Donald Tusk, Ministerpräsident aus den Reihen der PO, stammt aus einem stark wertegebundenen Milieu, das er selbst mitaufgebaut hat und in dem er sich immer noch zu Hause fühlt. Aus diesem Milieu kommen auch seine engsten Mitarbeiter und Weggefährten. Es sind dies die Danziger Liberalen, die sich nach wie vor im Umfeld der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift »Przegląd Polityczny« bewegen, die in der Zeit der Volksrepublik illegal gegründet worden war. Tusk ist der Herausgeber eines Sammelbands mit dem selbstbewussten Titel »Die Idee des Danziger Liberalismus« (poln.: Idee gdańskiego liberalizmu), der die wichtigsten Überlegungen und Abhandlungen dieses Kreises vereint und dessen Werteprofil zum Ausdruck bringt. Nach 1989 hatte dieser Kreis versucht, seine theoretischen Leistungen praktisch in die Politik einzubringen und gründete zu diesem Zweck den Liberal-Demokratischen Kongress (Kongres Liberalno-Demokratyczny – KLD). Der Erfolg trat erstaunlich schnell ein und war spektakulär, schlug aber bald in eine empfindliche Niederlage um. Nachdem er 1990 die Staatspräsidentenwahlen gewonnen hatte, übertrug der aus Danzig stammende Lech Wałęsa Jan Krzysztof Bielecki, einem der führenden Danziger Liberalen, das Amt des Ministerpräsidenten – dies hatte vorher Tadeusz Mazowiecki inne. (Bielecki ist zurzeit Vorsitzender des Wirtschaftsrats, eines beim Ministerpräsidenten angesiedelten Beratergremiums.) Nach dem Niedergang des Kommunismus schien der Liberalismus als Ideologie der polnischen Transformation und des neuen politischen Systems zu triumphieren. Allerdings erlitt der KLD mit seinen ostentativen liberalen Parolen in den Parlamentswahlen von 1993 eine spektakuläre Niederlage und scheiterte an der 5%-Hürde. Damit fiel er aus dem parlamentarischen und bald darauf auch aus dem politischen Geschehen heraus. Dieses Ereignis ging in das kollektive Gedächtnis dieses Umfelds als Warnung vor einer allzu deutlichen Ideologisierung der eigenen politischen Offerte und vor einer allzu ideellen Prinzipientreue des politischen Programms ein. Die ideengebundene Haltung wurde von Pragmatismus verdrängt.
Das Projekt der PO, an deren Entstehen im Jahr 2001 Tusk beteiligt war, hatte jedoch noch etwas von diesem liberalen Geist – Widerstand gegen den Etatismus und Zentralismus der politisch Verantwortlichen im Namen eines spontanen Engagements der autonomen Bürger und der von ihnen gestalteten Bürgergesellschaft (was sich auch im Namen der Bürgerplattform widerspiegelte, die zunächst als Verein begann). Die liberale Einstellung zum Individuum, zur Gesellschaft und zum Staat wurde nicht offen zur Schau gestellt. Die Antwort der Gesellschaft war spontan und breit gefächert, die politischen Erfolge allerdings mäßig. In den Parlamentswahlen von 2001 kamen nur knapp 13 % der Stimmen zusammen. 2005, als sowohl Parlamentswahlen als auch Staatspräsidentenwahlen stattfanden, war die Demaskierung des liberalen Gesichts der PO das Hauptmotiv des Wahlkampfs der Brüder Lech und Jarosław Kaczyński (Recht und Gerechtigkeit/Prawo i Sprawiedliwość – PiS). Lech Kaczyński kandidierte für das Amt des Staatspräsidenten und Jarosław Kaczyński war (und ist) Parteivorsitzender von PiS. Dieser doppelte Wahlkampf tobte um die von den Kaczyńskis geprägte Gegenüberstellung »solidarisches Polen« vs. »liberales Polen« und endete mit ihrem doppelten Sieg und der doppelten Niederlage der PO. Tusk war damals als PO-Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten aufgestellt worden. Der Liberalismus schien damit gesellschaftlich diskreditiert und politisch begraben zu sein.
