Russland und Fukushima

Von Vladimir Slivyak (Moskau)

Zusammenfassung
Nach Fukushima haben offizielle Stellen in Russland immer wieder beteuert, dass russische Atomkraftwerke sicher seien. Dies steht auch in Zusammenhang mit der Absicht Russlands, Atomkraftwerke zu exportieren. Die Ereignisse in Japan könnten sich auf den russischen Export negativ auswirken. Doch auch im Land hat die Atomwirtschaft mit großen Problemen zu kämpfen. Nach Berichten der Umweltgruppe Ekosaschtschita! (EcoDefense!) gibt es in russischen Atomkraftwerken zahlreiche Mängel. Die Sicherheitslage wird sich nicht verbessern, wenn die Präsidialadministration und die Regierung weiterhin versuchen die ganze Welt davon zu überzeugen, dass es keine Probleme in russischen AKWs gibt.

Fukushima in Russland?

Im Mai hat im japanischen Kernkraftwerk in der Präfektur Fukushima eine nukleare Katastrophe begonnen, die bis heute andauert. Ein Erdbeben hat die Reaktoren und die Kühlbecken mit den abgebrannten Brennelementen zwar nicht zerstört, aber es hat der Energieversorgung Schaden zugefügt, so dass das Kernkraftwerk ohne externe Energiequelle blieb und die Kühlsysteme ausfielen. Die nukleare Katastrophe entstand dann aufgrund der fehlenden Energieversorgung der Reaktoren. Dieser Sachverhalt ist zu bedenken, wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, ob sich das japanische Szenario in Russland auch ohne ein vergleichbar starkes Beben wiederholen könnte. Geht man von dem Fall aus, dass von äußerer Energie abhängige Sicherheitssysteme versagen, so kann ein Notfall in jedem Kernkraftwerk eintreten – auch in einem russischen.

Alle russischen Kernkraftwerke befinden sich in der Nähe von Städten mit einer Bevölkerung von mindestens mehreren 10.000 bis zu mehreren 100.000 Menschen. Diese müsste man evakuieren. Die Rede ist hier allerdings nicht von einem hypothetischen Beispiel, sondern von ganz realen Sachverhalten: 1993 beschädigte ein Sturm auf der Halbinsel Kola die Stromleitungen, die Reserve-Dieselgeneratoren des AKW sprangen nicht an und das Werk stand kurz vor einer Havarie, die sich zu einem Unfall wie in Tschernobyl hätte auswachsen können. Des Weiteren wurden im Jahr 2000 wegen einer Störung des Energienetzes die Reaktoren des Kombinats »Majak« im Tscheljabinsker Gebiet sowie das Kernkraftwerk Belojarsk, 60km vor Jekaterinburg, abgeschaltet. In diesen Fällen entging man nur durch großes Glück einem Szenario, welches wir nun vom AKW Fukushima Daiichi in Japan kennen.

Der russische Nukleardiskurs

Im Licht der japanischen Katastrophe sieht die Situation in Russland bedrohlich aus, da sie der in Japan so ähnlich ist. Bis März dieses Jahres empfand man in Russland, genau wie früher in Japan, Diskussionen über die »Unsicherheit« von Kernkraftwerken als Verstoß gegen den guten Ton. Mehrmals im Jahr demonstrierten die Staatsoberen zusammen mit dem Chef von Rosatom, Sergej Kirienko, ihre volle Unterstützung für die Atomenergie als eine der sichersten, günstigsten und ökologischsten Technologien, über die Russland verfügt und die es bereit ist, gegen entsprechende Bezahlung in andere Länder zu exportieren. Dieselben Beteuerungen hören wir auch heute.

