Zusammenfassung
1. Einleitung
Die Assoziation GOLOS hat eine breit angelegte Beobachtung der Wahlen zur 6. Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation durchgeführt. In 48 Föderationssubjekten haben Langzeitbeobachter der Assoziation GOLOS den Verlauf der Wahlen beobachtet. Am Wahltag selbst und bei der Ermittlung der Wahlergebnisse haben in 40 Regionen rund 1.700 Korrespondenten der Zeitung »Grashdanskij golos« [dt.: Bürgerstimme], die insgesamt rund 4.000 Wahllokale besuchten, eine Kurzzeitbeobachtung durchgeführt.
GOLOS hat eine »Karte der Verstöße« bereitgestellt, eine Website, auf der die Bürger der Russischen Föderation während der gesamten Wahlzeit von Verstößen berichten konnten. Auf der »Karte der Verstöße«, einem gemeinsamen Projekt von GOLOS und der Internet-Publikation Gazeta.ru, sind bis zum Wahltag rund 5.000 Berichte über Verstöße eingegangen, nach dem Wahltag erreichte diese Zahl 7.800.
In der Woche vor dem Wahltag ist gegen die Assoziation GOLOS eine massive und koordinierte Kampagne initiiert worden, die eine gerichtliche Verfolgung (es wurde eine Geldstrafe auferlegt), verleumderische Berichte in den Medien, Behinderung der Mitarbeiter und Korrespondenten sowie Hacker-Angriffe auf die Website und den E-Mail-Verkehr von Mitarbeitern umfasste.
2. Der rechtliche Rahmen
Die Wahl der Dumaabgeordneten wird durch zwei Gesetze geregelt: durch das föderale Gesetz »Über die grundlegenden Garantien zum Wahlrecht und zur Teilnahme an einem Referendum für Bürger der Russischen Föderation« und durch das föderale Gesetz »Über die Wahl der Abgeordneten der Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation«.
Die russische Wahlgesetzgebung ist durch hohe Instabilität gekennzeichnet. Das Gesetz »Über die grundlegenden Garantien zum Wahlrecht …« ist allein von 2008 bis 2011 28 Mal verändert worden, das Gesetz »Über die Wahl der Abgeordneten…« im gleichen Zeitraum 17 Mal. Diese Änderungen waren jedoch nicht von prinzipieller Bedeutung, da die Grundregeln für die Dumawahlen seit 2007 unverändert geblieben sind.
Alle 450 Abgeordneten der Staatsduma werden nach dem Verhältniswahlrecht in einem einheitlichen »Föderalen Wahlkreis«, dem Wahlgebiet der Russischen Föderation gewählt. Die Staatsduma wird auf 5 Jahre gewählt (bis 2007 geschah dies noch auf 4 Jahre). Die Kandidatenlisten der politischen Parteien müssen in einen zentralen Teil von bis zu 10 Kandidaten und in nicht weniger als 70 regionale Kandidatengruppen unterteilt sein, die jeweils bestimmten Gebieten zu entsprechen haben – einer Region, einer Teilregion oder einer Gruppe von Regionen.
Die Sperrklausel liegt weiterhin bei 7 %. Neuen Bestimmungen zufolge erhält jedoch eine Partei, die zwischen 5 und 6 % der Stimmen erringt, ein »Trostmandat« zugesprochen, und Parteien, die zwischen 6 und 7 % erzielen, derer zwei; es sei darauf hingewiesen, dass bei 450 Abgeordneten 5 % der Stimmen etwa 23 Mandaten und 7 % rund 32 Mandaten entsprächen.
Die wesentlichsten Gesetzesänderungen der Jahre 2008 und 2009 betrafen die Bestimmungen zur Registrierung der Kandidatenlisten der Parteien, vor allem die Abschaffung der Wahlbürgschaft. Von den sieben registrierten Parteien mussten drei Parteien, die nicht in der Duma vertreten sind, 150.000 Unterstützerunterschriften vorlegen. Der zulässige Ausschuss unter diesen Unterschriften durfte dabei nicht mehr als 5 % betragen. Geringfügige Änderungen hatte es bei den Bestimmungen zur Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission und bei der Abfassung und Prüfung der Unterschriftenlisten gegeben.
