Zweite Erklärung der Assoziation GOLOS zu den Ergebnissen der Langzeitbeobachtung der lokalen Wahlen sowie der Präsidentschaftswahlen, 4. März 2012. Agitation und Wahlkampf

Moskau, 1. März 2012

Die Assoziation GOLOS führt eine Langzeitbeobachtung des Ablaufs der Präsidentschaftswahlen durch. Sie wird von 48 Langzeitbeobachtern umgesetzt, durch Korrespondenten der Zeitung »Grashdanskij golos« [dt.: Bürgerstimme] und Aktivisten der Assoziation GOLOS, die eine entsprechende Schulung durchlaufen haben. GOLOS schöpft seine Informationen aus den Medien, aus Experteninterviews mit Vertretern politischer Parteien, von Leitern von Nichtregierungsorganisationen und Mitgliedern von Wahlkommissionen sowie aus Berichten von Bürgern, die während des Wahlprozesses Verstöße beobachtet und dies Vertretern von GOLOS persönlich oder auf der »Karte der Verstöße«, einem Projekt der Assoziation GOLOS, mitgeteilt haben.

Die Assoziation richtet ihre Aufmerksamkeit bei der Wahlbeobachtung vor allem auf folgende Aspekte:

Die Wahrung der Wählerrechte der Bürger und die Einhaltung der Wahlprozeduren;die Arbeit der Wahlkommissionen;den Einsatz administrativer Ressourcen während des Wahlprozesses;die Gewährleistung gleicher Möglichkeiten für die Kandidaten und Parteien im Wahlkampf;die Einhaltung der Prozeduren bei der Stimmabgabe, der Stimmenauszählung und der Bekanntgabe der Wahlergebnisse.

Dies ist die zweite in einer Reihe von Erklärungen, die den Ablauf des Wahlprozesses festhalten sollen.

Zum Ausgang der Wahlen wird die Assoziation GOLOS einen analytischen Bericht vorlegen, in dem alle erhaltenen Dokumente und Unterlagen zusammengestellt und analysiert werden sollen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei Verstößen gegen die Prinzipien freier und demokratischer Wahlen während sämtlicher Phasen des Wahlprozesses gewidmet. Mit den Berichten von GOLOS zu bisherigen Wahlen können Sie sich unter der Adresse http://www.golos.org/elections vertraut machen.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen

Die gegenwärtige Wahlkampagne unterscheidet sich von der im Herbst 2011 lediglich dadurch, dass die Methoden, mit denen auf die Wähler Druck ausgeübt wird, vorsichtiger eingesetzt werden und in höherem Maße gefürchtet wird, dass dies bekannt wird und zu Skandalen in der Öffentlichkeit führt.

Darüber hinaus sind die Vertreter der Staatsmacht nach den Massenprotesten gegen den Verlauf der Dumawahlen vom 4.12.2011 einerseits darum bemüht, durch Versprechungen von Reformen im politischen System den Protest abzuschwächen (es sind Gesetzentwürfe zur Änderung des Parteiengesetzes, zum Verfahren der Kandidatenregistrierung – darunter zur Befreiung von der Sammlung der Unterstützerunterschriften für Kandidaten, die von politischen Parteien nominiert wurden – und zu den Gouverneurswahlen sowie ein neuer Entwurf für ein Dumawahlgesetz veröffentlicht worden). Andererseits wird gegen Vertreter der Opposition eine heftige Medienkampagne geführt.

Es gab einzelne Fälle, bei denen Staatsbeamte offen Wahlwerbung für Wladimir Putin begangen haben, doch ist es bezeichnend, dass sie um ein vielfaches weniger häufig sind als noch im Herbst 2011.

Der Wahlkampf findet hauptsächlich in den zentralen Fernsehkanälen statt, und hier werden auch die administrativen Ressourcen maximal eingesetzt, um in Gestalt einer Berichterstattung über die Amtstätigkeit indirekte Wahlwerbung für Wladimir Putin zu machen.

Gleichzeitig verleiht Putins Weigerung, an direkten Debatten mit den Opponenten teilzunehmen, diesem die Aura eines besonderen, herausgehobenen Kandidaten.

Die Amtsprivilegien des Ministerpräsidenten (Arbeitsbesuche im ganzen Land, Treffen mit Belegschaften, Auftritte mit Wahlkampfreden und -versprechen, eigene Beiträge in den Medien, Nachrichtenmeldungen …) werden dabei in vollem Umfang genutzt.

Es ist unstrittig, dass diese Privilegien in der russischen Wahlgesetzgebung verankert sind, worauf die Assoziation GOLOS in ihren Berichten vielfach hingewiesen hat. Die Verwaltungsgesetzgebung definiert jedoch eindeutig die Grenzen, die für die Nutzung der Amtsstellung zu privaten Zwecken bestehen. Es sei hier nur ein Beispiel genannt: Wurde die Versammlung im Sportkomplex Lushniki, die voll und ganz eine Wahlkampfveranstaltung eines der Kandidaten war, aus dessen Wahlkampfetat bezahlt?!

Gleichzeitig werden vor allem in den Regionen einzelne Teilnehmer der Protestaktionen unter Druck gesetzt und eingeschüchtert. Druck wird auch auf unabhängige Medien, Nichtregierungsorganisationen und Vertreter der Opposition ausgeübt.

Es ist eine Massenhysterie entfacht worden, bei der Nichtregierungsorganisationen und die Opposition beschuldigt werden, für ausländische Staaten tätig zu sein, was aus den landesweiten Medien bis auf die regionale Ebene verbreitet wird.

Angaben aus den Regionen zufolge besteht weiterhin die üble Praxis, dass die Zentralregierung den Verwaltungen vor Ort informell »Planvorgaben« zur Wahlbeteiligung und zum Stimmenanteil für den »richtigen« Kandidaten macht.

Es gibt starke Signale, dass Bürger praktisch zur Teilnahme an den Wahlen und zur Einholung eines Wahlscheins genötigt werden. Außerdem werden unmittelbar in den Betrieben Wahllokale eingerichtet und der 4. März wird zum Arbeitstag erklärt …

Insgesamt ist der Wahlkampf durch eine Vielzahl von Diskreditierungsaktionen sowohl gegen Vertreter der außersystemischen Opposition als auch gegen registrierte Präsidentschaftskandidaten geprägt. Im Internet und auf den Straßen wird auf private Initiative hin eine große Menge selbstgemachter Materialien verbreitet, die gegen Putin, die Partei Einiges Russland, den Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Tschurow etc. gerichtet sind. Dies ist zweifellos die Gegenseite zu der in den offiziellen Medien absolut dominierenden Wahlwerbung für Putin und der Agitation gegen die Opposition.

Zusammenfassend stellt die Assoziation GOLOS fest, dass die negativen Tendenzen vom Herbst 2011 sich bei den Präsidentschaftswahlen bruchlos fortsetzten, sich durch die harte Konfrontation zwischen »Anhängern« und »Gegnern« eines der Kandidaten verstärkten und dazu geführt haben, dass der Wahlkampf ohne eine normale politische Diskussion der wichtigsten Probleme und Fragen des Landes blieb.

Übersetzung: Hartmut Schröder

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