Die Ergebnisse der Dumawahlen

Von Arkadij Ljubarew (Moskau)

Zusammenfassung
Die Dumawahlen waren im Grunde ein Wettbewerb zwischen der staatlichen Exekutive, die alle administrativen Ressourcen einsetzte, und einer oppositionellen Schicht in der Gesellschaft. Im Ergebnis konnte »Einiges Russland« eine Mehrheit gewinnen, doch der Anteil der Proteststimmen nahm deutlich zu. Zwischen den Regionen und innerhalb der Regionen selbst gab es beträchtliche Unterschiede in der Stimmenverteilung. Das lässt sich teilweise auf den unterschiedlichen Grad an Fälschung zurückführen. Insgesamt dürften »Einiges Russland« durch Verfälschung der Abstimmungsergebnisse 15 Millionen Stimmen zugesprochen worden sein, so dass das reale Ergebnis der Partei eher bei 34% als bei den offiziell verkündeten 49% gelegen haben dürfte.

Die Exekutive als Wahlkämpfer

Die Besonderheit der Staatsdumawahl 2011 bestand darin, dass diese eigentlich kein Wettbewerb zwischen den sieben zugelassenen politischen Parteien war. Denn eine der beteiligten Seiten war die Exekutive – von der Regierungsspitze bis hinunter in die Kommunen–, die sämtliche Ressourcen zur Unterstützung der Liste »Einiges Russland« einsetzte.

Die Kandidatenliste von »Einiges Russland« wurde vom Präsidenten angeführt. Auf ihr waren darüber hinaus der Leiter der Präsidialverwaltung, acht Regierungsmitglieder und 54 Gouverneure zu finden. Die Präsidialverwaltung hatte es den Regionalverwaltungen zur Aufgabe gemacht, für einen hohen Stimmenanteil für »Einiges Russland« zu sorgen. Die Leiter der Regionalverwaltungen riefen wiederum ihre Untergebenen sowie die von ihnen abhängigen Beamten und Wirtschaftsführer zusammen und erteilten entsprechende Anweisungen, die auch Wahlfälschung einschlossen. Das Gleiche setzte sich auf den darunter liegenden Ebenen fort und mündete letztlich im direkten Druck auf die Wähler.

Der Widerstand aus der Gesellschaft

Die andere Seite bestand aus jenen Teilen der Gesellschaft, die sich einen Machtwechsel wünschten. Es war kein Zufall, dass Alexej Nawalnyj, der »Einiges Russland« öffentlich als »Partei der Gauner und Diebe« bezeichnet hatte (diese Formel wurde von praktisch allen Oppositionsparteien im Wahlkampf eingesetzt), und der dazu aufgerufen hatte, jede beliebige Partei aber bloß nicht »Einiges Russland« zu wählen, zum wichtigsten Ideologen des Wahlkampfes wurde.

Eine Vielzahl von Bürgern hat über Wahlrechtsverstöße durch Vertreter der Administrationen berichtet und deren rechtswidriges Verhalten in der Wahlkampagne mit Ton- oder Videoaufzeichnungen dokumentiert. Diese Materialien sind ins Internet gestellt und den Medien übergeben worden. Auf der »Karte der Verstöße« http://www.kartanarusheniy.ru/, einem gemeinsamen Projekt von GOLOS und der Internet-Publikation Gazeta.ru, sind bis zum Wahltag 5.000 Berichte über Verstöße eingegangen, nach dem Wahltag stieg die Zahl der Berichte auf 7.800.

Das Wahlergebnis

In der folgenden Tabelle sind die offiziellen Ergebnisse der Parteien im Vergleich zu den Dumawahlen von 2007 aufgeführt. »Einiges Russland« erhielt nach offiziellen Angaben knapp unter 50 % der Stimmen und konnte eine absolute Mehrheit der Mandate behaupten. Im Vergleich zu den letzten Dumawahlen hat die Partei jedoch über 12 Millionen Stimmen (über 15 %) und 77 Mandate abgeben müssen (siehe Tabelle 8).

Die KPRF und »Gerechtes Russland« konnten ihre Ergebnisse von 2007 um die Hälftevergrößern, während »Jabloko« seinen Stimmenanteil verdoppelte. Auch das Ergebnis der LDPR fiel merklich besser aus, es war das beste seit 1993. Dies ist jedoch, so meinen viele Fachleute, kein Verdienst der Partei, sondern Folge einer bedeutenden Anzahl von Protestwählern, die gegen »Einiges Russland« stimmten.

