Für ihre Verdienste bei der Erhaltung der polnischen Identität erwartete die katholische Kirche in Polen nach 1989 eine Sonderstellung, die ihr ein demokratischer und konfessionsneutraler Staat nicht bieten konnte. Ein gewichtiges Argument der Kirchenvertreter war etwa, dass die Katholiken in Polen 90 % der Bevölkerung stellen und im nunmehr freien Polen adäquat zu ihrer Zahlenstärke politisch wie symbolisch repräsentiert werden müssten. Viele Debatten, die das Land seit der Wende bewegten, resultierten aus dem Spannungsverhältnis zwischen den Erwartungen der Amtskirche, die die Grundsätze der Kirchenlehre in die Politik umgesetzt sehen wollte, und den Abwehrhandlungen des Staates, der sich mehr oder weniger erfolgreich diesem Druck entzog. Die Belange der Kirche betrafen dabei anfänglich die materielle Wiedergutmachung (Rückgabe von Kirchengütern, steuerliche Sonderstellung), erreichten aber schnell die sensiblen Bereiche der Bildung (Einführung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen, Übernahme der Kosten durch den Staat, ablehnende Haltung der Kirche zum Ethikunterricht und zur Sexualkunde), der Medien (Debatte um »christliche Werte«) sowie den Bereich der Sexualmoral (durch die erbitterte Abtreibungsdebatte und die Ablehnung der In-vitro-Fertilisation auf Rezept). Um diese Ziele zu erreichen, nutzt die Kirche wirkungsvolle Instrumente, etwa die kurz vor dem Umbruch 1989 eingerichtete Gemeinsame Kommission von Regierung und Episkopat, die Regelungen, die die Kirche betreffen, am demokratischen Entscheidungsprozess vorbei durchsetzen kann.
Die Politisierung der Amtskirche: der schleichende Verlust der Autorität
Die fordernde und selbstbewusste Haltung der Amtskirche führte bereits zu Beginn der 1990er Jahre zu einer ersten Debatte über einen drohenden Konfessionsstaat. Viele Nichtgläubige und Gläubige fühlten sich durch die lautstark nach außen getragene »Haltung der katholischen Mehrheit« in ihrem Recht auf einen autonomen Lebensentwurf beschränkt. Neben politischen und intellektuellen Debatten, die oft einem ideologiebehafteten Kulturkampf glichen, wurde auch der öffentliche Raum durch die allgegenwärtige Präsenz von Kirchenvertretern (Parlament, Schule, Medien, öffentliche Einrichtungen) vereinnahmt. Dies und die gleichzeitige Politisierung eines Teils des polnischen Klerus sowie dessen Engagement für Parteien oder Kandidaten, die die Linie der Kirche vertraten, führten zu einem schleichenden Verlust an Identität und Autorität der Kirche als Institution. Diese Haltung entsprach der Auffassung, dass sich der Katholik nicht passiv in der Welt verhalten darf, sondern aktiv seine Umwelt im Sinne seiner christlichen Werteorientierung gestalten muss. Sie fand einen Ausdruck in der uneingeschränkten Unterstützung der Solidarność-Kandidaten bei der Wahl 1989; bei den Präsidentschaftswahlen ein Jahr später galt die Sympathie der Geistlichen Lech Wałęsa. Als die Katholische Wahlaktion, eine einflussreiche Laienorganisation, bei den Wahlen 1993 die Partei Christlich-Nationale Vereinigung (Zjednoczenie Chrześcijańsko-Narodowe – ZChN) unterstützte, wurde die offizielle Neutralität der Amtskirche vollends ausgehöhlt. Der Wahlsieg der Postkommunisten und die große Popularität der antiklerikalen Zeitschrift »Nie« stellten ernsthafte Warnzeichen für ein als politisch wahrgenommenes Auftreten der Kirche und ihre Versuche dar, nach dem Sieg über den Kommunismus den liberalen Staat samt der von ihm angestrebten »offenen Gesellschaft« als Bedrohung der polnischen und gleichzeitig katholischen Identität des Volkes zu definieren.
