Die polnischen Selbstverwaltungswahlen 2010. Bedingungen, Verlauf und Ergebnisse

Von Marcin Waszak, Jarosław Zbieranek (beide Warschau)

Zusammenfassung
Die Bedeutung der Selbstverwaltungswahlen hat sich seit der Einführung von Reformen im Jahr 1999, die die Dezentralisierung der territorialen Selbstverwaltung zum Ziel hatten, erheblich vergrößert. Seitdem besteht ein neues dreistufiges Modell der territorialen Selbstverwaltung. Dieses bilden Gemeinden (derzeit 2.521), Kreise (derzeit 379) und 16 Woiwodschaften. Das Ziel der Reformer war, dass die Kompetenzen der einzelnen Selbstverwaltungsebenen einander ergänzen. Die unterste Einheit der territorialen Selbstverwaltung ist laut Verfassung die Gemeinde. Die Gemeinde übernimmt alle diejenigen Aufgaben für die lokale Gesellschaft, die nicht den Selbstverwaltungen der Kreise und Woiwodschaften vorbehalten sind. Die Selbstverwaltung der Woiwodschaft ist verantwortlich für Regionalpolitik und die Nutzung von Finanzmitteln der Europäischen Union. Die Kreise wiederum befassen sich mit allen den Aufgaben, die die Möglichkeiten der einzelnen Gemeinden übersteigen. Die Ergebnisse der Selbstverwaltungswahlen 2010 verfestigten die Teilung der politischen Bühne in vier große parlamentarische Gruppierungen, d. h. PO, PiS, SLD und PSL. Sichtbar wurde aber auch, dass die parteiunabhängigen Kandidaten auf den Ebenen unterhalb der Woiwodschaftslandtage stark vertreten und erfolgreich waren.

Auf der Gemeindeebene werden für die Landgemeinden Gemeindevorsteher und der Gemeinderat, für die Stadtgemeinden die Bürgermeister (bzw. in den größeren Städten die Stadtpräsidenten) und der Stadtrat in allgemeinen Wahlen bestimmt. Seit 2002 sind außerdem direkte Wahlen der ausführenden Organe, Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten, verbindlich, die sich einem zweiten Wahlgang unterziehen müssen, wenn die Unterstützung für den betreffenden Kandidaten im ersten Wahlgang weniger als 50 % betrug. Auf der Ebene der Kreise und Woiwodschaften werden nur die Vertreter der Gemeinderäte und der Woiwodschaftslandtage (Sejmiki) in direkten Wahlen gewählt. Das Kreisrecht gilt in Polen für diejenigen größeren Städte, die vor der neuen Verwaltungsstruktur aus dem Jahr 1999 Woiwodschaftshauptstädte waren. Die Präsidenten dieser Städte werden ebenfalls in direkten Wahlen bestimmt. Die Hauptstadt Warschau besitzt seit dem Jahr 2002 eine eigene Verwaltungsstruktur, nach der jeder Stadtteil einen Gemeinderat und einen Bürgermeister stellt.

Die Selbstverwaltungswahlen finden alle vier Jahre statt. Das aktive und passive Wahlrecht für die Organe der territorialen Selbstverwaltung erhalten die polnischen Staatsbürger mit dem 18. Lebensjahr. In den Gemeinderatswahlen haben auch Bürger der Europäischen Union, die nicht die polnische Staatsbürgerschaft besitzen, das aktive und passive Wahlrecht. Hier gilt die Einstufung nach dem ständigen Wohnsitz, d. h. das Recht, ihre Vertreter zu wählen, haben diejenigen, die einen ständigen Aufenthaltsstatus im Wirkungsbereich des betreffenden Organs besitzen. In den Wahlen 2002, 2006 und 2010 wurden die Mandate proportional zu der Verteilung der Wählerstimmen vergeben. Eine Ausnahme waren die Wahlen zu den Gemeinderäten in Gemeinden, die weniger als 20.000 Einwohner zählten, dort wurde das Mehrheitswahlrecht angewendet.

Obwohl seit der Verwaltungsreform schon zwölf Jahre vergangen sind, bewirkt die äußerst komplexe Struktur der territorialen Selbstverwaltung, dass ein großer Teil der Wähler sich nicht seiner staatsbürgerlichen Rechte bewusst ist. Sowohl fehlende Informationskampagnen als auch das fehlende Wissen zu diesem Thema erschweren dem durchschnittlichen Wähler, die Mechanismen der Selbstverwaltung und die Regeln der Wahl ihrer Organe zu durchschauen.

Die niedrige Wahlbeteiligung scheint diese Einschätzung zu bestätigen. In den ersten Wahlen nach Einführung des neuen Verwaltungssystems im Jahr 2002 betrug die Wahlbeteiligung nur 44,12 % bei den Gemeinderatswahlen, 44,24 % für die Woiwodschaftslandtage, 49,48 % für die Kreisräte und 41 % für die Stadtteilräte der Hauptstadt. Bei den Wahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten betrug die Beteiligung im ersten Wahlgang 44,24 % und im zweiten Wahlgang 35,02 %. Im Jahr 2006 hat sich die Wahlbeteiligung wenig verbessert. Seit 2006 erfasst die Staatliche Wahlkommission (Państwowa Komisja Wyborcza – PKW) die Wahlbeteiligung gesondert für die Gemeindewahlen in Orten bis zu 20.000 Einwohner (2006: 50,07 %) und über 20.000 Einwohner (44,86 %), für die Stadträte in Städten mit Kreisrecht (39,95 %), für die Kreisräte (48,03 %), für die Woiwodschaftslandtage (45,91 %), für die Stadtteilräte in Warschau (52,96 %) sowie für die Wahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten (erster Wahlgang 45,91 %; zweiter Wahlgang 39,69 %). Die durchschnittliche Frequenz betrug im Jahr 2006 45,99 %. An dieser Stelle muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass Polen ein Land mit einer traditionell niedrigen Wahlbeteiligung ist – auch im Vergleich zu anderen »jungen« Demokratien in Ostmitteleuropa.

Auch wenn man die polnischen Selbstverwaltungswahlen mit den Wahlen zum Sejm, dem gesamtpolnischen Parlament, oder für das Amt des Staatspräsidenten vergleicht, zeigt sich, dass die Polen erstere am wenigsten enthusiastisch wahrnehmen. Da im Jahr 2010 sowohl vorgezogene Präsidentschafts- als auch Selbstverwaltungswahlen stattfanden, ließ sich der Unterschied leicht feststellen: An den Wahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten nahmen um über 7 % weniger Wahlberechtigte teil als am ersten Wahlgang der Präsidentenwahl. Das geringe Wissen der Polen über die Selbstverwaltungswahlen bestätigen auch die Untersuchungen des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP), die 2010 einen Monat vor den Wahlen durchgeführt worden sind. Auf die Frage, wer in den anstehenden Wahlen gewählt werden wird, hat die Mehrheit (61 %) korrekt Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsident genannt. Dies bestätigt die These der für polnische Verhältnisse außergewöhnlichen Popularität und Medienpräsenz dieser Wahlen. Deutlich weniger Befragte nannten die Gemeinderäte (28 %), die Stadträte (20 %) und die Kreisräte (18 %). Nur 7 % der Befragten waren sich der Tatsache bewusst, dass sie in den Selbstverwaltungswahlen auch die Möglichkeit haben werden, ihre Vertreter für den Woiwodschaftslandtag zu bestimmen. Damit wird folgende Tendenz bestätigt: Je weiter die Selbstverwaltung von ihren Adressaten entfernt tätig ist, desto geringer ist das Wissen der Bürger über jene und desto weniger machen die Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch.

Interessant ist außerdem, dass seit den Selbstverwaltungswahlen 2002 eine große Anzahl ungültiger Stimmen registriert wird. Der Wähler nimmt die Wahlzettel in Empfang, aber er lässt manche leer und wählt nicht alle zur Wahl stehenden Organe. Man kann die Hypothese aufstellen, dass der Wähler für die Organe seine Stimme abgibt, die er kennt. In den Jahren 2002 und 2006 wurden bei den Wahlen der Woiwodschaftslandtage die meisten ungültigen Stimmen gezählt.