Die Ergebnisse der »Patrioten Russlands« und der »Rechten Sache« waren nicht mehr als ein Rauschen im Hintergrund. Die »Patrioten Russlands« konnten im Vergleich zu 2007 nur unwesentlich zulegen. »Rechte Sache« errang 2011 weniger Stimmen als zwei jener drei Parteien, aus denen die Partei hervorgegangen ist (»Bürgerkraft« und »Union der rechten Kräfte«), bei den Wahlen von 2007 für sich allein bekommen hatten.

Regionale Unterschiede

Die Wahlergebnisse zeigen eine stärkere regionale Ausdifferenzierung als 2007. Obwohl »Einiges Russland« weiterhin in allen Regionen die Spitzenposition einnimmt, schwanken die Ergebnisse beträchtlich, nämlich zwischen 29,0 % im Gebiet Jaroslawl und 99,5 % in der Republik Tschetschenien. Das Ergebnis für »Einiges Russland« variiert dabei auch im Vergleich der Regionen mit vorwiegend ethnisch russischer Bevölkerung. Den Spitzenplatz unter diesen Gebieten und Regionen nimmt mit 66,7 % das Gebiet Tambow ein.

»Einiges Russland« erhielt in 15 Regionen weniger als 35 %, in 17 Regionen zwischen 35 und 40 %, in 10 Regionen zwischen 50 und 60 %, in 9 Regionen (darunter in 6 »russischen« Gebieten) zwischen 60 und 70 %, in 7 Regionen (fünf Republiken und zwei Autonomen Kreisen) zwischen 70 und 90 %, und über 90 % in den vier Republiken Inguschetien, Dagestan, Mordwinien und Tschetschenien. Diese regionalen Unterschiede sind weniger auf einen entsprechenden Wählerwillen zurückzuführen, als auf den Einsatz administrativer Ressourcen einschließlich unmittelbarer Wahlfälschung.

Die KPRF erreichte ihr bestes Ergebnis im Gebiet Orjol (32,0 %), »Gerechtes Russland« im Gebiet Now­gorod (28,1 %), die LDPR im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen (22,5 %) und »Jabloko« in St. Petersburg (11,6 %). Gleichzeitig wurde »Gerechtes Russland« weiterhin vor allem in den nordwestlichen Regionen des Landes unterstützt, während die Hochburgen der LDPR in Sibirien und dem Fernen Osten lagen. Es sei hier angemerkt, dass in diesen Regionen die Wahlergebnisse am wenigsten von Manipulationen beeinträchtigt waren.

Bei der KPRF ist die Lage weniger eindeutig. In den 1990er Jahren erfuhren die Kommunisten die größte Unterstützung in den landwirtschaftlich geprägten Regionen Südrusslands, im zentralen Schwarzerde-Gebiet, im südlichen Sibirien und im Wolgagebiet, also im so genannten »roten Gürtel«. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz zwar abgeschwächt, blieb aber bestehen. 2007 noch bildeten folgende Regionen die zehn stärksten Hochburgen der KPRF: das Altai-Gebiet, die Gebiete Belgorod, Brjansk, Wolgograd, Woronesh, Nowosibirsk, Orjol, Rjasan, Samara und Tambow. Bei den jüngsten Wahlen waren nur noch die Gebiete Orjol und Nowosibirsk unter den ersten zehn zu finden. Zu den Regionen mit der größten Unterstützung für die Kommunisten zählen nun geographisch sehr unterschiedliche Gegenden: das Moskauer Gebiet und die Gebiete Irkutsk, Kaliningrad, Kostroma, Nishnij Nowgorod, Omsk, Orenburg und Pskow, wobei eine »Drift« nach Norden unverkennbar ist. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Regionen im Süden am stärksten von Manipulationen betroffen waren.

Die »Patrioten Russlands« und die »Rechte Sache« erreichten in keiner der Regionen über 3 %. Das beste Ergebnis gab es für die »Patrioten Russlands« in der Republik Udmurtien (2,54 %) und für die »Rechte Sache« im Swerdlowsker Gebiet (2,07 %), was sich durch die Spezifik der jeweiligen regionalen Parteigliederungen erklären lässt.

Wahlverhalten in den Städten

Von besonderem Interesse sind die Wahlergebnisse in den großen Städten, wo sich seit langem eine Gesetzmäßigkeit herausgebildet hat: »Einiges Russland« erzielt in den meisten Gebieten die besten Ergebnisse in den landwirtschaftlich geprägten Randgebieten, und die schlechtesten in der jeweiligen Hauptstadt. Bei den Wahlen von 2011 blieb diese Tendenz bestehen, nun allerdings mit einigen Ausnahmen.

So lag das Ergebnis von »Einiges Russland« in 79 regionalen Hauptstädten (mit den naheliegenden Ausnahmen Moskau, St. Petersburg, Moskauer Gebiet und Leningrader Gebiet) insgesamt bei 41,25 % und in den 30 größten Städten (mit einer Wahlbevölkerung von jeweils über 415.000) bei insgesamt 39,66 % (russlandweit 49,32 %). Die Oppositionsparteien erzielten in den großen Städten ihre besten Ergebnisse, was besonders bei »Jabloko« zu beobachten war – die Partei erreichte in den 30 größten Städten 6,76 % (russlandweit 3,43 %).

Bei den regionalen Hauptstädten und den 30 größten Städten entfiel für »Einiges Russland« das schlechteste Ergebnis auf Wladiwostok (22,69 %) und bei den Städten mit über 100.000 Einwohnern auf Koroljow bei Moskau (22,11 %). Noch schlechter fiel das Ergebnis in einigen kleineren Wissenschaftsstädten im Moskauer Umland aus. So erhielt die Partei in Tschernogolowka, wo einige führende physikalische und chemische Institute angesiedelt sind, lediglich 17,72 % der Stimmen.

»Einiges Russland« hat seine Führungsposition in den Städten Wladiwostok, Woronesh, Irkutsk, Kaliningrad, Kostroma, Nowosibirsk, Omsk, Orenburg, Orjol, Pskow, Rjasan, Smolensk, Angarsk (Gebiet Irkutsk), Dsershinsk (Gebiet Nishnij Nowgorod), Kolomna, Koroljow, Serpuchow (alle drei Moskauer Gebiet) und Toliatti (Gebiet Samara) an die KPRF abtreten müssen, in den Städten Jekaterinburg, Nowgorod und Rybinsk (Gebiet Jaroslawl) an »Gerechtes Russland« und in Chanty-Mansijsk an die LDPR.

Regionale Zentren und regionale Peripherie

Interessant sind auch die Unterschiede zwischen den Parteien in den Föderationssubjekten und deren Hauptstädten. Für »Einiges Russland« besteht praktisch überall ein Übergewicht der Peripherie gegenüber dem Regionalzentrum. 2007 hatte es hier nur eine Ausnahme gegeben, die Republik Dagestan. 2011 waren es bereits mehrere: Neben Dagestan waren dies vier weitere Kaukasusrepubliken (Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Nordossetien-Alanien und Tschetschenien) sowie die Republik Komi, die Region Stawropol sowie die Gebiete Astrachan und Samara. Da Syktywkar (Republik Komi), Stawropol, Astrachan und Samara nach unseren Daten zu den am stärksten von Wahlrechtsverstößen beim Abstimmungsprozess und der Stimmenauszählung betroffenen Gebieten gehören, können wir zu Recht annehmen, dass die Ergebnisse dort auf Fälschungen zurückzuführen sind.

In den meisten regionalen Hauptstädten erhielt »Einiges Russland« weniger Stimmen als in der jeweiligen Region insgesamt, wobei diese Differenz in 27 Regionen mehr als 10 % betrugt. Bei der KPRF und »Gerechtes Russland« waren in den meisten Regionen (70 bzw. 65) die Ergebnisse in der Hauptstadt besser als an der Peripherie. Bei der LDPR verhielt es sich in 48 Regionen ebenso.

Das Ausmaß der Wahlfälschung

Der Umstand, dass die Abstimmung und die Stimmenauszählung von massenhaften Fälschungen begleitet waren, wird sowohl durch Berichte von Bürgern (Mitgliedern von Wahlkommissionen, Wahlbeobachtern, Medienvertretern und gewöhnlichen Wählern) belegt, die Zeugen von Einwürfen zusätzlicher Stimmzettel und mehrfacher Stimmabgabe durch Strohmänner wurden, als auch durch Diskrepanzen zwischen den Kopien von Wahlprotokollen aus den Stimmbezirken und den offiziellen Ergebnissen für diese Stimmbezirke. Statistische Analysen kommen ebenfalls zu diesem Ergebnis.

Die Assoziation GOLOS hat bis Mitte Januar aus 476 Stimmbezirken beglaubigte Kopien von Wahlprotokollen erhalten, deren Ergebnisse von den offiziellen Wahlergebnissen abweichen. In diesen Stimmbezirken wurden »Einiges Russland« 125.149 zusätzliche Stimmen zugeschlagen (im Schnitt 263 Stimmen pro Stimmbezirk), während »Gerechtes Russland« 22.792 Stimmen genommen wurden, der LDPR 15.443, »Jabloko« 10.108 und der KPRF 9.461. Auch die Wahlbeteiligung weist eine andere Quote auf: 66.209 Wähler wurden hinzugefügt. Nach unserer Einschätzung ist das reale Ausmaß der beim Übertragen der Wahlprotokolle erfolgten Wahlfälschungen erheblich größer.

In welchem Umfang zusätzliche Stimmzettel in die Urnen geworfen wurden, lässt sich durch eine statistische Analyse nachvollziehen. Eine solche Analyse ist durch verschiedene unabhängige Wissenschaftler vorgenommen worden. Am interessantesten ist hier die Arbeit von Sergej Schpilkin, der bereits 2008 eine originelle Methode entwickelt hat, mit der sich das Ausmaß der Fälschungen feststellen lässt. Schpilkins Berechnungen zufolge sind allein durch künstliche Erhöhung der Wahlbeteiligung (also ohne die Stimmen, die zu Lasten der anderen Parteien umgeschichtet wurden) der Partei »Einiges Russland« rund 15 Millionen Stimmen zugesprochen worden, weswegen das reale Ergebnis bei rund 34 % liegen dürfte.

Das Ausmaß der Fälschungen schwankt von Region zu Region erheblich. Am stärksten von Wahlfälschungen betroffen war Moskau, wo »Einiges Russland« nach offiziellen Angaben 46,6 % errang, während es Schpilkins Berechnungen zufolge real nur 30,3 % waren (auch einer Reihe anderer Ansätze zufolge liegt der reale Stimmenanteil von »Einiges Russland« in der Hauptstadt kaum über 30 %). Die Menge der in der Hauptstadt zusätzlich eingeworfenen Stimmzettel wird auf eine Million geschätzt. Dem gegenüber lag das Ausmaß der Fälschungen in den Regionen Altai, Krasnojarsk und Perm sowie den Gebieten Archangelsk, Wologda und Jaroslawl und dem Leningrader und dem Swerdlowsker Gebiet bei 1 % der Wähler, also innerhalb der statistischen Fehlergrenze.

Diese Umstände haben dazu geführt, dass die Bürger den Wahlergebnissen und dem Wahlsystem insgesamt massiv misstrauen, was sich in den Protestaktionen ausdrückte, die im Dezember im ganzen Land stattfanden. Der Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte beim Präsidenten verabschiedete am 23. Dezember sogar eine Entschließung, in der eine »moralische und politische Diskreditierung des Wahlsystems und des auf dessen Grundlage zustande gekommenen Unterhauses des Parlaments« konstatiert und unter anderem dazu aufgerufen wurde, eine »möglichst baldige Verabschiedung neuer Wahlgesetze zu gewährleisten, um auf dieser Grundlage vorzeitige Parlamentswahlen abzuhalten«.

Übersetzung: Hartmut Schröder

Zum Weiterlesen

Analyse

Der Fall »Pussy Riot«

Von Thomas Bremer
Die Reaktionen der Russischen Orthodoxen Kirche auf den Fall »Pussy Riot« waren von klarer Ablehnung der Aktion und dem Ruf nach einer strengen Bestrafung geprägt. Diese Reaktion ist nicht nur damit zu erklären, dass der Auftritt der Gruppe in einer Kirche stattgefunden hat, sondern auch mit der Wahrnehmung der russischen Orthodoxie, sie sei – ebenso wie das Christentum generell – verfolgt. Daraus ergibt sich der Anspruch der Kirche an den Staat, sie zu schützen. Im Hintergrund steht ein vormodernes Verständnis von gesellschaftlicher Einheit und Vielfalt, das so kaum zukunftsfähig ist.
Zum Artikel
Analyse

Ist die russische Gesellschaft zur Modernisierung bereit? Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung

Von Reinhard Krumm
»Modernisierung« ist das Schlüsselwort der Präsidentschaft Dmitrij Medwedews. Das Konzept, das zwischen Konservativen und Modernisierern noch umstritten ist, ist aber nicht zu verwirklichen ohne Unterstützung in der russischen Gesellschaft. Nach dieser fragt eine umfassende Erhebung, deren Ergebnisse hier referiert werden. Sie zeigt, dass die russische Modernisierung vom Staat und vom Präsidenten angeschoben wird. Von ihm erwarten die Bürger Regeln, nach denen man normal leben und arbeiten kann, einen Rechtsstaat und ein sozial gerechtes Leben. (…)
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS