnoten« einiger deutscher Bundesländer ist die Notenskala auch in Polen sechsstufig: musterhaft, sehr gut, gut, richtig, unangemessen und tadelhaft. Zudem gibt es für polnische Schüler im Primarbereich keine Klassenwiederholungen.

Seit den 1990er Jahren wurde in der Öffentlichkeit immer wieder über zunehmende Jugendgewalt an den Schulen geklagt. Gewaltprobleme und ihre Prävention gehören damit als relativ neues Phänomen zum festen Bestandteil des Schullebens. Ein Versuch, das Problem systematisch bildungspolitisch zu bearbeiten, wurde 2002 eingeleitet. Alle polnischen Schulen werden seitdem verpflichtet, in ihre Schulprogramme prophylaktische Maßnahmen aufzunehmen. Damit sollen Präventionsprogramme für die speziellen Bedürfnisse der Einzelschule entwickelt werden, die gleichsam zum festen Element der Qualitätssicherung schulischer Arbeit gehören. Auch wenn diese Schritte noch nicht viel über ihre pädagogische Wirksamkeit aussagen, zeugen sie dennoch von einem wachsenden Problembewusstsein.

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