Einen entscheidenden Grund für den schleichenden Bedeutungsverlust der Kirche stellt ihre »Lagermentalität« dar. Während die Kirche in den 1980er Jahren verschiedenen oppositionellen Gruppen, teilweise auch erklärten Atheisten, Freiräume bot und sich mit ihnen im Dialog befand, wurde diese »tolerierende« Haltung nun als Schwäche aufgefasst. Bischöfe, die für diese Kontakte bekannt waren, wurden im Episkopat angegriffen bzw. marginalisiert. Die Kirche zählte ihre Schäfchen und flüchtete in eine mentale Festung. Paradoxerweise konservierte der als Avantgarde der gesellschaftlichen Moderne aufgetretene Kommunismus viele traditionelle Werte in breiten Schichten der Gesellschaft, die in der Kirche einen Zufluchtsort vor den Fängen des Totalitarismus sahen. Nun aber gab es keinen totalitären Staat mehr, der Kitt für eine Identifikationsquelle, die in der Verbindung zwischen Nation und Glauben begründet war, löste sich auf. Plötzlich war der alte Gegner weg und die Kirche sah sich von einem Tag auf den anderen mit einer veränderten gesellschaftlichen und sozialen Realität konfrontiert, deren Bedrohungen ihr allgegenwärtig erschienen und gegen die sie glaubte, ihre Positionen konsolidieren zu müssen. Der neue Gegner war schnell ausgemacht: Es war ein liberales, durch ökonomische Grundprinzipien gesteuertes Gesellschaftsmodell, in dem sich der Staat aus der Gestaltung des ideellen Raumes seiner Bürger heraushält. Für die Kirche dagegen war eine »Demokratie ohne Wertebezug« die Keimzelle eines neuen Totalitarismus, das Fundament der »Zivilisation des Todes«, deren Befürworter, mit modernen und intelligenten Instrumenten der Meinungsbildung ausgestattet, alle Bereiche des Lebens einem wertefreien Materialismus ausliefern. Dies öffnet Entwicklungen postmoderner Verunsicherung, ja sogar einer offenen Ablehnung traditionell gefestigter Werte wie Patriotismus, Tradition und Familie Tür und Tor, was die Kirche als Bedrohung ansieht. Besonders polarisierend wurde der Streit um ein neues Anti-Abtreibungsgesetz geführt. Die Auffassung der Kirche stellte den Schutz des ungeborenen Lebens über alle anderen Werte. Der Sejm beschloss 1993 schließlich zwei Ausnahmen. Die gesellschaftliche Debatte wurde mit großer Vehemenz geführt und stellte alle Gegner dieser Auffassung, darunter auch viele katholische Laien, als »Verräter« dar. Ähnlich geartet waren auch Diskussionen um die neue polnische Verfassung, die die Bischöfe als ein »nihilistisches« Projekt abwerteten – sie verlangten den verfassungsmäßigen Schutz des ungeborenen Lebens von Anfang an. Auch die anfänglichen Äußerungen zur angestrebten Mitgliedschaft in der EU zeugten von großen »moralischen Zweifeln« der Bischöfe, von denen ein Teil bis heute stark EU-skeptisch geblieben ist. In vielen dieser Punkte ging die Meinung der Kirche nicht konform mit der Meinung der Polen. Aber nicht darin liegt ihre Schwäche, sondern in der dialogunwilligen Haltung der Amtskirche, die sich nicht einer offenen Diskussion stellt.
