Wahlgesetzgebung im Wandel
Die russische Wahlgesetzgebung zeichnet sich durch eine außerordentliche Instabilität aus. Früher wurde für jede Dumawahl ein neues Gesetz verabschiedet: 1995 für die Wahlen von 1995, 1999 für die Wahlen 1999, 2002 für die Wahlen von 2003 und 2005 für die Wahlen von 2007. Die von 2005 bis 2007 verabschiedeten Änderungen der Gesetzgebung waren dabei radikaler als die der vorangegangenen zehn Jahre. Es gilt weiterhin das Dumawahlgesetz von 2005, das jedoch vielfach geändert worden ist.
Von 1994 bis 2005 waren die Gesetzgeber darum bemüht, die Änderungen jeweils im Paket zu verabschieden, so dass sich die Wahlgesetzgebung ein- bis zweimal pro Wahlperiode änderte. Seit 2006 ist die Novellierung der Wahlgesetzgebung ein permanenter Zustand. 2006 und 2007 wurde das Gesetz über die grundlegenden Garantien elfmal verändert, das Gesetz über die Dumawahlen achtmal. Zwischen 2008 und 2011 erfuhr das Gesetz über die grundlegenden Garantien 28 Änderungen, das Gesetz über die Dumawahlen erlebte 17 Änderungen.
Kandidatenlisten, Wahlfinanzen und Sperrklausel
Die grundlegenden Bestimmungen für die Wahlen zur Staatsduma sind allerdings seit 2007 unverändert. Alle 450 Abgeordneten der Staatsduma werden nach dem Verhältniswahlrecht in einem einheitlichen »Föderalen Wahlkreis«, also auf dem Wahlgebiet der Russischen Föderation, gewählt. Die Kandidatenlisten, die von den Parteien aufzustellen sind, müssen in einen zentralen Teil und einen Teil mit regionalen Kandidatengruppen gegliedert sein, die jeweils einem bestimmten Gebiet (einer Region, einem Teil einer Region oder einer Gruppe von Regionen) entsprechen müssen. Die Gebiete, nach denen eine Liste regional untergliedert wird, werden unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen durch die Parteien selbst festgelegt. So müssen diese Gebiete zusammenhängend sein und in der Summe das gesamte Territorium der Russischen Föderation abdecken. Gemäß den Wahlergebnissen erhalten zunächst die Kandidaten des zentralen Listenteils ein Mandat. Die übrigen Mandate werden proportional zu den regionalen Stimmergebnissen unter den entsprechenden regionalen Gruppen der Liste verteilt. Zur Finanzierung des Wahlkampfes richten die Parteien eigene Wahlkampffonds ein, wobei sowohl ein zentraler Haushalt für die Gesamtpartei als auch eigene Wahlkampfhaushalte für jede der regionalen Gliederungen eingerichtet werden können.
Bei den Vorschriften für die Aufstellung der Kandidatenlisten hat es einige Änderungen gegeben. 2007 durfte der zentrale Teil der Liste nicht mehr als drei Kandidaten umfassen, die Anzahl der regionalen Kandidatengruppen musste mindestens 80 betragen. Inzwischen kann der zentrale Teil aus zehn Kandidaten bestehen und die Anzahl der regionalen Gruppen muss mindestens 70 betragen.
Die zulässige Höchstsumme für Ausgaben aus dem Wahlkampfhaushalt, die »Deckelung« der Wahlkampfbudgets, ist mittlerweile angehoben worden. 2007 lag die Grenze für den zentralen Wahlkampfhaushalt der Gesamtpartei bei 400 Mio. Rubel und die für den »konsolidierten« Haushalt, also die Summe der Obergrenzen des zentralen und der regionalen Wahlkampfhaushalte, bei 1,818 Mrd. Rubel. Nun ist die Obergrenze des zentralen Haushalts auf 700 Mio. Rubel und die konsolidierte Höchstsumme auf 3,405 Mrd. angehoben worden, also um 87 %.
Die Sperrklausel liegt weiterhin bei 7 %. Eine Partei muss also mindestens 7 % der Wählerstimmen auf sich vereinigen, um ihrem Stimmenanteil entsprechend Mandate zu erhalten. Nach den neuen Bestimmungen erhalten Parteien, die zwischen 5 und 6 % der Stimmen erreicht haben, ein »Trostmandat« zugesprochen; bei 6 bis 7 % sind das zwei Mandate. Es sei hier angemerkt, dass bei 450 Abgeordneten 5 % etwa 23 Mandaten entsprechen und 7 % etwa 32 Mandaten.