Der Wahlkampf vor den Selbstverwaltungswahlen 2010

Die Selbstverwaltungswahlen 2010 fanden im Schatten eines verschärften politischen Kampfs auf der gesamtpolnischen Bühne statt. Die Radikalisierung der gesellschaftlichen Stimmung und die tiefe Spaltung der Gesellschaft, die besonders deutlich nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April zum Ausdruck kam, führten zu Brüchen innerhalb der großen politischen Parteien. Die Bürgerplattform (Platform Obywatelska – PO) verließ der medienpräsente Abgeordnete Janusz Palikot, der die Geburt einer neuen liberalen politischen Bewegung erklärte und mit antiklerikalen Slogans auftrat, die auf die Haltung der Kirche nach dem Unglück von Smolensk gerichtet waren. Noch viel schwerwiegender war der Bruch bei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS), der kurz vor den Selbstverwaltungswahlen stattfand. Die Partei, die vom Bruder des verunglückten Staatspräsidenten, von Jarosław Kaczyński, geführt wird, verließen 15 prominentere Mitglieder, die sich damit u. a. gegen die scharfe politische Rhetorik des Parteivorsitzenden wandten. Aus PiS traten außerdem einige Europaabgeordnete aus. Fast alle »Sezessionisten« waren an der Wahlkampagne von Jarosław Kaczyński für das Amt des Staatspräsidenten aktiv beteiligt gewesen und hatten dessen in dieser Phase gedämpftere Auftritte und seine versöhnliche, mildere Rhetorik befürwortet. Allerdings hat der Parteivorsitzende nach diesen Wahlen, die trotz einer knappen Niederlage als Erfolg für Kaczyński und sein Wahlkampfteam interpretiert wurden, wieder die Strategie des Konflikts aufgenommen. Dazu gehört, dass er u. a. die Art der Durchführung der Untersuchung des Flugzeugabsturzes von Smolensk in Frage stellte und sogar die polnische Außenpolitik. Als Folge des Bruchs in PiS entstand eine neue parlamentarische Gruppierung – Polen ist das Wichtigste (Polska jest Najważniejsza – PJN). So hatte zuvor das Wahlkampfmotto von Jarosław Kaczyński für die Präsidentenwahlen geheißen.

Die Probleme von PiS wurden zum größten Medienereignis der letzten Wochen vor den Selbstverwaltungswahlen, was den Wahlkampf selbst in den Hintergrund rückte. Mit Sicherheit blieb dies nicht ohne Einfluss auf das Wahlergebnis der beiden größten Parteien (PO und PiS), obgleich paradoxerweise sowohl die Bewegung von Janusz Palikot als auch PJN nicht imstande waren, sich als Parteien zu konstituieren, und keine eigenen Kandidaten aufstellten. Als Prognose für die erwarteten Ergebnisse der Selbstverwaltungswahlen wurden die Meinungsumfragen zur Beliebtheit der wichtigsten Parteien gehandelt. Diese stellten in Aussicht, dass der Koalitionspartner der PO, die Polnische Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), eine außergewöhnlich geringe Unterstützung erfahren werde, die um die 5 % liegen werde (die 5 %-Hürde muss für den Einzug in die Parlamente genommen werden). Die PSL erinnerte sich zudem noch an das extrem schlechte Ergebnis ihres Vorsitzenden Waldemar Pawlak in den vorangegangenen Präsidentenwahlen (er hatte nur 1,75 % der abgegebenen Stimmen erhalten). Dies führte zu der Einschätzung, dass PSL allmählich von der politischen Bühne verschwinden werde.

Im Verlauf des Wahlkampfs wurde deutlich, wie erschöpft die Politik und wie ermüdend der andauernde politische Kampf zwischen den beiden dominierenden Parteien war, der nach der Katastrophe von Smolensk in eine weitere Runde eingetreten war. Daher traten unabhängige lokale Wahlkomitees vor allem mit dem Slogan der Entkoppelung der Selbstverwaltungen von den Parteien auf. Den Parteikandidaten für die Selbstverwaltungen wurde die Abhängigkeit von der Parteizentrale und die Unfähigkeit, die wirklichen Probleme der Einwohner zu lösen, vorgeworfen. Ebenso wurde darauf hingewiesen, dass die Parteien ihre Unterstützung in den Selbstverwaltungswahlen auf ihre organisatorische Überlegenheit sowie ihren Zugang zu den öffentlichen Finanzmitteln (die größten politischen Parteien in Polen erhalten Subventionen) und den Medien gründen. Dem Anti-Parteien-Tenor, der im Wahlkampf herrschte, schloss sich paradoxerweise auch die regierende PO an. Der zentrale Slogan ihrer Wahlkampagne lautete: »Lasst uns nicht Politik machen… « – »lasst uns Brücken/Straßen/Polen bauen« – so wurde der Satz beendet.

Die Kandidaten der in ganz Polen vertretenen Parteien dominierten v.a. in den Wahlen zu den Woiwodschaftslandtagen. Auf dieser Ebene wurden 75 % der Kandidaten von Parteien und nur 25 % von unabhängigen Wahlkomitees aufgestellt. Je niedriger die Ebene der Selbstverwaltung, desto mehr änderte sich dieses Verhältnis zugunsten der unabhängigen Kandidaten. In den Wahlen zu den Kreisräten starteten bereits 44 %, in den Gemeinderatswahlen 55 % und in den Gemeinderatswahlen in den Städten mit bis zu 20.000 Einwohner sogar 70 % für unabhängige Listen (auf letzteres hatte wesentlichen Einfluss, dass in diesen Gemeinden das Mehrheitswahlrecht zur Anwendung kommt).

Mehrheitlich kandidierten Männer für die Selbstverwaltungswahlen. Frauen besetzten nur 31 % der Listenplätze für die Woiwodschaftslandtage und Kreis- und Gemeinderäte. Noch geringer war der Anteil der Frauen als Kandidatinnen zu den Wahlen für die Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten; hier wurden nur 14 % Frauen aufgestellt. Andererseits war aber der Anteil der Frauen, die sich für die Wahlen aufstellten, höher als in den Jahren 2006 und 1998.

Über die Beteiligung der Frauen am politischen Leben wurde im Jahr 2010 intensiv debattiert. Die Diskussion wurde v.a. durch den Vorschlag hervorgerufen, ein Gleichstellungsgesetz (oder eine Quotenregelung) für die Wahllisten der Selbstverwaltungs- und Parlamentswahlen einzuführen, nach dem Männer und Frauen jeweils die Hälfte der Plätze garantiert erhalten sollten (bzw. bei der Quotenregelung mindestens 35 % der Listenplätze jeder Gruppierung). Letztendlich war es jedoch nicht gelungen, vor den Selbstverwaltungswahlen 2010 eine juristische Lösung zu finden, die die Frage der Beteiligung von Frauen in der Politik reguliert.

Die Wahlergebnisse

Die Wahlen der Woiwodschaftslandtage, Kreis- und Gemeinderäte sowie der erste Wahlgang für die Wahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten fanden am 21. November 2010 statt. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung betrug 47,32 %, was die höchste Frequenz in der Geschichte der Selbstverwaltungswahlen in Polen ist. Die Wahlbeteiligung lag im einzelnen bei: Gemeinderäte von Städten bis zu 20.000 Einwohner: 52,23 %, Gemeinderäte von Städten über 20.000 Einwohner: 46,41 %, Stadträte in Kreisstädten: 40,56 %, Kreisräte: 50,07 %, Woiwodschaftslandtage: 47,26 % , Gemeindevorsteher-, Bürgermeister- und Stadtpräsidentenwahlen: 47,32 %, Warschauer Stadtrat: 48,28 % , Warschauer Stadtteilräte: 48,31 %. Im zweiten Wahlgang der Wahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten am 5. Dezember 2010 gaben bereits viel weniger ihre Stimme ab, nämlich nur 35,31 %.

Bei den Selbstverwaltungswahlen 2010 wurden erneut viele ungültige Stimmen abgegeben: 1,6 % der Stimmzettel für die Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten, 5 % der Stimmzettel für die Gemeinderatswahlen, 8 % der Stimmen für die Kreisräte und sogar 12 % bei den Wahlen der Woiwodschaftslandtage (das sind fast 2 Millionen Stimmen!).

Die Ergebnisse zeigen, dass in Vertretungskörperschaften, bei denen das Verhältniswahlrecht zur Anwendung kommt, die Parteien die größten Erfolge haben. In den Gemeinderatswahlen der Städte mit über 20.000 Einwohner erhielt PO 19,77 % der Stimmen, PiS 14,38 %, die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) 8,15 % und PSL 3,69 %. Insgesamt also erhielten die vier großen Parteien 45,99 % aller Mandate in den Gemeinden. Noch stärker war die Vertretung der Parteien auf der Ebene der Gemeinderäte: PO erhielt 20,11 % der Stimmen, PiS 18,33 %, PSL 14 % und SLD 9,17 %. Insgesamt fielen diesen Parteien 61,61 % der Mandate zu.

Das eigentliche Versuchsgelände für die Parlamentswahlen im Jahr 2011 sollten aber die Wahlen zu den Woiwodschaftslandtagen werden, bei denen die spezifisch lokalen Wahlkomitees die geringste Rolle spielen. Hier erlangten die vier großen Parteien 85,44 % der abgegebenen Stimmen, davon PO 30,89 %, PiS 23,05 %, PSL 16,3 % und SLD 15,2 %. Abgesehen von PiS verbesserten alle anderen Parteien ihre Ergebnisse von 2006. Eine kleine Sensation war das Ergebnis von PSL, die mehr Mandate auf sich vereinigte als die SLD, die drittstärkste Kraft im polnischen Parlament, und damit besser abschnitt, als es die Meinungsumfragen vorausgesagt hatten.

Neben den Parteien kämpften v.a. regionale politische Kräfte um die Sitze in den Woiwodschaftslandtagen. So war es zum Beispiel in der Woiwodschaft Schlesien (Województwo Śląskie), wo die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (Ruch Autonomii Śląska) erstmals drei Landtagsmandate erlangte. In der Woiwodschaft Oppeln (Województwo Opolskie), einer Region mit einer gut organisierten deutschen Minderheit, hat die Sozial-Kulturelle Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien (Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Niemców na Śląsku Opolskim) sechs Sitze bekommen.

Vergleicht man die Anzahl der Landtagsmandate pro Partei, dann wird deutlich, dass eine Wanderung der Wählerstimmen v.a. zugunsten von PO stattgefunden hat. Der PO ist es gelungen, in 13 von 16 Woiwodschaften die meisten Mandate zu erhalten; vor vier Jahren waren es zehn Woiwodschaften. Außer den westlichen Woiwodschaften hat PO die vormals von PiS dominierten Landtage »eingenommen«, d. h. die in Zentralpolen gelegene Woiwodschaft Lodz (Województwo Łódzkie), das im Süden gelegene Kleinpolen (Województwo Małopolskie) und das nordöstliche Podlachien (Województwo Podlaskie). Vergleicht man wiederum die Ergebnisse der Wahlen zum Woiwodschaftslandtag mit denen für das Amt des Staatspräsidenten einige Monate zuvor, dann wird deutlich, dass dort, wo die Wähler für den Präsidentschaftskandidaten Jarosław Kaczyński gestimmt hatten – Woiwodschaft Masowien (Województwo Mazowieckie), Lodz, Podlachien, Heiligkreuz (Województwo Świętokrzyskie) und Kleinpolen –, PiS dieses Mal nicht die Mehrheit erhielt. PSL bekam wieder am meisten Mandate in der Woiwodschaft Heiligkreuz. PiS hielt die Mehrheit nur in den Landtagen der Woiwodschaft Lublin (Województwo Lubelskie) und Vorkarpaten (Województwo Podkarpackie). Die PO hatte angekündigt, dass ihr natürlicher Koalitionspartner für die Landtage wie im Sejm die PSL sei und eine solche Koalition ist nach der Mandatsverteilung in fast allen Woiwodschaften möglich. In manchen Landtagen wird die SLD das Zünglein an der Waage spielen: Ohne sie wird es schwierig werden, eine stabile Koalition in den Woiwodschaften Niederschlesien (Województwo Dolnośląskie) und Oppeln einzugehen.

Die Wahlergebnisse für die Stadtpräsidenten der 16 polnischen Städte über 200.000 Einwohner waren nicht weiter überraschend. In fünf dieser Städte siegten Kandidaten der PO, in sieben wurden die parteilosen Stadtpräsidenten für eine weitere Amtszeit bestätigt. Eine Ausnahme sind die Städte Radom, wo der von PiS aufgestellte Kandidat die meisten Stimmen erhielt, und Tschenstochau (Częstochowa) und Sosnowitz (Sosnowiec), wo die Kandidaten der SLD gewannen. Den parteilosen Kandidaten in den Großstädten ermöglichte vor allem ihre in ihrer Amtszeit als Stadtpräsidenten gewonnene Popularität den erneuten Wahlsieg. Sie hatten die Einwohner von sich überzeugt und ein unterstützendes Netzwerk aufbauen können. Von den politischen Kommentatoren werden sie »die Partei der bisherigen Präsidenten« genannt, die mindestens zwei bis drei Amtszeiten lang an ihrer starken politischen Position und der Unterstützung der Einwohner gefeilt haben. Zwar hatten sie am Anfang ihrer Karriere im Bereich der Selbstverwaltung Unterstützung in den Parteistrukturen gefunden, aber aufgrund des seit dem Jahr 2002 geltenden neuen Wahlgesetzes erhielten sie mehr Selbständigkeit und lösten sich von »ihren« Parteien. Den »Schlossherren« solcher Metropolen wie Breslau (Wrocław) und Gdingen (Gdynia) war es sogar gelungen, Unterstützungskomitees zu gründen, die ihrerseits für die Stadtratswahlen kandidierten und sogar imstande waren, die Mehrheit der Sitze im Stadtrat zu erlangen. Dies muss jedoch im Zusammenhang der großen Popularität der altgedienten Stadtpräsidenten nicht allzusehr verwundern – in Breslau erhielt der Stadtpräsident 72 %, in Gdingen 87 % der Stimmen. Ein echtes Phänomen auf gesamtpolnischer Ebene ist das Beispiel des Wahlkomitees der Wähler von Rafał Dutkiewicz (Komitet wyborczy wyborców Rafała Dutkiewicza), Stadtpräsident von Breslau, aber doch: Diese Gruppierung wurde die zweitstärkste politische Kraft im Landtag der Woiwodschaft Niederschlesien.

Der Wettkampf um den Sessel des Stadtpräsidenten der Hauptstadt Warschau wurde von den großen politischen Parteien außergewöhnlich ambitioniert betrieben. Zum wiederholten Male gaben die Kandidaten von PO und von PiS den Takt an. Der PO-Kandidatin Hanna Gronkiewicz-Waltz wurde bereits im ersten Wahlgang das Vertrauen für eine zweite Amtszeit ausgesprochen. Dort, wo die Parteien keine Chance hatten, eine bedeutende Anzahl von Stimmen zu erhalten, kämpften sie zumindest um ein positives Image. So war es im Fall von PSL, die zwar keine Chance auf einen Wahlsieg bei den Stadtpräsidentenwahlen in Warschau hatte, aber eine Frau als Kandidatin aufstellte, obwohl sich gerade diese Partei durch einen der niedrigsten Frauenanteile auf den Wahllisten auszeichnet.

Eine eindeutig marginale Rolle spielte in den Selbstverwaltungswahlen in den polnischen Metropolen die PSL, der es nur in einer der 16 größten Städte, in Radom, gelang, einen Sitz im Stadtrat zu erhalten. Analysiert man die gesamtpolnische Statistik der Wahlen der Gemeindevorsteher, Bürgermeister und Stadtpräsidenten im ersten Wahlgang (knapp 3.000 Ämter), so geht daraus hervor, dass nur in 0,7 % der Fälle die gewählten Kandidaten der SLD angehören, in 1,57 % der Fälle der PO, in 1,49 % der Fälle der PiS und in 8,96 % der Fälle der PSL. Vor allem der Posten des Gemeindevorstehers in den Landgemeinden geht häufig an die PSL, die sich als führende politische Kraft auf dem Land hält. PiS, der Hauptkonkurrent der PSL im Kampf um die Wählergunst der Landbevölkerung, verlor das Vertrauen eines Teils der Wähler unmittelbar vor den Selbstverwaltungswahlen und erzielte daraufhin schlechtere Ergebnisse als 2006.

Die politische Bühne nach den Selbstverwaltungswahlen

Viele Kommentatoren haben die Selbstverwaltungswahlen als Stimmungsbarometer für die Parlamentswahlen 2011 gewertet. Jedoch haben die Wahlen zu den Körperschaften der territorialen Selbstverwaltung ihre Besonderheiten und müssen ihre Ergebnisse mit Blick auf Vorausssagen für nationale Wahlen vorsichtig behandelt werden. Die Resultate vom November müssen keine Widerspiegelung in den Wahlen zum Sejm finden. Hier wäre u. a. auf die große Unkenntnis der Polen über die Kompetenzen der territorialen Selbstverwaltung und die Wahlen selbst zu verweisen (das Extrembeispiel sind hier die Wahlen zu den Woiwodschaftslandtagen). Außerdem müssen die in den Räten und Landtagen gebildeten Koalitionen nicht unbedingt die Struktur des gesamtpolnischen Parlaments vorwegnehmen. Manchmal sind sie schlicht der Situation nach der Wahl geschuldet, wie zum Beispiel in Lublin, wo PiS die Mehrheit im Stadtrat erhielt, aber in den Wahlen zum Stadtpräsidenten der PO-Kandidat siegte.

Betrachtet man die Gesamtergebnisse bei den Landtagswahlen, dann ist der Koalitionspartner der PO in der polnischen Regierung, die PSL, drittstärkste politische Kraft mit 15,65 %. In der Woiwodschaft Heiligkreuz hat sie sogar die Mehrheit der Mandate erhalten. Dies Ergebnis lag eindeutig über den Erwartungen und stärkte die Position der Partei von Waldemar Pawlak, die in Umfragen gewöhnlich an der 5 %-Schwelle verharrte. Damit, so scheint es, hat sich auch das Szenario der Marginalisierung der PSL in der Regierungskoalition mit der PO, das von einem Teil der Experten prognostiziert wurde, entschärft.

Die PO siegte in der Mehrheit der Woiwodschaften und erzielte mit 31,4 % das beste Ergebnis in den Wahlen zu den Woiwodschaftslandtagen. Trotz allem stellen die Ergebnisse der PO die These von der ungefährdeten Hegemonialstellung der Partei von Donald Tusk auf der politischen Bühne in Frage, die sich in den Umfragen vor den Selbstverwaltungswahlen und in der Stimmverteilung der letzten Parlamentswahlen zunächst zu bestätigen schien, als der PO ein deutliches Übergewicht über ihre politischen Konkurrenten zugesprochen wurde. Die Ergebnisse der Selbstverwaltungswahlen verfestigten die Teilung der politischen Bühne in vier große parlamentarische Gruppierungen, d. h. PO, PiS, SLD und PSL. Die Parteien Selbstverteidigung (Samoobrona) und Liga der Polnischen Familien (Liga Polskich Rodzin – LPR) sind mittlerweile völlig marginalisiert und haben ihre einstige Position und ihren politischen Einfluss verloren. Ein Teil der Wähler von Selbstverteidigung, die sich v. a. an die ländliche Wählerschaft gewandt hatte, ging zu PSL, womit sich – neben anderen Faktoren – deren außergewöhnlich gutes Ergebnis in den Selbstverwaltungswahlen 2010 begründen lässt.

Für die zukünftigen Selbstverwaltungswahlen in Polen kündigen sich wesentliche Veränderungen an. Mit dem am 5. Januar 2011 verabschiedeten Wahlgesetz wurden zum ersten Mal Ein-Mandat-Wahlkreise auf Gemeindeebene eingeführt. Die Mehrheitswahl, die in diesen Wahlkreisen gilt, ist nach der Absicht des Gesetzgebers ein Schritt zur Vereinfachung der Wahlprozedur, bedeutet aber auch eine Nivellierung des Übergewichts der Parteistrukturen über die Repräsentanten der Selbstverwaltungen. Darüber hinaus wurde eine Quotenregelung eingeführt, die beinhaltet, dass in den Selbstverwaltungswahlen mindestens 35 % der Kandidaten Frauen und mindestens 35 % der Kandidaten Männer sein müssen. Diskutiert wird weiterhin der Vorschlag, ob der Kreisrat direkt gewählt werden soll. Schließlich kann ein Wahlkampf für die Position des Kreisrats die Bürger für die Aufgaben und Kompetenzen der Selbstverwaltung auf Kreisebene interessieren – so das Argument der Befürworter einer Direktwahl.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

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