Hinzu kommt, dass die Führungsriege des Episkopats nach der Wende, aber vor allem nach dem Tod des »polnischen« Papstes Johannes Paul II im Jahr 2005, angesichts der Herausforderungen in Politik und Gesellschaft keine klare Linie finden kann. Sie spricht mit unterschiedlichen Stimmen, die oft an Dissonanzen kaum zu übertreffen sind. Der Kirche fehlt es an herausragenden Autoritäten, die durch ihr Auftreten bei der Mehrheit der Gesellschaft oder zumindest der Katholiken überzeugen würden. Die Aufteilung der Kirchenspitze in das Amt des Primas (Józef Kardinal Kowalczyk) und des Vorsitzenden des Episkopats (Erzbischof Józef Michalik) diente der Sache wenig, ebenso wie die Abkoppelung der Primasfunktion von der Metropole Warschau-Gnesen (Kazimierz Kardinal Nycz). Der Krakauer Kardinal Dziwisz, einst Vertrauter von Johannes Paul II., mit dessen Rückkehr aus Rom viele Hoffnungen verknüpft wurden, erwies sich als farblos; durch seine nachgiebige Haltung in der Frage der Beisetzung des verunglückten Präsidentenpaares Lech und Maria Kaczyński auf dem Wawel hat er viel Respekt eingebüßt. Die Kirche zeigt heute eine Pluralisierung der Meinungen, die sie als Institution keinesfalls entscheidungsfähiger und wirkungsvoller macht. Durchaus hörbare Positionen, die eine Öffnung der Kirche fordern, darunter auch vereinzelt Mitglieder der Bischofskonferenz, wie der Warschau-Gnesener Erzbischof Nycz und der Lubliner Erzbischof Józef Życiński werden durch das Übergewicht der konservativ geprägten Bischöfe konterkariert. Die einzelnen Bischöfe treten autonom in ihren Diözesen auf, eine gemeinsame Linie ist nicht zu finden, das Lavieren ist allgegenwärtig, insbesondere bei kniffligen Fragen.
Die katholische Kirche Polens war in der Vergangenheit oft ein Ort des internen intellektuellen Dialogs und des Austausches mit Laien und Nichtgläubigen. Heute glänzt sie weder mit theologischer Exzellenz noch mit einer starken Verortung in intellektuellen Diskursen, das Ausbildungsniveau des Klerus ist bedenklich niedrig. Mehrere unabhängige Geister, die in intellektuellen Debatten die Meinung der Kirche vertraten, legten in letzter Zeit ihre geistlichen Ämter nieder; dazu gehören u. a. Stanisław Obirek und Tadeusz Bartoś. Der ehemalige Dominikanerpater Bartoś veröffentlichte 2008 eine kritische Würdigung des Pontifikats Johannes Pauls II., eine erste Arbeit dieser Art in Polen überhaupt. Stanisław Obirek lieferte dagegen in seinem Gesprächsband »Przed Bogiem« (2005) eine grundlegende Kritik der katholischen Praxis in Polen: von der Ausbildung an den Priesterseminaren über die unter den Teppich gekehrten Affären bis hin zu den Fehleinschätzungen des Papstes und der Kirche gegenüber den Phänomenen der modernen Welt. Beide »Dissidenten« sind der Ansicht, dass der Katholizismus polnischer Prägung einer dringenden Reform bedarf.
Das Problem mit den Fundamentalisten: »Wir sind Kirche« à rebours
Laienbewegungen waren in Polen nie stark. Bekannt waren vor allem die Klubs der katholischen Intelligenz, die seit den 1970er Jahren ein Gegengewicht zu der im Lande so verbreiteten Volksreligiosität bildeten. Sie waren das Produkt einer Zeit, in der sich die Menschen nach dem freien Wort in einer Diktatur sehnten. Nach der Wende wurde ihre Bedeutung immer schwächer. Noch gibt es sie: die legendären Blätter der katholischen Intellektuellen, die Generationen polnischer Oppositioneller prägten, wie die Wochenschrift »Tygodnik Powszechny« und die Monatsschriften »Więź« und »Znak«. Ihr Einfluss als Sprachrohr eines »offenen Katholizismus« ist heute begrenzt, ihre Verlage kämpfen ums Überleben.
Konservative Meinungseliten brüsten sich dagegen mit stark gestiegenem Interesse, etwa aufgrund der Verkaufszahlen der Wochenzeitungen »Gość Niedzielny« oder »Niedziela«. Intellektuelle fundamentalistische Strömungen sind zwar zahlreich, aber bis heute eher in Nischen vertreten. Dazu zählen u. a. »Christianitas«, »Teologia Polityczna«, »Fronda« und »Czterdzieści i Cztery«. Fakt ist, dass sich im letzten Jahrzehnt viele Vertreter des intellektuell konservativen Katholizismus erfolgreich in mehreren zum Mainstream gehörenden Medien etablierten (etwa Paweł Lisiecki, Tomasz Terlikowski und Jan Pospieszalski in der konservativen Tageszeitung »Rzeczpospolita«, andere in »Dziennik« oder »Newsweek Polska«). Bei ihrer grundsätzlich konservativen Einstellung kommt es bisweilen zum Krach mit der Hierarchie: So geschehen etwa bei dem verhinderten Amtsantritt des Warschauer Metropoliten Stanisław Wielgus im Dezember 2006, dem konservative katholische Publizisten (aber nicht nur) eine Lüge im Hinblick auf die Kontakte mit dem kommunistischen Geheimdienst nachweisen konnten.
Die Besinnung der Mehrheit der Amtskirche auf konservative moralische und politische Haltungen beförderte das Aufkommen verschiedener fundamentalistisch geprägter »basisdemokratischer« Bewegungen. Diese übten sich schnell in Aktionen à la »Wir sind Kirche« – nur mit umgekehrtem Vorzeichen. So unterstützten sie die konservativen Bischöfe gegen die liberale Öffentlichkeit und schreckten vor Provokationen, nicht selten auch gegen die »lasche« Haltung der Amtskirche, nicht zurück. Eine davon stellt beispielsweise der seit Anfang der 1990er Jahre entbrannte Konflikt um das Karmeliterinnen-Kloster in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz dar, gegen das jüdische Organisationen protestierten. Den Schlagabtausch, den sich die »Verteidiger des Klosters« und diverse Gruppen jüdischer Besucher lieferten, begleitete eine zurückhaltende Reaktion des Krakauer Erzbischofs sowie des gesamten Episkopats. Später kam es noch zum Konflikt um das »Papst-Kreuz« in der benachbarten Kiesgrube. Als 1999 bekannt wurde, dass dieses umgesetzt werden sollte, riefen die sich spontan einfindenden »Verteidiger des Kreuzes« zum Aufstellen neuer Kreuze auf, von denen es am Ende mehr als 300 gab. Somit drohte die Lage zu eskalieren. Ein weiteres Mal zeigte sich der Episkopat uneins in der Frage, wie mit Fundamentalisten umzugehen sei. Der Streit dauerte Monate; erst eine Bitte des Papstes und ein offizielles Gesetz waren notwendig, um eine Lösung herbeizuführen.
Die Amtskirche zahlte dafür einen hohen Preis und sie zahlt ihn weiterhin durch eine wenig wirksame Haltung im Hinblick auf die umstrittenen politischen Inhalte des katholischen Senders Radio Maryja. Mittlerweile ist sein Gründer und Direktor, der Redemptoristenpater Tadeusz Rydzyk, in dessen Verantwortungsbereich auch die Zeitung »Nasz Dziennik«, der TV-Sender »Trwam« und eine katholische Medienhochschule fallen, einer der bekanntesten Vertreter des polnischen Katholizismus im In- und Ausland, auch wenn seine Sendungen regelmäßig nur etwa 5 % der Bevölkerung erreichen. Berüchtigt sind seine Ausfälle gegenüber der polnischen politischen Klasse; vorzugsweise maßregelt er seine politischen Gegner unter den Liberalen, aber nicht nur. Unakzeptabel sind seine antisemitischen Positionen. Auch die »Familie von Radio Maryja« – eine Laienorganisation, die mit dem Sender verbunden ist – stellt bisweilen ein Problem für die Amtskirche dar. Ihre verschiedenen Aktionen, wenn auch im Ansatz mit der Linie der Kirche vereinbar (Demonstrationen der Verteidiger des ungeborenen Lebens, Proteste gegen Homosexuellen-Paraden), werden im Einzelnen nicht von der Kirche befürwortet. Ein Teil des Episkopats versteht, dass diese Aktionen dem Ruf der Amtskirche schaden. Die Bischöfe bleiben in der Hinsicht jedoch entweder gelähmt (die Provinz der Redemptoristen unterliegt nicht der territorialen Jurisdiktion der polnischen Bischofskonferenz, sondern dem Ordensgeneral im fernen Ausland) oder sie versuchen, die politische Rolle des Senders zu marginalisieren, und loben dafür seinen theologischen und pastoralen Auftrag. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass viele Bischöfe und viele Geistliche auf nicht so exponierten Positionen mit den politischen Positionen des Senders mehr oder weniger offen sympathisieren. Deswegen fällt es den Würdenträgern schwer, zu einer einheitlichen Linie zu finden. Auch die Mahnungen von Benedikt XVI. halfen bisher nicht, die politischen Kommentare des religiösen Senders zu zügeln.
Das »Kreuz« mit dem Kreuz
Ein aktuelles Beispiel für ein sich der Amtskirche widersetzendes Verhalten katholischer Fundamentalisten liefert die Auseinandersetzung um das Kreuz vor dem Präsidentenpalais in Warschau. Der Streit hat eine Vorgeschichte: Ihm ging ein tragisches politisches Ereignis von nationaler Bedeutung voraus – die Flugzeugkatastrophe in der Nähe von Smolensk am 10. April 2010, bei der neben dem amtierenden Präsidenten Lech Kaczyński und seiner Ehefrau über 90 Vertreter des Staates ums Leben kamen. Kaczyński war gleichzeitig Präsidentschaftskandidat der konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) . Als sich der Zwillingsbruder des Präsidenten, der PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, zu kandidieren entschloss, begann eine in ihrem Ausmaß seit 1993 beispiellose Unterstützung dieses Kandidaten durch die Kirche, die dessen Rivalen, Bronisław Komorowski, der ebenso praktizierender Katholik ist, als Vertreter einer »nihilistischen« Partei aufs Schärfste angriff. Der Vorsitzende des Episkopats, Erzbischof Michalik, gab unlängst kund, dass es jedem Katholiken klar sein müsse, welcher Kandidat die Linie der Kirche vertrete. Diese Kampagne erwies sich als äußerst riskant. Nicht nur, weil der Kandidat der Kirchenmänner wieder einmal verlor, sondern vor allem angesichts der öffentlichen Wahrnehmung der Kirche, die sich in das politische Leben einmischt. Meinungsumfragen zufolge wünschen die Polen mehrheitlich kein derartiges Engagement. Der Soziologe und Wahlforscher Radosław Markowski stellt fest, dass die Zustimmung zu der Meinung, dass die Kirche »eine große gesellschaftliche Rolle in Polen spielen sollte«, radikal schwindet – und das selbst bei den Anhängern von PiS. In einem Artikel in der Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« im Juli 2010 weist er darauf hin, dass neben der restriktiv-moralischen Grundhaltung auch die zunehmende konservativ-nationalistische (in Polen vielfach als »patriotisch« verklärte) Rhetorik der kirchlichen Sprache bei der Mehrheit der Gläubigen keinen Anklang findet.
Die für das patriotisch-klerikale Lager verlorene Präsidentschaftswahl hatte im Sommer 2010 noch ein dramatisches Nachspiel. Pfadfinder hatten auf dem Platz vor dem Präsidentenpalais ein schlichtes Kreuz als spontanes Zeichen ihrer Trauer errichtet. Dies war nach der Katastrophe ein in Polen nicht seltener Ausdruck patriotischer Gefühle. Während aber viele andere Symbole nach und nach entfernt wurden, blieb dieses Kreuz stehen, bis der neue Präsident Komorowski es versetzen wollte. Dagegen äußerte sich der spontane Protest der »Verteidiger des Kreuzes«, die Tag und Nacht bei ihm ausharrten und es dadurch im ganzen Lande zum Streitgegenstand machten. Gemäß einer Vereinbarung zwischen den Pfadfindern, der Präsidialkanzlei und der Kirchenleitung sollte das Kreuz zunächst in die benachbarte St. Annen-Kirche gebracht werden. Doch die von Priestern angeführte Prozession wurde von katholischen Hardlinern gestoppt. Während das Episkopat sich klammheimlich aus der Affäre zurückzog, richteten sich die Proteste gegen den Präsidenten, der nicht nur gegen das Gedenken an seinen heldenhaft verstorbenen Vorgänger verstoßen, sondern auch gleichzeitig die Hand gegen ein christliches Symbol erhoben habe. Schnell zeigte sich, dass es sich bei der Aktion um eine Manipulation des sacrum für politische Zwecke handelte: Es schlug die Stunde der »wahren« Patrioten, die überzeugt davon sind, dass »Tusk und Putin das Verbrechen vorbereitet haben. Sie haben unseren Präsidenten umgebracht.« (in: Gazeta Wyborcza, 17.–18.7.2010, S. 10–11). Auch Parallelen zur Zeit der Kirchenverfolgung unter den Kommunisten wurden laut.
In diesem Streit offenbarten sich die aktuelle Zuspitzung der Debatte über die Grenzen des Einflusses der Kirche auf Politik und Gesellschaft sowie die Schwäche der Kirchenoberen. Gleichzeitig setzte er eine neue Debatte über die Notwendigkeit einer Säkularisierung des polnischen Staates auf die Agenda. So verlangt die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) die Abschaffung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, die Entfernung des Kreuzes aus dem öffentlichen Raum und eine Revision der Rückgabepraxis von verstaatlichen Gütern an die Kirche. Über das Vermögen der Kirche werden neuerdings kritische Bemerkungen laut, die Kirche selbst wird nach und nach zum Zielobjekt einer massiven Kritik. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch der öffentliche Massenprotest: Zum ersten Mal hatten nämlich die Gegner einer kirchlichen Vereinnahmung des Staates einen erfolgreichen Bühnenauftritt, dabei wurde nur sichtbar, was seit Langem im Privaten schon Wirklichkeit war.
Schwächelnde Religiosität
Der Streit um das Holzkreuz in Warschau provozierte am 9. August 2010 eine erste antiklerikale Massenkundgebung nach dem demokratischen Umbruch 1989. Dahinter stand keine Organisation, aber allein die Tatsache, dass Tausende junger Polen sich spontan zu einem »fröhlichen Happening« zusammenfanden, bei dem religiöse Symbole lächerlich gemacht wurden (Kreuz aus Bierdosen), ist Anlass genug, die Situation ernst zu nehmen. Die Manifestation hatte nur wenig mit den Splittergruppen polnischer »Rationalisten« (»Bez dogmatu«), mit der jungen »ideologischen« Linken (»Krytyka Polityczna«) und mit Vertretern sexueller Gleichstellungsbewegungen gemeinsam. Sie kam mehrheitlich aus der katholischen Mitte der Gesellschaft, ihre Mitglieder besuchten noch vor wenigen Jahren den Religionsunterricht, waren Messdiener, gingen auf Wallfahrten. Sie entstand als Reaktion auf die »Bürgerbewegung« der katholischen Fundamentalisten und aus einem überwältigenden Gefühl der Notwendigkeit heraus, sich der Kirche mit ihrem Anspruch, den öffentlichen und politischen Raum in Polen zu bestimmen, entgegenzusetzen.
Statistiken können täuschen: Zwar treffe die Säkularisierung im Sinne eines Rückgangs der kirchlichen Praxis Polens katholische Kirche weniger als die Kirchen anderer stark katholisch geprägter Länder wie Irland, Malta oder Italien, hatte der Soziologe Tadeusz Szawiel 2007 festgestellt. (Das religiöse Polen, das religiöse Europa. In: Polen-Analysen Nr. 22, http://www.laen der-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen22.pdf, 6.11.2007) Doch seit 2008 beschleunigt sich in Polen der Prozess der Säkularisierung. Gleichzeitig beweisen Statistiken einen langsamen, aber steten Rückgang der messbaren religiösen Praktiken polnischer Katholiken. Die 2010 veröffentlichten Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Die Zahl der praktizierenden Gläubigen, vor allem in den Großstädten, geht sprunghaft zurück: Waren es 2006 in Warschau 72 %, so sind es jetzt nur 60 %. Gleichzeitig wächst die Anzahl der Nicht-Praktizierenden von 11 % 2006 auf 17 % 2010 (so in der Tageszeitung »Rzeczpospolita« vom 10.6.2010 zu lesen). Dies sieht in der Provinz anders aus, aber nicht überall. Man kann eine Landkarte der Säkularisierung erstellen: In Großstädten wie Warschau und Lodz sowie im Westen Polens nimmt die statistisch erfassbare religiöse Praxis stark ab. Den Gegenpol bildet die Diözese Tarnów mit über 90%iger Teilnahme an religiösen Praktiken sowie der landesweit höchsten Quote an geistlichen Berufen (gleichzeitig zählt die Region zu den ärmsten und rückständigsten in Polen).
Besonders dramatisch ist der Rückgang der Religiosität unter Jugendlichen, der ersten Generation nach dem Krieg, die den Religionsunterricht in der staatlichen Schule und nicht in einem Gemeindesaal genoss. Hier macht sich der Autoritätsverlust der Kirche am meisten bemerkbar. Die Enttäuschung über die Unbeweglichkeit der kirchlichen Lehre und den sprachlichen Duktus der Katechisierung ist enorm. Der katholische Journalist Szymon Hołownia meint, dass die Kirche nicht mehr als Zufluchtsort gebraucht werde, dass ihre in der Elterngeneration noch stark verankerte gesellschaftliche Position bei Jugendlichen nicht mehr zähle: »Der Glaube wird zum ersten Mal nicht mehr vererbt, er wird künftig aus freien Stücken von wenigen Gläubigen bewusst gewählt.« Vergessen ist die nach dem Tod des polnischen Papstes apostrophierte »Generation JPII«. Junge Polen deklarieren immer noch einen hohen Grad an »Gläubigkeit«, gehen aber gleichzeitig auf Distanz zu den Praktiken des Glaubens und zur institutionellen Kirche. Sie sind in einem demokratischen Land groß geworden und kommen mit den Regeln des Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft gut zurecht und lehnen von daher den allumfassenden Anspruch der Kirche ab. Dem folgen selbst bei einer deklarierten »Gläubigkeit« erstaunliche Befunde der Meinungsforschung, nach denen die Jugendlichen (auch die, die sich als »stark gläubig« bezeichnen) immer weniger von den Lehren der Kirche halten und ihre antiquierte Haltung in praktischen Lebensfragen ablehnen, während die Akzeptanz für Sex vor der Ehe, Paare ohne Trauschein, Scheidungen oder Homosexuelle wächst. Die Soziologin Beata Łaciak meint in einem Artikel in der »Gazeta Wyborzca« im August 2010: »Die Polen deklarieren oft eine konservative Grundhaltung, aber in der Praxis werden sie immer toleranter und lehnen mehrheitlich die Mahnungen der Kirche ab, zumindest im Bereich der Moral und des Privatlebens.« So beginnen sich die Zeiten zu ändern.