Die Realität aber sieht sehr viel düsterer aus als es die Reden der Politiker glauben machen: 22 von 32 der russischen Reaktoren sind alt und unsicher. Sie befinden sich entweder am Ende der 30jährigen Nutzungsfrist, die die Planer festgelegt hatten – oder sie haben diese bereits überschritten. Ähnlich wie in Japan möchte Russland diese Blöcke länger als 30 Jahre nutzen. Die Nutzungszeit aller Reaktoren soll um 15 Jahre verlängert werden – und das ohne ökologische Expertisen, wie sie eigentlich vom Gesetzgeber verlangt werden. Man möchte sich nicht vorstellen, wie eine Wiederholung der japanischen Ereignisse in Russland aussehen würde, aber es sieht ganz danach aus, dass unsere »Chancen« hierfür wachsen.

Mängelrügen für die russische Atomindustrie

Die Atomindustrie Russlands hat sich dagegen bereits vom Fukushima-Schock erholt. Sie ist mit einer Erklärung in die Offensive gegangen, dass es Projekte für neue und sehr sichere Reaktoren gibt, die jegliches Erdbeben überstünden. Die Realität aber sieht anders aus. Allein 2009 (aus diesem Jahr stammen die letzten zugänglichen Daten der Aufsichtsbehörde Rostechnadsor) haben Inspektoren 491 (!) Norm- und Rechtsübertretungen in den Strukturen festgestellt, die für die Projektierung und Herstellung von Anlagen für Kernkraftwerke zuständig sind. Einzelnen Unternehmen wurde wegen niedriger Qualität in der Produktion mit Lizenzentzug gedroht. Auf dem Papier sehen in der Atomindustrie zwar alle Projekte sicher aus, de facto aber ist es so, dass Sicherheit nicht so sehr auf dem Papier anfängt, als mit den realen Defekten des Materials und mit menschlichem Versagen, das man nicht ausschließen kann. Übrigens hat die russische Atomindustrie mehr als 3.000 Mängelrügen wegen der mangelnden Qualität der Anlagen erhalten, die beim Bau des Atomkraftwerks Tyanvan in China geliefert wurden.

In Russland gibt es keinen Druck auf die Atomindustrie, der die Betreiber zu einer Erhöhung der Sicherheit zwingen könnte. Im Gegenteil verstärkt die volle Unterstützung der Atomindustrie durch den Premierminister und den Präsidenten nur die Selbstzufriedenheit im Atomsektor: Wenn die Politiker vollständig auf der Seite von Rosatom stehen, gibt es nichts, über das man sich Gedanken machen müsste. Man kann darüber streiten, welche Reaktoren sicherer sind als andere und ob man sie in einem erdbebengefährdeten Gebiet bauen kann, aber offenkundig ist, dass in Russland von allen möglichen Situationen die denkbar ungünstigste für die Sicherheit von Kernkraft besteht.

Neubau und Vermarktung von Atomkraftwerken

Rosatom verfolgt mindestens drei Projekte in erdbebengefährdetem Gebiet – in Bulgarien, der Türkei und Armenien. Außerdem gibt es ein Projekt für ein schwimmendes AKW, welches planmäßig im nächsten Jahr nach Kamtschatka gebracht werden soll und damit in die Nähe der Tsunamizone. Nicht eine dieser Ideen ist bislang überdacht worden. Stattdessen hören wir nur Beteuerungen, dass alles absolut sicher sei. Die Japaner haben ebenfalls jahrzehntelang solche Behauptungen gehört und daran geglaubt, dass die AKWs zuverlässig gegen Erdbeben und Tsunamis ausgelegt seien – und außerdem gegen Flugzeugabstürze und alles, was noch passieren kann.

Im Zusammenhang mit den neuen Reaktoren VVER-1200, die Rosatom in andere Länder – einschließlich der EU – exportieren möchte, behauptet man, dass es keine Konstruktionsprobleme gibt. Im Fall eines Stromausfalls eines solchen Reaktors allerdings oder einer großen Beeinträchtigung der Wärmeabfuhr (beispielsweise als Folge einer Störung des ersten Kühlkreislaufs) ist ein großer Störfall auch bei diesen Reaktoren möglich. Rosatom aber kann die Mängel des neuen Reaktors nicht ansprechen, müssten dann doch alle Verkaufsversuche gestoppt werden. Die Vervollkommnung des Reaktors aber würde teuer werden und könnte zu einem kompletten Verlust der Rentabilität führen.