Die Transparenz der Wahlen ist durch eine 2005 eingeführte Beschränkung verringert worden: Nun dürfen Wahlbeobachter nur von registrierten Kandidaten oder von Parteien, deren Kandidatenlisten an den Wahlen teilnehmen, in die Wahllokale entsandt werden. Das Institut der lokalen gesellschaftlichen Wahlbeobachtung ist vom Gesetz nicht vorgesehen, weswegen die Freiwilligen von GOLOS die Wahlbeobachtung als Journalisten der Zeitung »Grashdanskij golos« durchführen mussten.
3. Die Wahlkommissionen
Bei den Dumawahlen sind auf vier Ebenen Wahlkommissionen tätig: Es gibt die Zentrale Wahlkommission (ZIK), 83 Wahlkommissionen der Föderationssubjekte, 2.746 territoriale Wahlkommissionen und rund 95.300 Wahlkommissionen in den Wahllokalen.
Die Wahlkommissionen befinden sich in starker Abhängigkeit von der Exekutive, die in den Wahlen mit der Partei »Einiges Russland« verbunden ist.
Die Zentrale Wahlkommission besteht aus 15 Mitgliedern mit vollem Stimmrecht. Fünf Mitglieder werden durch den Präsidenten ernannt, fünf durch die Staatsduma und fünf durch den Föderationsrat.
Die fünf vom Präsidenten ernannten Mitglieder sind allesamt Kandidaten aus der Präsidialadministration, die eng mit der Partei »Einiges Russland« verbunden ist. Unter den fünf von der Staatsduma ernannten Mitgliedern sind zwei Kandidaten von »Einiges Russland«, unter den fünf vom Oberhaus ernannten Mitgliedern drei Vertreter der Exekutive oder von »Einiges Russland« zu finden. Somit stehen insgesamt nicht weniger als zehn der 15 Mitglieder der ZIK unter der Kontrolle der Staatsverwaltung.
Die Neubesetzung der Wahlkommissionen in den Föderationssubjekten erfolgt mehrheitlich im Jahr der Dumawahlen, und zwar auf fünf Jahre. 2011 ist bei 64 Wahlkommissionen der Föderationssubjekte die Zusammensetzung geändert worden, wobei 23 Kommissionen einen neuen Vorsitzenden erhielten. In den meisten Fällen war dies auf einen Wechsel auf dem Gouverneursposten zurückzuführen, was deutlich die Abhängigkeit der Wahlkommissionen von der Exekutive illustriert. In einigen Fällen sind die neuen Leiter der Wahlkommission nicht nur mit der Regionalregierung eng verbunden, sondern auch mit »Einiges Russland«. Ein weiterer Trend besteht darin, dass in Regionen, in denen Probleme für »Einiges Russland« zu beobachten sind, ebenfalls die Leiter der Wahlkommissionen abgelöst werden.
Mindestens die Hälfte der Mitglieder der Wahlkommissionen der unteren Ebenen muss auf Vorschlag der Parteien ernannt werden, die in der Staatsduma und/oder dem jeweiligen Regionalparlament vertreten sind. Allerdings darf jede Partei nicht mehr als ein Mitglied benennen. Oft werden Bewerber für die Wahlkommissionen abgelehnt, die von außerparlamentarischen Parteien oder unliebsamen gesellschaftlichen Vereinigungen nominiert wurden. Da in der Staatsduma nur vier Parteien vertreten sind und auch die meisten Regionalparlamente aus eben diesen Parteien bestehen, sitzen in den meisten Wahlkommissionen – die zwischen 9 und 14 Mitglieder haben – nur vier Vertreter der Parteien, darunter höchstens drei der Oppositionsparteien.
4. Registrierung der Kandidatenlisten der Parteien
Den geltenden Gesetzen zufolge können nur registrierte Parteien, die die Registrierung ihrer regionalen Gliederungen in mehr als der Hälfte der Föderationssubjekte bestätigen konnten, Kandidatenlisten aufstellen. Die Listen aller sieben politischen Parteien sind registriert worden.
In den Jahren 2004–2009 hat sich die Zahl der politischen Parteien von 46 auf 7 verringert, wobei 12 Parteien per Gerichtsbeschluss aufgelöst wurden (die Auflösung der Republikanischen Partei Russlands wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2011 als mit den internationalen Normen nicht vereinbar eingestuft), einige Parteien durch Selbstauflösung einer gerichtlichen Auflösung zuvorkamen, und sich andere Parteien in einer Mischung aus Freiwilligkeit und Zwang zur Partei »Gerechtes Russland« zusammenschlossen. Mit Ausnahme der Partei »Rechte Sache«, die mit unverhohlener Unterstützung des Kreml als Ersatz für drei Parteien entstand, die sich selbst aufgelöst hatten, ist von 2005 bis 2011 keine neue politische Partei registriert worden, obwohl es in den vergangen Jahren ein rundes Dutzend Versuche einer Parteineugründung gegeben hat. Diesen Parteien ist die Registrierung mit Begründungen verweigert worden, die klar der Rechtsposition des EGMR zuwiderlaufen.
Laut Gesetz hat jeder Bürger der Russischen Föderation, der über das passive Wahlrecht verfügt und nicht Mitglied einer politischen Partei ist, das Recht, bei einer beliebigen politischen Partei die Aufnahme in deren landesweite Kandidatenliste zu beantragen. Dieses Verfahren sieht jedoch derart enge Fristen vor, dass es von den Bürgern nirgends genutzt wurde. Auf der Liste von »Einiges Russland« waren 184 von 599 Kandidaten parteilos, bei »Rechte Sache« 71 von 313, bei »Gerechtes Russland« 100 von 585, bei der KPRF 60 von 594, bei »Jabloko« 56 von 374, bei der Partei »Patrioten Russlands« 40 von 309 und bei der LDPR 6 von 312. Nach den vorliegenden Informationen ist das Vorhandensein von formal Parteilosen nicht auf das im Gesetz vorgesehene Verfahren eines Bürgerantrags an eine politische Partei zurückzuführen, sondern auf andere Beziehungen zwischen diesen Personen und der jeweiligen Parteiführung. In keiner Region ist es Vertretern der Assoziation GOLOS gelungen, auch nur einen Fall ausfindig zu machen, wo diese Bestimmung erfolgreich durch unabhängige Kandidaten genutzt wurde.
Es muss hervorgehoben werden, dass angesichts des Umstandes, dass eine Reihe politischer Parteien unter Zwang aufgelöst und anderen Parteien die Registrierung verweigert wurde, einer beträchtlichen Anzahl politisch aktiver Bürger, die ohne ihr Zutun aus juristischer Sicht parteilos wurden, durch das reine Verhältniswahlrecht die Möglichkeit genommen wird, sich als Kandidat für ein Dumamandat zur Wahl zu stellen.
5. Wahlkampf
Der Wahlkampf wurde dadurch geprägt, dass regionale und lokale Verwaltungsbeamte massenhaft Wahlwerbung für »Einiges Russland« betrieben, was oft als Berichterstattung über deren dienstliche Tätigkeit hingestellt wurde. Gleichzeitig wurde die Wahlkampftätigkeit der anderen Parteien erheblich behindert.
Durch die hohe Konzentration von Vertretern der höchsten Staatsbürokratie auf der Kandidatenliste von »Einiges Russland« (einschließlich des Präsidenten, 8 Regierungsmitgliedern und der meisten Gouverneure) arbeitete praktisch der gesamte staatliche Machtapparat für das Wahlergebnis der »Partei der Macht«, wobei ständig dienstliche Vollmachten überschritten und Wähler, Medien und Opponenten unter Druck gesetzt wurden. Die Regierungen und Verwaltungen der Regionen, Städte und Landkreise sind praktisch sämtlich in Wahlkampfstäbe von »Einiges Russland« verwandelt worden, während die Regierungs- und Verwaltungschefs unverhohlen Wahlkampf für »Einiges Russland« betrieben.
Eine Schlüsseltechnik der Partei der Macht besteht weiterhin in einer massenhaften indirekten Wahlwerbung für »Einiges Russland« mithilfe sozialer oder ähnlicher Werbekampagnen, die stilistisch und dem Sinn nach eindeutig an die Wahlwerbung von »Einiges Russland« angelehnt sind. Bei diesen Kampagnen wurden Slogans und Bilder eingesetzt, die der Wahlwerbung von »Einiges Russland« zum Verwechseln ähnlich sind. Nicht selten war bei Kampagnen, die formal in keinem Zusammenhang mit »Einiges Russland« standen, das Parteilogo oder ein diesem nachempfundenes Emblem zu finden. Besonders eklatant waren Werbetafeln von »Einiges Russland«, die nahezu vollkommen Plakate der Moskauer Städtischen Wahlkommission nachahmten, welche dazu aufriefen, bei den Dumawahlen am 4.12. an die Wahlurnen zu gehen. Dies hat sowohl bei der russischen Opposition als auch bei den europäischen Wahlbeobachtern der PACE-Delegation Proteste ausgelöst.
6. Stimmabgabe und Stimmenauszählung
Da die Wahlgesetzgebung die Institution einer gesellschaftlichen Wahlbeobachtung nicht vorsieht, haben die Freiwilligen der Assoziation GOLOS als Korrespondenten der Zeitung »Grashdanskij golos« eine informationelle Beobachtung durchgeführt. In den zwei Wochen vor dem Wahltag ist auf die Assoziation GOLOS, deren Vertreter in den Regionen sowie auf die Korrespondenten durch Staatsorgane – die Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation, den Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, in den Regionen von Seiten der Steuerbehörden und der Leiter von Bildungseinrichtungen, an denen Korrespondenten studieren, sowie durch Mitarbeiter des Ermittlungskomitees und des Inlandsgeheimdienstes FSB sowie durch staatliche Medien, etwa die »Rossijskaja gaseta« und den Fernsehsender NTV – Druck ausgeübt worden. Das Ziel war, diese Wahlbeobachtung zum Scheitern zu bringen. In 2 von 40 Regionen, in denen eine Beobachtung geplant war, ist sie dann auch verhindert worden, nämlich in den Städten Orenburg und Wladiwostok.
Bei der Öffnung der Wahllokale war zu beobachten, dass ein großer Teil der dortigen Wahlkommissionen den Zutritt der Korrespondenten zum Abstimmungsraum behinderte. Im Schnitt betraf dies landesweit 10 % aller Stimmbezirke (in Iwanowo 42 %, in Kasan 26 %, in Lipezk 15 %, in Moskau 18 %, in Nishnij Nowgorod 21 %, in Samara 30 % und in Saratow 17 %); in 7 % der Stimmbezirke verhinderten die Wahlkommissionen eine Einsichtnahme in die Wählerverzeichnisse, und in 5 % der Wahllokale waren die Wählerverzeichnisse nicht gebunden. In 48 % der Wahllokale fehlten die Angaben über Einkommen und Vermögensverhältnisse der Kandidaten.
Bei der Abstimmung wurden die Prozeduren für die Ausgabe der Stimmzettel in 5 % der Wahllokale missachtet. Auffallend hoch ist der Anteil der Wahlkommissionen, bei denen die Prozeduren für die Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals unter dem Einsatz mobiler Wahlurnen nicht eingehalten wurden. In 13 % der Fälle befanden sich die Urnen außerhalb des Blickfeldes der Wahlbeobachter, in 8 % der Stimmbezirke wurden Verstöße bei der Erstellung der Register über Anträge auf Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals festgestellt, und in 7 % der Fälle wurde den Beobachtern eine Einsichtnahme in diese Register verweigert. In 6 % der Fälle wurde es den Beobachtern nicht erlaubt, bei der Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals anwesend zu sein.
Bei der Auszählung der Stimmen ist es zu besonders vielen Verstößen gegen gesetzlich vorgeschriebene Prozeduren gekommen. So wurde zum Beispiel das Verfahren hinsichtlich der Abfolge der einzelnen Schritte – Auszählung der abgegebenen Stimmzettel, Sortierung der Stimmzettel und Auszählung der vorsortierten Stapel mit den Stimmzetteln – in etwa einem Viertel der Wahllokale nicht eingehalten. Eine verspätete Eintragung der Anzahl nicht genutzter Stimmzettel und der Ergebnisse der Vergleichszählung zum Wählerverzeichnis wurde in 36 % der Stimmbezirke beobachtet. Bei 32 % der Wahlkommissionen in den Stimmbezirken wurden die Stimmenzahlen für die einzelnen Kandidaten mit Verzögerung in das Protokoll eingetragen. In 39 % der Stimmbezirke hat es keine Abschlusssitzung der Wahlkommission gegeben.
Zu weiteren Unregelmäßigkeiten bei der Organisation der Stimmabgabe und der Stimmenauszählung gehören: organisierte Beförderung von Wählern zum Wahllokal (6 % der Stimmbezirke), Anwesenheit unbefugter Personen im Wahllokal (12 %) und die Anwesenheit von Vertretern der Verwaltungsorgane oder von Vertretern der übergeordneten Wahlkommission bei der Stimmenauszählung (13 % bzw. 9 %).
Insbesondere ist auf folgende Tatsachen hinzuweisen: bei 17 % der Wahlkommissionen sind mangelhafte Arbeitsbedingungen für die Wahlbeobachter geschaffen worden; in 26 % der Wahlkommissionen wurden Listen verwendet, auf denen angeblich jene aufgeführt waren, die außerhalb des Wahllokals wählen wollten (Wähler werden mitunter ohne ihr Einverständnis in solche Listen aufgenommen); in mehr als 40 % der Stimmbezirke musste eine Wiederholung der Stimmenauszählung vorgenommen werden, und bei 17 % der Stimmbezirke hat die Wahlkommission ohne Rücksprache mit der übergeordneten Kommission keine Stimmenauszählung vornehmen können.
7. Beschwerden am Wahltag
Die Korrespondenten haben festgestellt, dass in 28 % der Wahlkommissionen in den Stimmbezirken Beschwerden eingereicht wurden, was im Durchschnitt 0,44 Beschwerden pro Kommission entspricht. Dementsprechend wird die Gesamtzahl der Beschwerden auf einige Zehntausend geschätzt. In 76 % der Wahlkommissionen wurde die Annahme von Beschwerden verweigert. Bei 23 % der Kommissionen sind Beschwerden entgegen den gesetzlichen Bestimmungen nicht im Wahlprotokoll vermerkt worden. Bei 11 % der Kommissionen ist keine der schriftlichen Beschwerden geprüft worden.
Bei den territorialen Wahlkommissionen (TIK) dürften landesweit ebenfalls rund zehntausend Beschwerden eingegangen sein (im Durchschnitt waren es 4,33 Beschwerden pro TIK), wobei bei den Abschlusssitzungen nur 2/5 aller eingereichten Beschwerden geprüft wurden. Diese Daten zeigen, warum in den offiziellen Berichten von einer wesentlich geringeren Beschwerdenzahl die Rede ist, verglichen mit dem, was die Wahlteilnehmer berichten.
8. Wahlergebnisse
Laut offiziellem Wahlergebnis hat »Einiges Russland« 49,32 % der Stimmen erhalten, die KPRF 19,19 %, »Gerechtes Russland« 13,24 %, die LDPR 11,67 %, »Jabloko« 3,34 %, die »Patrioten Russlands« 0,97 %, und »Rechte Sache« 0,60 %.
Dass die Stimmenabgabe und die Stimmenauszählung von massenhaften Fälschungen begleitet waren, wird sowohl durch Berichte von Bürgern (Mitglieder von Wahlkommissionen, Medienvertreter und ganz gewöhnliche Wähler) belegt, die Zeugen von Einwürfen zusätzlicher Stimmen und mehrfacher Stimmabgabe geworden waren, als auch durch die Diskrepanzen zwischen Kopien der Wahlprotokolle der Wahlkommissionen in den Stimmbezirken und den offiziellen Ergebnissen für die jeweiligen Stimmbezirke. Zum gleichen Schluss kommen auch statistische Analysen.
Auf der von der Assoziation GOLOS und der Internet–Zeitung Gazeta.ru betriebenen Website »Karte der Ergebnisse« http://www.kartaitogov.ru/diff sind Informationen zu den Diskrepanzen zwischen Protokollkopien und offiziellen Angaben zu finden. Die Daten basieren auf den Informationen, die sich aus gescannten oder fotografierten Kopien der Protokolle ergeben (die Scans und Fotos sind dort ebenfalls zu finden). Bis Ende Januar 2012 wurden aus 28 Regionen 520 Protokollkopien, bei denen die Angaben von den offiziellen Ziffern abweichen, in die »Karte der Ergebnisse« eingearbeitet. In der Addition beträgt die Diskrepanz der Ergebnisse für »Einiges Russland«, die sich aus diesen Protokollen ergibt, 142.000 Stimmen oder 272 pro Protokoll. Wo Fälschungen stattgefunden hatten, war die Abweichung beträchtlich: Sie beträgt zwischen 20 und 30 % der abgegebenen Stimmen zugunsten der Partei »Einiges Russland«. Die Zahl der gesammelten Protokolle ist jedoch noch nicht hinreichend, um auf dieser Grundlage Aussagen über das Ausmaß treffen zu können, in dem das Wahlergebnis landesweit durch eine Fälschung von Protokollen entstellt wurde.
Das Ausmaß, in dem zusätzliche Stimmen eingeworfen wurden, lässt sich mit Methoden der Statistik abschätzen. Solchen Berechnungen zufolge, wurden »Einiges Russland« allein über künstlich erhöhte Wahlbeteiligungen (also ohne die Stimmen, die der Partei zu Lasten anderer Parteien »zugeschoben« wurden) rund 15 Millionen Stimmen geschenkt, weswegen das reale Ergebnis bei rund 34 % liegen dürfte.
9. Empfehlungen
Die Assoziation GOLOS hat einen Entwurf für ein Wahlgesetzbuch der Russischen Föderation erstellt. Dieser Entwurf zielt auf eine Systematisierung der derzeit geltenden Wahlgesetzgebung, auf die Beseitigung der dort enthaltenen Widersprüche, Lücken und nicht eindeutig auslegbaren Bestimmungen, sowie auf die Beseitigung von Normendoppelungen in den verschiedenen Gesetzen. Er soll die Gesetzgebung zu Wahlen und Referenden klarer und einfacher in der Anwendung machen.
Gleichzeitig ist es das Ziel dieses Entwurfes, die Wahlgesetzgebung demokratischer zu gestalten, sie in Einklang mit der Verfassung der Russischen Föderation und den internationalen Wahlstandards zu bringen, die Wahrung der Wahlrechte der Bürger sicherzustellen, jene Bestimmungen in der Wahlgesetzgebung zu beseitigen, die die demokratische Entwicklung des Landes behindern sowie Bestimmungen wieder einzuführen, die in den vergangen Jahren grundlos gestrichen wurden.
Neben einer umfassenden Novellierung der Wahlgesetzgebung durch die Verabschiedung eines Wahlgesetzbuches ist eine kardinale Änderung des Gesetzes über die politischen Parteien vonnöten, die sicherstellt, dass Parteien frei gegründet und legalisiert werden können. Der Präsident hat bereits durch die Vorlage eines entsprechenden Gesetzes in der Staatsduma einen Schritt in dieser Richtung unternommen.
Neben der Änderung der Gesetze muss allerdings auch für deren Einhaltung gesorgt werden, wozu die Arbeit der Sicherheitsbehörden und der Gerichte einen erheblichen Wandel durchlaufen muss.
Übersetzung: Hartmut Schröder