Jedoch endete die Regierung von PiS, die eine kompromittierende Koalition mit Populisten und Nationalisten eingegangen war, von Skandalen begleitet in einer politischen Niederlage. In den vorgezogenen Neuwahlen erhielt die PO massenhaft Unterstützung, die nicht zuletzt auf das Bedürfnis nach einem Antidotum gegen die abschreckenden Leistungen der Brüder Kaczyński zurückzuführen ist. Zum Sieg verhalf der PO insbesondere die neue, junge Mittelklasse, die teilweise als neues Bürgertum bezeichnet wird. Ihr Entstehen und Erstarken ist ein Ergebnis des Transformationsprozesses seit 1989.
Im Verlauf dieser Transformation fand in Polen eine heftige, tief greifende und breit angelegte Umgestaltung der gesellschaftlichen Struktur statt. Die plötzlich verschwindenden und neu entstehenden, schnell schrumpfenden und sich rasch vergrößernden sozialen Gruppen suchten eilig und chaotisch ihre politische Vertretung, was zur Instabilität des Parteiensystems führte sowie zu seiner ebenso plötzlichen wie unkoordinierten Umgestaltung. Die Interessen, Erwartungen und ehrgeizigen Pläne von Gruppen spielten bei dieser Neugestaltung eine größere Rolle als ideelle Überzeugungen oder doktrinäre Präferenzen. Daher gibt es in Polen keine eindeutig konservative Partei (und das in einer stark katholischen Gesellschaft, deren Papst über lange Jahre ein Landsmann war!), ebenso wenig wie eine eindeutig sozialdemokratische (die Linke wurde mit dem Kommunismus assoziiert und repräsentierte die Interessen der post-kommunistischen Elite und der sozialen »post-kommunistischen Waisen«) oder liberale Partei. Die PO will letztere auch nicht sein, zumindest will sie nicht als eine solche betrachtet werden – im Europäischen Parlament gehören ihre Vertreter zur Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) und nicht zur liberalen Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). Im politischen Diskurs im Inland vermeidet sie es, eindeutige ideologische und doktrinäre Aussagen zu treffen und insbesondere den Begriff »Liberalismus« zu verwenden. Das Firmenzeichen der PO wurde ein gemäßigter Pragmatismus, der den Erwartungen der neuen Mittelklasse entspricht, die die gesellschaftliche Basis dieser Partei ist.
Dieser Pragmatismus hat zweierlei Ausprägung. Zum einen ist er nicht ideologisch. Das Motto von Ministerpräsident Tusk und der PO-Regierung ist, konkrete Probleme zu lösen und nicht irgendein komplexes ideelles Projekt umzusetzen. Dies entspricht der neuen Mitteklasse, die wächst und sich festigt und vor allem mehr Stabilität und ruhige Bedingungen für die eigene Entwicklung wünscht als ideologisch motivierte Pirouetten, Auflehnungen oder Kampagnen. Eine solche vorsichtige und zurückhaltende Politik erfordert zumindest keine ideelle Selbstverleugnung der PO-Führung und des Ministerpräsidenten, stimmt sie doch mit dem Modell des liberalen, ideologisch neutralen Staats überein, der die Einmischung in das gesellschaftliche Leben und vor allem in die wirtschaftliche Sphäre einschränkt.
Zum anderen drückt sich der Pragmatismus der PO in der genauen Berücksichtigung der sozialen und politischen Wirklichkeit aus (Pragmatismus = Realismus) sowie in der effektiven Kommunikation mit der Gesellschaft, was als Zeichen zu werten ist, dass die Partei ein professionelles Bild von sich abgibt. Tusk versteht es ausgezeichnet, sich mit der Bevölkerung und den Medien zu verständigen, er besitzt eine natürliche Überzeugungskraft, die diskret von PR-Beratern perfektioniert wird. Das Image des pragmatischen Regierungschefs, der frei von politischem Eifer und ideologischer Verbissenheit ist, kommt weiten Teilen der Gesellschaft entgegen, die zunehmend erschöpft auf die von der Opposition ausgerufenen und geschürten ideologischen Konflikte und Kriege reagieren.
Reicht Pragmatismus aus?