Nach der Änderung der Verfassung wird die Staatsduma nun nicht mehr alle vier, sondern alle fünf Jahre gewählt.
Registrierung von Parteilisten
Die wichtigsten Änderungen betreffen die Registrierung der Parteilisten. Zu nennen ist hier vor allem die Abschaffung der Wahlbürgschaft. 2007 waren vier der elf registrierten Listen aufgrund einer Wahlbürgschaft registriert.
Gegenwärtig gibt es nur mehr sieben registrierte politische Parteien. Die Listen der vier Parlamentsparteien wurden ohne weitere Auflagen registriert, die übrigen Parteien müssen zur Registrierung ihrer Listen Unterschriftenlisten einreichen.
Die Änderung der erforderlichen Unterschriftenzahl ist hier weniger bedeutsam. 2007 waren 200.000 Unterschriften erforderlich, ebenso viele wie 1995, 1999 und 2003; nun sind es 150.000. Bei der Registrierung für die Dumawahlen ist jedoch nicht die Zahl der Unterschriften das größte Problem, sondern die Höhe des zulässigen »Ausschusses« in den Unterschriftenlisten, der lediglich bei 5 % liegen darf. So sind 2007 von sieben eingereichten Unterschriftenlisten drei wegen Überschreitung der fünfprozentigen Ausschussrate nicht registriert worden, und auch bei den übrigen vier Listen erreichte die Ausschussrate mit 4,6 – 4,8 % fast den unzulässigen Wert.
Kleinere Änderungen hat es auch bei den Vorschriften zur Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission und bei denen zur Ausgestaltung und Überprüfung der Unterschriftenlisten gegeben.
Medienzugang und Räumlichkeiten
In der Redaktion von 2007 enthielt das Gesetz die Bestimmung, dass Parteien, die weniger als 3 % der Stimmen bekamen, die den Medien die Kosten für Sendezeit und Anzeigenspalten erstatten müssen, die man ihnen für den Wahlkampf kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Zudem bestand die Vorschrift, dass Parteien, die für die »kostenlos« erhaltenen Sendezeiten und Anzeigenspalten nicht zahlen, bei den nächsten Wahlen nicht mehr die Möglichkeit zu kostenloser Wahlwerbung erhalten. Diese Regelung trug nicht unwesentlich dazu bei, dass fünf Parteien, die 2007 an den Wahlen teilgenommen hatten, binnen Jahresfrist ihre Selbstauflösung beschlossen.
Die OSZE hatte bereits 2004 empfohlen, diese Regelung abzuschaffen. Dies ist nun endlich geschehen. Allerdings wurde sie durch eine andere Vorschrift ersetzt, der zufolge eine Partei, die weniger als 3 % der Stimmen erhalten hat, bei den nächsten Wahlen automatisch den Anspruch auf kostenlose Sendezeit und Anzeigenspalten verliert. Unter diese Regelung fallen bei den jetzigen Wahlen Jabloko und die Partei »Patrioten Russlands«. Die Partei »Rechte Sache« hat als neue Partei Anspruch auf kostenlose Sendezeit und Anzeigenspalten.
Bei den Vorschriften, die die Nutzung von Räumlichkeiten für Wahlkampfveranstaltungen regulieren, sind einige Änderungen eingeführt worden, die gleiche Bedingungen für alle Parteien gewährleisten sollen. Die Eigentümer oder Besitzer von Räumlichkeiten, die einer Partei zur Verfügung gestellt werden, sind jetzt verpflichtet, die Wahlkommission des entsprechenden Föderationssubjektes schriftlich darüber zu informieren, dass und zu welchen Bedingungen dies erfolgt ist. Die Wahlkommission ist dann verpflichtet, die anderen politischen Parteien darüber in Kenntnis zu setzen.
Auch bei den Bestimmungen zur Stimmabgabe auf Grundlage eines Wahlscheins und zur Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals wurden einige Änderungen vorgenommen. Für Menschen mit Sehbehinderungen wurden zusätzliche Rechte festgeschrieben.
Bewertung der Wahlgesetzgebung
Insgesamt sind die zwischen 2008 und 2011 vorgenommen Änderungen bei der Dumawahlgesetzgebung nicht prinzipieller Natur; sie haben die bestehenden Grundlagen unberührt gelassen. Eine der Neuerungen, die Abschaffung der Wahlbürgschaft, zielt auf eine Schwächung des Wettbewerbs ab, betrifft aber stärker die Wahlen auf regionaler und kommunaler Ebene. Für die Dumawahlen war hingegen vor allem die verringerte Anzahl der Parteien von Bedeutung. Eine ganze Reihe der Gesetzesänderungen ist darauf ausgerichtet, die Wahlen gerechter zu gestalten, doch sind diese Änderungen kaum wesentlich, und eine positive Wirkung wird aller Wahrscheinlichkeit nach durch mangelhafte Anwendung der entsprechenden Vorgaben geschmälert werden.
Ein wichtiger Mangel der Wahlgesetzgebung in Russland sind weiterhin die strengen Bestimmungen zur Registrierung von Kandidaten und Parteilisten, die es den Wahlkommissionen erlauben, missliebige Kandidaten auszusieben und praktisch politische Diskriminierung zu betreiben.
Zu bemängeln sind auch jene Bestimmungen des Gesetzes, die die Besetzung der Wahlkommissionen regeln. Das Recht zur Entsendung von Vertretern mit vollem Stimmrecht in die Wahlkommissionen aller Ebenen wird nur Parteien garantiert, die in der Staatsduma und den Regionalparlamenten vertreten sind, und in den meisten Regionen sind dies nur vier Parteien. Gleichzeitig gilt die Bestimmung, dass jede Partei nur durch jeweils eine Person in den Wahlkommissionen vertreten sein kann, weswegen in der überwiegenden Mehrheit der Wahlkommissionen die Vertreter der Parteien in der Minderheit sind. Die Mitglieder der Wahlkommission sind mehrheitlich Personen, die auf die eine oder andere Weise von der Verwaltung abhängig sind. Obwohl das Gesetz die Unabhängigkeit der Wahlkommissionen von der Exekutive deklariert, sind die Kommissionen real stark von dieser abhängig und in vielen Fällen schlichtweg ein Anhängsel der Exekutive.
Hinsichtlich des Wahlkampfes im engeren Sinne verkündet das Gesetz die Gleichstellung der Parteien, doch wird von diesem Grundsatz bereits im Gesetz selbst abgewichen. So wird, wie erwähntjenen Parteien, die bei den vorangegangenen Wahlen nicht erfolgreich waren, der Anspruch auf kostenlose Sendezeit oder Anzeigenspalten entzogen. Wesentlicher ist jedoch, dass die Gleichstellung der Parteien in der Praxis nicht gewährleistet ist, und zwar durch indirekte Wahlwerbung für die Regierungspartei in den staatsabhängigen Medien, durch den Einsatz von Amtspersonen und ihren Untergebenen im Wahlkampf dieser Partei sowie durch die Behinderung des Wahlkampfs der Oppositionsparteien.
Das Gesetz verhindert nicht den Einsatz von »Dampfloks«, also das Verfahren, an die Spitze der Parteilisten oder der regionalen Gruppen dieser Listen hochgestellte Amtsträger (den Präsidenten, Minister, Gouverneure usw.) zu setzen, die nicht die Absicht haben, Abgeordnete zu werden, und deren Kandidatenstatus dazu dient, einer Partei Vorteile zu verschaffen.
Die Vorschriften für die Stimmabgabe, die Auszählung der Stimmen und die Feststellung der Wahlergebnisse sind recht detailliert ausgearbeitet, enthalten aber gleichwohl einige Lücken, die für Fälschungen genutzt werden können. Wichtiger ist, dass die Vorschriften vielerorts nicht befolgt werden, was breite Möglichkeiten zur Fälschung schafft.
Die Transparenz der Wahlen ist 2005 durch eine einschränkende Bestimmung verringert worden. Seitdem können nur registrierte Kandidaten sowie Parteien, deren Listen für die Wahlen registriert sind, Beobachter in die Wahllokale entsenden. Gleichzeitig ist es ein Fortschritt in der russischen Wahlverwaltung, dass die Daten der Ergebnisprotokolle aus jedem Wahllokal umgehend (innerhalb weniger Stunden) ins Internet gestellt werden.
Übersetzung: Hartmut Schröder
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des gemeinsamen Projektes von GOLOS, Europäischem Austausch, Heinrich Böll Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.