Bereits vor Fukushima haben die Preise für neue Reaktoren ein hohes Niveau erreicht: Während sich in den 1990ern Jahren die Kosten eines Blocks für 1.000 Megawatt auf durchschnittlich 1 Mrd. US$ beliefen, so verkauft Rosatom die Reaktoren VVER-1200 heute für ca. 3–5 Mrd. US$ – in Abhängigkeit von den geographischen Besonderheiten des Projektes und außenpolitischen Faktoren. Dieser Preis reicht an den Preis des französischen Reaktors EPR heran, bleibt aber nach wie vor etwas darunter. Nichtsdestotrotz: So teuer die russischen Reaktoren auch sind, bis heute können sich selbst komplett zahlungsunfähige Kunden die Reaktoren leisten, werden die Verkäufe doch fast immer begleitet von einer Kreditvergabe aus dem russischen Haushalt. Diese Tradition, den AKW-Export durch die Lieferanten zu finanzieren, ist vergleichsweise alt. Im Jahr 2000 wurde in einem Spezialbericht zu den Exportkrediten der entwickelten Länder im Bereich der Atomenergie, veröffentlicht am Vorabend der Sitzung der G8, das System der Kreditvergabe zur Unterstützung des Reaktorexports beschrieben. Damals betrug die Gesamtsumme solcher »Hilfen« aus Russland ca. 5 Mrd. US$. Nach äußerst zurückhaltenden Berechnungen ist sie heute 6–8 mal höher. Allein der Türkei versprach man ein AKW mit einem Wert von 20 Mrd. US$ (vollständig auf Kosten der russischen Steuerzahler). Bei allen Krediten sind die Bedingungen für den Käufer des Reaktors äußerst günstig – eingeschlossen recht nebulöser Garantien für die Rückzahlung von Mitteln, die auf Jahrzehnte hinaus gestundet wird.

Die Entwicklung der Atomenergie in Russland

Und nun zum Ausmaß des Entwicklungsprogramms der Atomenergie in Russland selbst: Gemäß unterschiedlicher Angaben plant man den Bau von 20 bis 40 neuen Reaktoren. Die realen Möglichkeiten des Maschinenbaukomplexes erlauben derzeit allerdings allein die Herstellung eines Reaktorkomplexes pro Jahr, weshalb es schwierig ist, sich vorzustellen, wie Rosatom einen solch ambitionierten Plan umsetzen möchte. Dieser Sachverhalt schlug sich bereits im letzten Jahr nieder, als der Rechnungshof nach einer Überprüfung des Energieministeriums mitteilte, dass 60 % der Reaktoren, die bis 2015 ans Netz gehen sollten, erst zu einem späteren Zeitpunkt die Arbeit aufnehmen würden (ein Datum wurde nicht genannt). Anfang dieses Jahres hat Vizepremier Setschin eine Kürzung der Ausgaben für das Investitionsprogramm von Rosatom bekanntgegeben. Dabei geht es natürlich nicht darum, dass die russische Regierung entschieden hat, die Unterstützung für die Atomindustrie zu stoppen. Es ist vielmehr so, dass die genannten Fristen bezüglich des Baus der AKW in Russland wie im Ausland nicht erfüllt werden können. Nichtsdestotrotz: Zurückzutreten vom umfangreichen Atomplan beabsichtigt derzeit niemand – es geht bei alldem lediglich um eine Verzögerung, wenn auch um eine recht lange.

Wie finanziert sich das Programm in Russland? Ein Großteil wird aus dem Staatshaushalt bezahlt. Darüber hinaus soll Rosatom private Investoren heranziehen, die einen beträchtlichen Teil beitragen sollen. Dazu kommt eine weitere Quelle – die eigenen Profite der Staatsunternehmen. Sergei Kirienko hat beispielsweise 2009 bekanntgegeben, dass das Baltische AKW, derzeit im Kaliningrader Gebiet im Bau und bestimmt für den Stromexport in die Europäische Union, auf Kosten von Rosatom und ohne zusätzliche Mittel aus dem Staatsbudget errichtet wird. Tatsächlich aber wird dennoch Unterstützung geleistet – allerdings nicht in Form der Allokation einer Gesamtsumme für das Projekt, sondern durch Zuschüsse an verschiedene Unternehmen, die an der Realisierung des Projekts beteiligt sind. Im Übrigen gibt es eine prinzipielle Bedingung, unter welcher das Projekt scheitern würde: die Absage seitens der europäischen Länder den Strom dieses AKWs zu kaufen. Unmittelbar im Kaliningrader Gebiet gibt es derzeit kein Energiedefizit, und selbst im Fall einer Erhöhung des Energieverbrauchs kann die Versorgung auch durch nichtatomare Quellen gewährleistet werden. Die Energie braucht man deshalb nur für den Export. Und wenn sich herausstellt, dass die Perspektiven hierfür fehlen, dann wird das Projekt mit großer Wahrscheinlichkeit eingestellt.

Exportprobleme nach Fukushima

Nach Fukushima wurde Rosatom der Hoffnungen auf private Investitionen beraubt. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass das Staatsunternehmen eine Reihe von Verträgen verliert, unabhängig von der großen politischen Unterstützung seitens der Regierung und des Präsidenten. Zum jetzigen Zeitpunkt hat Bulgarien die Verhandlungen mit Rosatom über den Bau des AKWs Belene für drei Monate eingefroren, bis zur Bewertung des Projektes durch die Bank HSBC. Dieses Projekt verliert jäh die Chancen auf Weiterführung. Aber schon vor den japanischen Ereignissen haben europäische Investoren das Projekt aktiv boykottiert: Belene befindet sich in einer seismographisch gefährdeten Zone, wo in den 1970er Jahren ein Erdbeben zu großen Zerstörungen führte. Seit 2008 haben 13 große Banken Kredite für das Projekt abgelehnt; die letzte war die eigentlich der Atomindustrie durchaus geneigte französische Bank BNP Paribas. Um Verträge mit Drittstaaten zu erhalten, versucht Rosatom natürlich die Welt davon zu überzeugen, dass die neuen russischen Reaktoren jedes Erdbeben aushalten. Aber steht dahinter etwas anderes als allein kommerzielle Interessen?

Das Projekt in der Türkei befindet sich in einem nicht weniger erdbebengefährdeten Gebiet als das bulgarische. Einerseits hat der türkische Premier Erdogan auf Bitten seines russischen Kollegen Rosatom mit eigenen Erklärungen gestützt. Aber es wäre ein großer Fehler zu glauben, das Schicksal dieses Projekts wäre bereits entschieden. Der öffentliche Widerstand in der Türkei ist derart effektiv, dass seit 30 Jahren keine Regierung des Landes den Bau auch nur eines AKWs in Angriff nehmen konnte. Ein weiteres AKW in einer seismographisch riskanten Zone ist zudem in Armenien geplant. Bislang ist nicht klar, ob es dort zu Planänderungen kommt.

Die Neubewertung der Atomenergie in verschiedenen Ländern der Welt schafft aber nicht nur für solche Kernkraftwerke Probleme, die für stark erdbebengefährdete Gebiete geplant sind. Es wird auch andere Verluste geben. Für Rosatom bedeutet dies, dass sich die Profite verringern werden, und auch die Ressourcen für die Entwicklung in Russland selbst werden sich reduzieren. Von all den verschiedentlich angekündigten Projekten neuer Kernkraftwerke werden nur die lukrativsten bestehen bleiben. Dies sind vor allem solche, die aufgrund ihres geplanten Standpunktes – nah an den Grenzen der EU – die Hoffnung nähren, die Europäer würden sich dazu verleiten lassen, günstige Energie zu kaufen. Viel wird davon abhängen, ob es gelingt in großem Maßstab Atomenergie nach Europa zu exportieren. Ist das nicht der Fall, kann dies den Prozess der langsamen Drosselung der Atomenergie in Russland selbst beschleunigen.

Nukleare Sicherheit in Russland

Spätestens in 10 Jahren verringert sich der Anteil der in russischen Kernkraftwerken produzierten Energie aufgrund der Abschaltung alter Reaktoren, während die Ausgaben für diese Operationen vergleichsweise schnell wachsen und mehrere Dutzend Milliarden Dollar ausmachen werden. Die alten Reaktoren durch neue zu ersetzen ohne einen Rückgang in der Energieproduktion wird nicht möglich sein. Darüber hinaus wird es von einem ökonomischen Standpunkt aus äußerst schwierig sein, die alten Reaktoren durch Blöcke der neuen Generation auszuwechseln – insbesondere bei Ausbleiben privater Investitionen. Geht es um Fragen der Sicherheit muss man daher nicht von den neuen Entwicklungen der russischen Atomindustrie ausgehen, sondern vom Zustand der Reaktoren, die heute am Netz sind.

Nach Fukushima hörte man in Russland viele Verlautbarungen darüber, dass die in den AKWs durchgeführten Kontrollen deren vollkommene Sicherheit bestätigten. Die Regierung hat sich offenbar gefürchtet, die Probleme anzusprechen, um keine Panik unter den Russen zu säen, die recht heftig auf die japanischen Ereignisse reagierten. Letztendlich jedoch drangen Informationen über den tatsächlichen Zustand der Kernkraftwerke aus der Regierung – der sich als so schlecht wie nie erwies.

Am Vorabend des 9. Juni, als die Sitzung des Staatsrats im Beisein von Präsident Medwedew stattfinden sollte, hat die Umweltgruppe Ekosaschtschita! (EcoDefense!) einen Bericht veröffentlicht, der für diese Sitzung angefertigt worden war. Normalerweise werden solche Dokumente nicht öffentlich verbreitet. Die von der Umweltgruppe aus dem Bericht verbreiteten Informationen wurden durch die Präsidialadministration weder bestätigt, noch dementiert. Sie bevorzugte es zu schweigen.

Der Bericht enthält Daten über die Mängel russischer Kernkraftwerke, die sich während der Stresstests gezeigt haben:

»Die Festigkeit (Stabilität) der Baukonstruktionen einer Mehrheit der AKWs entspricht nicht den Forderungen geltender Richtlinien bezüglich der Belastungen, die bei extremen Umwelteinflüssen auftreten können.« Mit anderen Worten: Die Atomreaktoren in Russland sind nicht stabil genug, um verschiedene eventuelle Umweltkatastrophen auszuhalten – einschließlich Erdbeben. »Nicht bei allen Kernkraftwerken ist die automatische Notfallabschaltung im Falle eines Erdbebens einer gegebenen Intensität gewährleistet.« Heißt: Es gibt keinerlei Garantie, dass die vorgeschriebenen Sicherheitssysteme so arbeiten wie gefordert, um dem japanischen Szenario einer Atomkatastrophe zu entgegen. Die Rede ist hier von Fällen, in denen die Erdbeben eine solche Stärke haben, wie sie für die entsprechenden Standorte der AKWs von Wissenschaftlern prognostiziert wurden.»Bestandteile einer Reihe von Reaktorblöcken (z. B. bei den Kernkraftwerken Balakowskaja und Kalininskaja) zeigen Materialermüdung sowie unzulässige Schwankungen von Druck und Temperatur, was zu ihrer Zerstörung führen kann«, und außerdem »die Neigung der Fundamentplatte des Gebäudes mit dem Behälter für abgebrannte Brennelemente des Kursker AKW, offenbart durch geodätische Beobachtungen, kann zu seiner Zerstörung führen«. Einige Reaktoren und Behälter für abgebrannte Brennelemente in Russland können sich also von alleine zerstören – ganz ohne den Einfluss irgendwelcher Erdbeben und anderer Umweltkatastrophen.Während der Krise am AKW Fukushima-Daiichi gab es mehrere Wasserstoffexplosionen. Die Atomblöcke wurden dadurch ernsthaft beschädigt, Radioaktivität entweicht bis heute. Die »Wasserstoff-Frage« wird auch im Bericht des Staatsrats behandelt: »Die Kontrollsysteme für die Konzentration von Wasserstoff, die Systeme und Elemente, die die Wasserstoffexplosionen verhindern sollen, entsprechen nicht den Vorschriften zur Gewährleistung der Verhinderung von Wasserstoffexplosionen bei Atomkraftwerken.« Das heißt, dass es in Russland Vorschriften gibt, die auf die Prävention von Wasserstoffexplosionen zielen. Die realen Systeme aber, die in den Kernkraftwerken arbeiten, entsprechen diesen Vorschriften nicht und können folglich Wasserstoffexplosionen auch nicht verhindern. An separater Stelle heißt es im Bericht des Staatsrats, dass »Konstruktionsmängel und -fehler« zu Unfällen in Blöcken des Typs RBMK-1000 (ein solcher explodierte 1986 in Tschernobyl) führen können. Außerdem werden eine Reihe spezifischer Mängel verschiedener Reaktortypen benannt.Im Bericht wird außerdem angemerkt, dass »eine effektive Erfassung der Betriebspraxis der Kraftwerke«, die sich in »Qualität, Defekten, Ausfällen und Überschreitungen« ausdrückt, fehlt. Mithin sind die von Rostechnadsor verbreiteten Informationen über die Unregelmäßigkeiten in Kernkraftwerken bei weitem nicht vollständig.

Fazit

Welches Resümee lässt sich also ziehen? Die Erklärungen amtlicher Stellen verschiedener Ebenen bis hoch zum Premierminister, dass die nach Beginn der japanischen Katastrophe durchgeführten Kontrollen die absolute Verlässlichkeit russischer AKWs gezeigt haben, beruhen auf freier Erfindung. Beweise, die die Stabilität der Atomanlagen bei Einfluss von Naturgewalten bestätigen würden, gibt es nicht. Vielmehr ist es so, dass hier und da Reaktoren selbst ohne die Einwirkung von Umweltkatastrophen und großen Unfällen zerfallen können – möglicherweise ist das nur eine Frage der Zeit.

Heutzutage ist die Situation im Bereich der Atomenergie schlechter, als es sich selbst die größten Pessimisten haben vorstellen können. Und sie wird sich ohne Frage durch die Haltung des Schweigens seitens Präsidialadministration und Regierung noch verschärfen, die weiterhin versuchen die ganze Welt davon zu überzeugen, dass es keine Probleme in russischen AKWs gibt.

Am 20. Juni hat der Chef von Rosatom, Sergei Kirienko, erklärt, dass es sich entsprechend der Resultate der Stresstests russischer AKWs anbietet, neue Technik im Bereich Notfallkühlung der Reaktoren und Notfallenergieversorgung zu installieren. Die Gesamtkosten hierfür belaufen sich auf ca. 5 Mrd. Rubel (ca. 120 Mill. Euro). Allerdings löst diese Maßnahme in keinster Weise das Problem der Stabilitätsmängel verschiedener Bauteile russischer AKWs, die einem Erdbeben nicht standhalten würden. Gleichfalls hat diese Maßnahme keine Auswirkung darauf, dass im Fall eines Erdbebens nicht bei allen russischen Anlagen Systeme existieren, die eine Notabschaltung der Reaktoren ermöglichen. Man kann also konstatieren, dass die Entscheidungen, die in Russland nach Fukushima getroffen wurden, eher kosmetischen Charakters sind. Sie sind bei weitem nicht ausreichend, um die Sicherheit der Kraftwerke zu erhöhen und existierende Probleme alter Reaktoren der 1. und 2. Generation zu lösen. Auch 25 Jahre nach Tschernobyl stellen russische AKWs nach wie vor eine große Bedrohung für Mensch und Umwelt dar und die russischen Behörden scheinen der Meinung zu sein, dass dieses Risiko auch zukünftig einzugehen ist.

Übersetzung: Franziska Smolnik

Lesetipps / Bibliographie

Zum gesamten Themenkomplex Atomwirtschaft in Russland vgl.:

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