Ein grundsätzlicher Wert des Pragmatismus von Tusk und der PO ist die Gegnerschaft gegenüber ideologischer Verbissenheit, doktrinärem Fanatismus und politischer Hitzigkeit, die von Jarosław Kaczyński, seinen Parteikollegen und seinen Anhängern aggressiv entfacht und ungehemmt demonstriert wird. Das von ihnen offensiv erklärte Ziel ist die Beseitigung des gegenwärtigen politischen und sozialen Systems, das in dem Schlagwort, die III. Republik durch die IV. Republik zu ersetzen, zum Ausdruck kommt. Experten und Kommentatoren diskutieren darüber, ob es sich um eine grundsätzliche Reformierung der Regeln der polnischen Demokratie handeln soll oder schlicht um ihre Beendigung oder zumindest um eine wesentliche Schwächung und Einschränkung. In jedem Fall hat die aufdringliche und aggressive Unterstützung dieses destruktiven Krawalls immer noch abschreckende Wirkung und mobilisiert diejenigen, die die Perspektive politischer Erschütterungen beunruhigt. Die Zahl der Polen, die angesichts des gegenwärtigen politischen, sozialen und ökonomischen Systems so unzufrieden und frustriert sind, dass sie ein radikales Programm, das System zu ändern, unterstützen würden, ist immer noch geringer als die Zahl derjenigen, die an Stabilität und Einschätzbarkeit der Situation und an einer stetigen Entwicklung statt an einem Umsturz interessiert sind. In politischer Hinsicht bedeutet das, dass die PO-Anhänger die Sympathisanten von PiS überwiegen.
Dies kann sich allerdings ändern und ändert sich auch tatsächlich in einem bestimmten Bereich. Eine grundsätzliche Gefahr für die regierende PO kommt von außen und hat mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu tun, die das gesellschaftliche Bedürfnis nach Stabilität und die Entwicklungsperspektive berühren – auch wenn es Polen gelungen ist, der Rezession zu entgehen, was ein wesentlicher Erfolg der Regierung Tusk ist. Gemäß der Strategie, hastige und breit angelegte Aktionen zu vermeiden, hat die Regierung weder die Wirtschaft mit steigenden öffentlichen Ausgaben stimuliert (nach amerikanischem Muster) noch hat sie sie mit Einsparungen beschnitten (nach britischem Muster oder wie die Länder, die von der Krise am stärksten betroffen sind wie Griechenland und Portugal). Die wirtschaftliche Verlangsamung hat jedoch das Ungleichgewicht in den öffentlichen Finanzen vergrößert und machte Schritte erforderlich, die zwar nicht übereilt, aber doch entschieden und zügig zu Sparmaßnahmen führten, was sich im Wahljahr auf die gesellschaftliche Unterstützung der Regierungspartei auswirken kann. Die heftige Debatte, die von der gesetzlich verabschiedeten Beschränkung der Einzahlungsbeiträge der Versicherten auf die individuellen Rentenkonten ausgelöst wurde, machte nicht nur eine objektiv vorhandene Bedrohung und Anspannung im Bereich der öffentlichen Finanzen bewusst, sondern auch eine teilweise Einschränkung und Bedingtheit der Finanzpolitik der Regierung – beispielsweise die Unfähigkeit, Reformen bei der verschwenderischen und kontraproduktiven Unterstützung der Landwirtschaft durchzuführen, was auf die ablehnende Haltung des Koalitionspartners, der Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe – PSL), zurückzuführen ist. Die hohe Inflation, ein Ergebnis äußerer Faktoren, wirkt sich in Form steigender Preise aus und verschlechtert die Stimmung in der Bevölkerung. Die Regierung Tusk kommt recht gut mit der Krise zurecht, die weder sie noch Polen verschuldet hat, aber im gesellschaftlichen Bewusstsein bleiben der Eindruck von Schwierigkeiten und das Gefühl von Instabilität zurück, was mit den Erwartungen an die PO-Regierung nicht harmoniert.
Als besonders ungünstig für die Regierungspartei kann sich eine Politik erweisen, die sich auf die laufenden Regierungsgeschäfte und die Lösung konkreter Probleme beschränkt, wenn ihre Verwaltungstätigkeit als inkompetent und die Probleme als ungelöst bewertet werden. Dies droht insbesondere dem Programm der Modernisierung der Infrastruktur. Die Einsparungen im öffentlichen Haushalt, aber auch die organisatorischen Unzulänglichkeiten verzögern und beschränken den Ausbau des Autobahnnetzes, und die offenkundige Inkompetenz und das Fehlen eines strategischen Entwicklungskonzepts haben die Polnische Staatsbahn PKP ruiniert. Wenn sich herausstellt, dass die Regierung Probleme mit dem Autobahnbau und der Modernisierung der Bahn hat, kann das Image der pragmatischen Technokraten ernsthaft leiden. Eine Politik der kleinen Schritte bedeutet, dass die möglichen Erfolge auch nur klein sind. Das Fehlen großer Projekte zieht auch ein Fehlen großer Errungenschaften nach sich. Auch wenn es zahlreiche kleine Erfolge gäbe, würde ihre Summe trotzdem nicht einen so starken Eindruck hinterlassen wie eventuelle spektakuläre Leistungen in einigen neuralgischen Bereichen. Zwar schützt dies auch vor großen Niederlagen, aber es kann den Eindruck eines unzureichenden Entwicklungstempos hervorrufen.
Eine unzufriedene Wählerschaft…
Enttäuschung und Ungeduld zeigten sich in zwei Gruppen, die als besonders starke PO-Unterstützer gelten: bei den Stars und Sternchen der Massenkultur und bei den Wirtschaftsexperten. Erstgenannte sind sowohl von der geringen Aktivität als auch vom Konservatismus der Regierungsequipe enttäuscht. Zum symbolischen Vertreter, der die Stimmung dieser Gruppe artikuliert, wurde der Chefredakteur der polnischen Ausgabe des »Playboy« Marcin Meller, der seinen Frust öffentlich in den Medien aussprach. Seinen Auftritt, der gleichzeitig mit einigen anderen, gleichermaßen spektakulären stattfand, kann man als Aufstand derjenigen PO-Wähler interpretieren, die in sozialen Fragen liberaler eingestellt sind und die von der PO mehr Courage in gesellschaftlichen und kulturellen Fragen erwarten. Die kritische Haltung der Wirtschaftsexperten verkörpert wiederum Leszek Balcerowicz, der Vater der polnischen Transformation und die Führungsfigur des wirtschaftlichen Liberalismus. Auch wenn seine Kritik an der Übernahme der individuellen Rentenbeiträge aus den kommerziellen Fonds in das öffentliche Rentensystem als zu hart und einseitig bewertet worden ist, stimmen doch viele einflussreiche und meinungsbildende Wirtschaftsexperten dem Vorwurf zu, die Regierung sei in makroökonomischen Dingen übervorsichtig und handele nur kurzfristig orientiert. Die Strategie der kleinen Schritte und der Beschränkung auf die laufende Verwaltungstätigkeit zeige einen unverhohlenen Unwillen, große Reformen anzugehen, und diese seien – so die Meinung vieler Wirtschaftsexperten – notwendig für die polnische Wirtschaftspolitik, insbesondere für die Finanzpolitik, aber auch angesichts der Herausforderungen der noch immer nicht bewältigten globalen Krise und der Erschütterungen in der Europäischen Union, deren Ratsvorsitz Polen ab dem 1. Juli 2011 übernehmen wird.
Die Debatte über den Zustand der öffentlichen Finanzen enthüllte verschiedene Deformationen im Sozialversicherungssystem, zum Beispiel die ungerechtfertigten und ungerechten Rentenprivilegien für bestimmte Berufsgruppen, die Verschwendung bei der Bewilligung und Auszahlung verschiedener sozialer Leistungen und die Unfähigkeit, dies einzuschränken. Der Ministerpräsident und die Regierung sagen fast geradeheraus, dass die Aufhebung derart kostspieliger und unbegründeter Ausgaben aus politischen Gründen schwierig sei, da dies den Widerstand bestimmter sozialer Gruppen hervorrufen und zu einem Verlust an Unterstützung für die Regierungspartei führen könne. Das erlaubt einigen Kommentatoren, auch solchen, die der Politik von Tusk und seiner Regierung wohlwollend gegenüber eingestellt sind, diese des Konjunkturalismus und Opportunismus zu bezichtigen. Die Entstehung und Verfestigung des Eindrucks in der Bevölkerung, dass der Pragmatismus der PO aus Konjunkturalismus und Opportunismus heraus geboren ist und zur Flucht vor der Lösung schwieriger und wesentlicher Probleme führt, kann dem Ansehen der Partei und ihrer Führung immens schaden. Paradoxerweise kann die Abneigung, sich bei irgendeiner sozialen oder Berufsgruppe unbeliebt zu machen, zu Ernüchterung in der wichtigsten Gruppe führen, nämlich in der neuen Mittelklasse, die von der übervorsichtigen Politik der Regierung enttäuscht wird und die das Gefühl beschleichen kann, dass ihre Erwartungen ignoriert werden, weil sich die PO-Politiker ohnehin sicher wähnen, dass sie von dieser Gruppe gewählt werden. Meinungsumfragen zeigen, dass die Akzeptanz für soziale Privilegien sinkt und diese immer häufiger als unverdient und ungerecht bewertet werden, während die Zustimmung, sie aufzuheben oder zu beschränken, steigt.
Seit kurzem gibt es Signale aus Regierungskreisen, dass Lehren aus dieser Situation gezogen werden. Eine der deutlichsten ist die Ankündigung einer grundsätzlichen Reform des außergewöhnlich großzügigen, nachgerade verschwenderischen Rentensystems der unifomierten Dienste. Dass dieser Vorschlag einige Monate vor den Parlamentswahlen im Herbst gemacht wird, suggeriert ein Umschwenken in der Taktik, alle heiklen Fragen zu umgehen. Nun sollen mutigere Lösungen gefunden werden, um der Regierungspartei das Image von Standhaftigkeit zu geben.
… die passiv ist
Es ist allerdings zweifelhaft, ob der aggressiven Kampagne der Opposition wirksam Widerstand geleistet werden kann, ohne die eigene Wählerschaft zu mobilisieren und mit einer attraktiven und überzeugenden Vision zu packen. Jarosław Kaczyński und seine Umgebung haben so eine Vision, die ihre Wähler mitreißt, auf einer national-katholischen Ideologie aufgebaut. Die Frage ist, ob deren Gegenpart eine andere Vision sein sollte oder überhaupt keine Vision. PiS hat ihr »Großes Projekt« formuliert, das sich auf diese Vision und eine ideologische Grundlage stützt. Die PO steht vor dem Dilemma, diesem entweder ein eigenes »großes Projekt« entgegenzusetzen oder ein solches nicht zu haben bzw. die Notwendigkeit zu bestreiten, ein solches Projekt zu brauchen. Die zweite Lösung, die bisher eindeutig bevorzugt und sogar geradeheraus benannt wurde, hat den Nachteil, dass sie keine mobilisierende Kraft in sich birgt. Bisher hat die Angst vor der Vision von PiS und vor den von ihr unterstützten Projekten die mobilisierende Rolle übernommen. Die Wählerschaft der PO wurde durch die Gefahr von Seiten PiS aktiv, also durch eine negative Motivation. Es ist nicht klar, ob das Gefühl von Gefahr seine mobilisierende Kraft bis zu den Wahlen in diesem Herbst beibehält, insbesondere da die PiS-Regierung in den Jahren 2005 bis 2007 im Gedächtnis der weniger politisch interessierten und engagierten Wähler bereits verblasst und sich für die jüngste Wählergeneration keine persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen damit verbinden. Die vergangenen Wahlen hat die PO dank der beispiellosen Mobilisierung der großstädtischen liberalen Wählerschaft gewonnen, die genug von der streitsüchtig-populistischen Regierung der Kaczyńskis hatte. Nach dem tödlichen Unfall des Staatspräsidenten Lech Kaczyński bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010 hat Bronisław Komorowski, der die PO repräsentiert, das Amt des Staatspräsidenten übernommen. Die vorherrschende Einschätzung, dass ein Wahlsieg von PiS in den bevorstehenden Parlamentswahlen unwahrscheinlich sei, die sich in den Umfragen in einigen Prozentpunkten mehr für PO widerspiegelt und auf diese Weise bestätigt wird, hat ebenfalls einen demobilisierenden Einfluss auf die Wählerschaft der regierenden Partei. PiS dagegen hat ein diszipliniertes Wählervolk, das seine Partei leidenschaftlich unterstützt und von den Meinungsumfragen außerdem nicht sonderlich beachtet wird, weil es sich verstärkt in peripheren und medial kaum wahrgenommenen Milieus bewegt. Die Strategen von PiS verschweigen ganz bewusst nicht, dass eine niedrige Wahlbeteiligung ihrer Partei dienen würde, da dies den prozentualen Anteil ihrer Wählerschaft an den abgegebenen Stimmen erhöhen würde.
Varianten einer möglichen Koalition
Bisher hat die Enttäuschung eines Teils der PO-Wähler noch nicht zu einem Anstieg der Unterstützung für PiS geführt. Die beiden Parteien sind zu unterschiedlich und ihre Wähler sind zu gegensätzlich, als dass ein gegenseitiges Abwerben von Wählerstimmen möglich wäre. Die, die von der PO enttäuscht sind, sehen eher die Demokratische Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej – SLD) als Alternative, was seit einigen Monaten in der steigenden Unterstützung in Meinungsumfragen zum Ausdruck kommt: Die SLD liegt bei 15 bis 20 %. In den letzten Parlamentswahlen trat sie im Wählerblock Linke und Demokraten (Lewica i Demokraci – LiD) an, der 13 % der Stimmen erhielt. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die SLD der künftigen Regierungskoalition angehören wird, also entweder der bestehenden Koalition aus PO und PSL beitreten oder die PSL ersetzen wird. Die erste Variante würde zwar eine weniger plötzliche Veränderung bedeuten, aber für die PO die größere Gefahr darstellen, da sie dann zwischen zwei Koalitionspartnern säße, die gleichermaßen fordernde soziale Gruppen repräsentieren: die Landwirte und Landbevölkerung auf der einen Seite und die Arbeiter und die sozial benachteiligte Wählerschaft auf der anderen Seite. Dies könnte zu Lähmung und Stagnation führen und noch größere Enttäuschung bei den ungeduldig gewordenen PO-Anhängern hervorrufen. Der Austausch des gegenwärtigen Koalitionspartners gegen die SLD würde dagegen die Chance eröffnen, die allgemein und ungeduldig erwarteten Reformen in der landwirtschaftlichen Sozialpolitik durchzuführen.
Eine Koalition aus PO und SLD wäre auch unter kulturellem Aspekt kohärenter. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sich die Wähler beider Parteien in vielerlei Hinsicht kulturell näher und miteinander kompatibel sind. In der polnischen Gesellschaft finden immer noch deutliche kulturell-wertebezogene Entwicklungen statt. Der Einfluss der katholischen Kirche verringert sich systematisch und damit verbunden auch der kulturelle Konservatismus, der Rigorismus im Lebensstil und der mentale Traditionalismus. Dagegen schreiten die Laizisierung und die Liberalisierung der zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen voran. Die PO, in der die konservative oder gar kirchennahe Strömung immer noch stark, vielleicht die einzige deutliche ist, läuft Gefahr, die liberalen Tendenzen und Veränderungen in ihrer Wählerschaft zu verfehlen. Ein großer Teil wählte die PO nicht wegen, sondern trotz ihres Konservatismus, um so dem radikaleren Konservatismus von PiS vorzubeugen. Die PO kann für diesen Teil ihrer bisherigen Wähler allmählich zu konservativ werden, ebenso für die Erstwähler, was zur Unterstützung für die SLD führen kann.
Allerdings ruft die Perspektive einer Koalition mit der SLD bereits Unzufriedenheit und Spannungen in der PO hervor, was dazu führen kann, dass ihr konservativer Flügel die Partei auseinanderbrechen lassen kann. Auch aus diesem Grund bevorzugt die PO-Führung die ruhigere Koalitionsvariante, nämlich die Fortsetzung der Regierung mit der PSL. Jedoch balanciert die Bauernpartei auf dem Grat der 5%-Hürde. Es kann sein, dass sie nicht ins Parlament einziehen oder dort nur schwach repräsentiert sein wird. Außerdem ist sie für ihre Illoyalität und ihre Bereitschaft bekannt, mit jedem eine Koalition einzugehen – früher hatte sie schon einmal zusammen mit der SLD regiert. Nicht ausgeschlossen ist daher auch ein Schwenk zu PiS, mit der sie eine ähnliche Wählerschaft aus Kleinstädten und Dörfern verbindet.
Die Strategie für die Wahlen und die EU-Ratspräsidentschaft
Die Parteistrategen der PO bemühen sich, den Abfluss der Wählerstimmen nach links aufzuhalten, indem Politiker der Linken in die eigenen Reihen aufgenommen werden und der eigene linke Flügel gestärkt wird. Das spektakulärste Beispiel war unlängst der Übertritt des bekannten und beliebten SLD-Fraktionsmitglieds Bartosz Arłukowicz in die Regierungspartei. Er erhielt nicht nur einen Posten als Staatsminister beim Ministerpräsidenten, ihm wurde auch der erste Platz auf der Wahlliste der Stettiner PO versprochen. Die Strategie der PO besteht darin, einen möglichst großen Teil der linken Wählerschaft zu halten bzw. aufzunehmen, um einer Regierungskoalition mit der Linken zu entgehen. Der Ministerpräsident und seine Parteikollegen warnen außerdem hartnäckig vor der Möglichkeit einer Koalition aus PiS und SLD, was die linken Wähler, vor allem die der PiS feindlich gegenüber eingestellten, davon abbringen soll, für die SLD zu stimmen.
Die PO rechnet auch mit der bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft Polens, die am 1. Juli 2011 beginnt und in deren Verlauf der heimische Wahlkampf und die Parlamentswahlen stattfinden werden. Die Besuche führender europäischer Politiker und die Beratungen europäischer Gremien in diesem Zeitraum verleihen dem Ministerpräsidenten, seiner Regierung und der Regierungspartei sicherlich viel Glanz. Fachlich steht Polen hinsichtlich der Ratspräsidentschaft allerdings auf einer schwachen Position. Die europäische Agenda wird zurzeit und sicherlich auch in der Zukunft von Fragen dominiert, zu denen Polen nicht viel sagen und vorschlagen kann: die Rettung der Wirtschaft der Länder, die zur Euro-Zone gehören – Polen gehört nicht dazu; die Politik gegenüber den nordafrikanischen Emanzipationsbewegungen und sozialen Migrationen – in diesem Bereich hat Polen keine Erfahrungen und keinen Überblick, schon gar nicht im Vergleich zu Frankreich, Spanien und Italien. Das Beispiel Tschechien zeigt, dass der EU-Ratsvorsitz nicht unbedingt die Position der Regierung im Land stärkt: In Tschechien brach in dieser Zeit eine Regierungskrise aus. Das Beispiel Ungarn zeigt, dass dieses Amt nicht unbedingt spektakulären Nutzen bringen muss: Der ungarische Ministerpräsident wurde bei der Entscheidung über eine Intervention in Libyen, bei der Diskussion über die Möglichkeit einer zeitweiligen Wiedereinführung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum oder bei der EU-Immigrationspolitik praktisch übergangen. So kann es auch Polen geschehen, dass die EU-Ratspräsidentschaft weder eine Stärkung des Regierungslagers noch prestigereiche Erfolge mit sich bringen wird, ganz zu schweigen von fachlichen Erfolgen, die sich von der regierenden Partei für die Wahlen in Polen politisch ausnutzen ließen.
Nach einigen Monaten schwankender oder sinkender Unterstützung für die PO in Meinungsumfragen stabilisiert sich die Lage oder zeigt sich sogar eine steigende Tendenz. Viele Kommentatoren und Experten beziehen das auf den Applaus der Bevölkerung für die energische Aktion von Ministerpräsident Tusk gegen die Fußballhooligans in polnischen Stadien. Entschiedenheit bei der Auseinandersetzung mit aufgestauten und empörenden Problemen erweist sich als politisch profitträchtig. Der Parteichef und die Führung der Regierungspartei müssen bis zu den Parlamentswahlen im Herbst das aktuelle Regierungsgeschäft mit einem mutigeren Vorgehen bei der Lösung der wichtigsten Probleme geschickt verbinden. Noch ist nicht klar, welche der beiden Aufgaben die schwierigere ist.
Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate