Moskau, 30. Januar 2012,
Die Assoziation GOLOS führt eine Langzeitbeobachtung des Ablaufs der Präsidentschaftswahlen durch. Sie wird von 48 Langzeitbeobachtern umgesetzt, durch Korrespondenten der Zeitung »Grashdanskij golos« [dt.: Bürgerstimme] und Aktivisten der Assoziation GOLOS, die eine entsprechende Schulung durchlaufen haben. GOLOS schöpft seine Informationen aus den Medien, aus Experteninterviews mit Vertretern politischer Parteien, Leitern von Nichtregierungsorganisationen und Mitgliedern von Wahlkommissionen sowie aus Berichten von Bürgern, die während des Wahlprozesses Verstöße beobachtet und dies Vertretern von GOLOS persönlich oder auf der »Karte der Verstöße«, einem Projekt der Assoziation GOLOS, mitgeteilt haben.
Die Assoziation richtet ihre Aufmerksamkeit bei der Wahlbeobachtung vor allem auf folgende Aspekte:
Die Wahrung der Wählerrechte der Bürger und der Einhaltung der Wahlprozeduren;Die Arbeit der Wahlkommissionen;Den Einsatz administrativer Ressourcen während des Wahlprozesses;Die Gewährleistung gleicher Möglichkeiten für die Kandidaten und Parteien im Wahlkampf;Die Einhaltung der Prozeduren bei der Stimmabgabe, der Stimmenauszählung und der Bekanntgabe der Wahlergebnisse.
Dies ist die erste einer Reihe von Erklärungen, die den Ablauf des Wahlprozesses festhalten sollen.
Bis zum Ende des Wahlprozesses wird die Assoziation GOLOS mindestens zwei weitere Erklärungen zur Beobachtung der Wahlkampfphase sowie des Wahltages veröffentlichen.
Zum Ausgang der Wahlen wird die Assoziation GOLOS einen analytischen Bericht vorlegen, in dem alle erhaltenen Dokumente und Unterlagen zusammengestellt und analysiert werden sollen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei Verstößen gegen die Prinzipien freier und demokratischer Wahlen während sämtlicher Phasen des Wahlprozesses gewidmet. Mit den Berichten von GOLOS zu vorherigen Wahlen können Sie sich unter der Adresse http://www.golos.org/elections vertraut machen.
Nominierung und Registrierung der Kandidaten: Ergebnisse und Schlussfolgerungen
- Die Assoziation GOLOS hebt hervor, dass ungeachtet der mehrfach geäußerten Kritik am undemokratischen Charakter des derzeit geltenden Verfahrens zur Nominierung und Registrierung der Kandidaten sowie anderer Prozeduren bei der Wahl des russischen Präsidenten, der am 4. März 2012 erstmals auf sechs Jahre gewählt wird, keinerlei substantielle positive Veränderungen der Wahlgesetzgebung erfolgt sind. Diese sind von der Regierung erst für die nächsten Wahlen 2018 in Aussicht gestellt worden.
- Die Reglementierung des Verfahrens zur Wahl des Präsidenten ist in der derzeit gültigen Fassung des Gesetzes »Über die Wahl des Präsidenten der Russischen Föderation« überzogen; die erforderliche penible Einhaltung aller per Gesetz eingeführten Beschränkungen macht praktisch nur die Registrierung jener Kandidaten möglich, die von einer der Dumaparteien nominiert wurden (diese sind laut Gesetz von der Sammlung von Unterstützerunterschriften befreit), oder denen die Zentrale Wahlkommission eindeutig wohlgesonnen ist. Insbesondere bei der derzeit geltenden Regel von maximal zulässigen 5 % »Ausschuss« unter den geprüften Unterschriften, erscheint die Registrierung eines Kandidaten, der auf Unterschriftenlisten angewiesen ist, nur dann möglich, wenn die Zentrale Wahlkommission diesem Kandidaten eindeutig gewogen ist. Zudem ist es in Russland Praxis, dass sowohl unechte (falsche) Unterschriften als Ausschuss gewertet werden (und dies lediglich aufgrund entsprechender Meinungen von Experten), als auch jene Unterschriften, die real von tatsächlich existierenden Wählern geleistet wurden, jedoch diese oder jene handschriftlichen Vermerke oder Korrekturen technischer Art aufweisen.
- Unter diesen Umständen hängt die Frage, ob eine bestimmte Anzahl von Unterschriften als Ausschuss gewertet wird, allein vom Willen der Prüfenden ab. Den Kandidaten wird für die Sammlung von 2 Millionen Unterschriften lediglich ein Zeitraum von ungefähr einem Monat eingeräumt.
- Das Verfahren zur Registrierung der Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen ist das deutlichste Beispiel für die rechtliche Ungleichbehandlung von Kandidaten der außerparlamentarischen Parteien sowie Kandidaten, die sich selbst nominiert haben, gegenüber jenen der Dumaparteien – angefangen bei der stark überzogenen und unter den derzeitig herrschenden Umständen real nicht leistbaren Anzahl der erforderlichen Unterstützerunterschriften bis hin zu den ungleichen Möglichkeiten der Kandidaten bei der Benennung von Vertrauenspersonen oder den Fristen für die Wahlhandlungen.
- Hierdurch teilen sich die Kandidaten von Anfang an in drei nicht gleichberechtige Gruppen (Dumaparteien, außerparlamentarische Parteien, selbsternannte Kandidaten), und die selbsternannten Kandidaten sind hier am verwundbarsten. Ein Kandidat hat das Recht, 600 Vertrauenspersonen zu benennen. Eine politische Partei, die einen Kandidaten nominiert, kann ihrerseits 100 Vertrauenspersonen benennen. So kann ein durch eine Partei nominierter Kandidat insgesamt über bis zu 700 Vertrauenspersonen verfügen.
- Bei einer Selbstnominierung muss der Kandidat eine Wählergruppe von mindestens 500 wahlberechtigten Bürgern Russlands versammeln. Über Ort und Zeit, zu der sich diese Gruppe konstituiert, muss die Zentrale Wahlkommission oder die Wahlkommission des Föderationssubjekts, in dem die Versammlung stattfinden soll, mindestens fünf Tage vor dem geplanten Treffen in Kenntnis gesetzt werden. Dadurch kann bei entsprechendem Willen die Versammlung einer beliebigen Initiativgruppe zum Scheitern gebracht werden, nämlich dadurch, dass die Durchführung am vorgesehenen Ort verhindert wird (diesen kann der Kandidat bereits nicht mehr ändern).
- Zusammengenommen führen die ungerechtfertigt strengen Gesetzesbestimmungen, die allgemeine Verringerung der Zahl politischer Parteien und die knappe Zeit zwischen den beiden Wahlen zu einer wenig repräsentativen Zusammensetzung der Präsidentschaftskandidaten und zu einem mangelnden Wettbewerb, der in diesem Jahr – wie schon 2008 – weniger gegeben ist als bei allen anderen Präsidentschaftswahlen seit 1991.
- Die Assoziation GOLOS weist darauf hin, dass die realen Umstände, unter denen die erforderliche Unterschriftenzahl zu sammeln ist, nach Angaben der regionalen Koordinatoren in vielen Regionen zu großen Zweifeln Anlass geben.
- Einen Beleg für den Einsatz administrativer Ressourcen stellt bereits die Tatsache dar, dass die Gesetze zu den Präsidentschaftswahlen ganz mit Blick auf die Interessen der herrschenden Regierung verfasst wurden, und dass diese Gesetze es möglich machen, nur jene Opponenten des von der Regierung unterstützten »Hauptkandidaten« zu registrieren, die der herrschenden Elite genehm sind. Die Wahlen sind praktisch zu einem Referendum mit imitierter Konkurrenz gemacht worden, die keine reale Bedrohung für diesen einen Hauptkandidaten darstellt.
- Alle Versuche von nicht durch den Kreml sanktionierten Kandidaten an der Wahl teilzunehmen, sind im Grunde auf administrativem Wege unterbunden worden, indem ihnen die Nominierung und Registrierung praktisch unmöglich gemacht wurde.
- Ungeachtet der massenhaften Proteste gegen den Ausgang der Wahlen vom 4. Dezember 2011 und ungeachtet der Versuche der Regierung, in einer Reihe von Punkten einzelne Maßnahmen für eine politische Liberalisierung und eine Verbesserung der Wahlprozeduren zu versprechen, ist die Vertikale der unter aktiver Beteiligung der Exekutive gebildeten Wahlkommissionen unangetastet geblieben. Die übel wollendsten Leiter der Wahlkommissionen haben alle ihre Posten behalten. Gleichzeitig wird weiterhin versucht, offenen Druck auf Vertreter der Opposition und Aktivisten unabhängiger Nichtregierungsorganisationen auszuüben und sie einzuschüchtern.
- Es fällt auf, dass eine große Zahl Kandidaten der Partei »Einiges Russland« von einer Teilnahme an den Kommunalwahlen Abstand nehmen (in einigen Kommunen nominiert die Partei keinen einzigen Kandidaten). Gleichzeitig kommt es bei der Registrierung der Kandidaten für die Kommunalwahlen zu beträchtlichen »Säuberungen« unter den unabhängigen Bewerbern.
- Den aus den Regionen eingehenden Informationen zufolge wird die verhängnisvolle Praxis beibehalten, dass die Zentralregierung den regionalen Verwaltungen informell »Planvorgaben« für die Wahlbeteiligung und den Stimmenanteil des »benötigten« Kandidaten auferlegt (es kursieren Zahlen von 60 bis 65 %). In den Regionen hat es eine Welle von Entlassungen gegeben, bei denen Vertreter der Verwaltungsbürokratie abgelöst wurden, die bei den Wahlen am 4. Dezember 2011 »kein ausreichend gutes Ergebnis« für die Partei »Einiges Russland« gewährleistet hatten.
- Die Tätigkeit aller führenden Medien ist praktisch darauf ausgerichtet, unter dem Anschein einer Berichterstattung über die berufliche Tätigkeit des einen Kandidaten Wahlkampf für diesen zu betreiben. Laut Präsidentschaftswahlgesetz beginnt jedoch für einen Kandidaten die Phase des Wahlkampfes mit dem Tag seiner Nominierung und endet um null Uhr Ortszeit am Tag vor dem Wahltag. Ebenso muss ab Zeitpunkt der Nominierung der Wahlkampf aus dem Wahlkampfhaushalt des Kandidaten bestritten werden. Wahlwerbung in Rundfunk und Fernsehen sowie den Printmedien kann zudem nur in einem Zeitraum betrieben werden, der 28 Tage vor dem Wahltag beginnt.
Übersetzung: Hartmut Schröder
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des gemeinsamen Projektes von GOLOS, Europäischem Austausch, Heinrich Böll Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.