Einleitung
In Moskau und anderen russischen Städten wurden ab dem 11. November 2011 gezielt Razzien gegen illegale Arbeitsmigranten durchgeführt, innerhalb einer Woche kam es zu mehr als 1.500 Verhaftungen tadschikischer Gastarbeiter sowie zu zahlreichen Ausweisungen. Tadschikische Migranten, so hatte Konstanin Romodanowski, der Leiter der Föderalen Migrationsbehörde (FMS), Präsident Dmitrij Medwedew mitgeteilt, seien für den Großteil der Verstöße gegen die Einwanderungsgesetze verantwortlich.
Das entschiedene Vorgehen gegen illegale tadschikische Arbeitsmigranten geschah nahezu zeitgleich mit der Verurteilung zweier russischer Staatsbürger in Tadschikistan zu langjährigen Haftstrafen. Zwei russische Piloten waren nur wenige Tage zuvor in Duschanbe (Tadschikistan) wegen unrechtmäßiger Grenzübertretung, Verletzung der Fluggesetze und Schmuggels zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Dies führte zu diplomatischen Spannungen zwischen Russland und Tadschikistan und ließ im Mediendiskurs Spekulationen über einen Zusammenhang der Ereignisse lautwerden. Einen Überblick über die Ereignisse gibt die Chronik am Ende dieser Dokumentation.
Offizielle Stellungnahmen
Eine politische Dimension der Ereignisse wurde sowohl von russischer als auch von tadschikischer Seite offiziell bestritten. Während russische Amtsträger die Verurteilung der Piloten als unangemessen und nicht rechtens kritisierten, lehnte Tadschikistan jeglichen Zusammenhang des Gerichtsprozesses mit den zwischenstaatlichen Beziehungen ab und berief sich auf den verfassungsgemäßen Umgang mit Straftaten.
Erstmals nahm die russische Regierung am 9. November 2011 Stellung zu den Ereignissen. Außenminister Sergej Lawrow brachte in einem offiziellen Telefongespräch mit seinem tadschikischen Amtskollegen Hamrohon Sarifi seine Empörung über die Verurteilung der Piloten zum Ausdruck. Diese sei, so die auf der Homepage des russischen Außenministeriums veröffentlichte Stellungnahme, aufgrund des Fehlens überzeugender Beweise nicht rechtmäßig. Darüber hinaus habe Tadschikistan die bilaterale Konvention verletzt, indem das tadschikische Außenministerium die russische Seite nicht innerhalb der vereinbarten Frist über die Verhaftungen informiert habe.
Ebenfalls am 9. November äußerte sich Präsident Dmitrij Medwedew im Rahmen einer Pressekonferenz zu der Angelegenheit. Auf die Frage nach der bevorstehenden russischen Reaktion erklärte er:
Ich habe bereits gestern alle staatlichen Strukturen beauftragt, sich gründlich mit diesem Fall zu befassen: sowohl das Außenministerium, als auch die Rechtschutzorgane und das Justizministerium. (…)
(…) erwarten wir nun die offizielle Antwort der offiziellen Behörden, mit denen wir partnerschaftliche Beziehungen unterhalten, und anschließend werden wir Entscheidungen treffen. Und diese Entscheidungen können in Abhängigkeit von der Antwort unterschiedlich ausfallen: sie können symmetrisch oder asymmetrisch sein – und dann sehen wir, wie es sich weiter entwickelt.
Zugleich lehnte Medwedew jedoch sämtliche in den Medien diskutierten Spekulationen über einen Zusammenhang zwischen der Affäre um die verurteilten Piloten und dem entschiedenen Vorgehen der russischen Migrationsbehörde gegen tadschikische Arbeitsmigranten ab.
(…) ich sehe hier keinerlei Kampagne. Es ist so, dass es Aufgabe der Migrationsbehörde ist, sich um den Gesamtzustand der Migration im Land zu kümmern. (…) Ich denke, dies muss nicht periodisch, sondern permanent erfolgen. Den Umstand, dass dies mit den bekannten Ereignissen zusammenfiel, betrachten Sie bitte lediglich als einen Zufall. (…)
Der russische Botschafter in Tadschikistan Juri Popow äußerte im Gespräch mit dem stellvertretenden Innenminister Tadschikistans Mahmudschon Sobirow die Hoffnung auf eine baldige Lösung der Situation.
Die offizielle Reaktion des tadschikischen Präsidenten Emomali Rahmon beschränkte sich auf die Aussage, das Problem müsse diplomatisch gelöst werden:
Wir müssen diese Angelegenheit auf dem diplomatischen Weg lösen, aber im Rahmen der verfassungsmäßigen Gesetze Tadschikistans, und so, dass sie die partnerschaftlichen und strategischen Beziehungen mit Russland nicht vergiftet.
Darüber hinaus drückte der Stellvertretende Außenminister Mahmudschon Sobirow sein Bedauern über die Politisierung der Ereignisse aus:
(…) einseitige und vorurteilsbehaftete Darstellungen der Situation seitens der russischen offiziellen und unabhängigen Medien entsprechen nicht dem Geist einer strategischen Partnerschaft, und der guten und freundschaftlichen Beziehung, die zwischen Russland und Tadschikistan besteht.
Pressestimmen
Sowohl in der russischen als auch in der tadschikischen Presselandschaft finden sich unterschiedlichste Darstellungen und Interpretationen der russisch-tadschikischen Affäre.
Die russische Tageszeitung Moskowskij Komsomolets (MK) kommt – maßgeblich auf der Grundlage durch die russische Migrationsbehörde (FMS) bereitgestellter Informationen und Stellungnahmen, aber auch aufgrund eigener Recherche – zu dem Schluss, ein Zusammenhang zwischen der Verurteilung der Piloten und dem entschiedenen Vorgehen gegen tadschikische Arbeitsmigranten bestehe nicht. Stattdessen sei die Situation als ein Aufeinandertreffen von Zufällen zu beurteilen. Viele Medien übertrieben und skandalisierten den Fall.
Es hat sich herausgestellt, dass die Situation in hohem Maße aufgebauscht wurde. Man hat einfach beschlossen, aus einem passenden Zufall das Maximum herauszuholen. Aber die Träume der Nationalisten von einer »Säuberung« der Stadt werden nicht wahr werden. (…)Es existieren im Allgemeinen weder Xenophobie noch asymmetrische Antworten der russischen Machthaber.
Die gesamte Situation und die Abschiebung der tadschikischen Gastarbeiter, so die Zeitung, habe die tadschikische Seite lediglich zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele benutzt.
Am gleichen Tag stellte der Kommersant unter Verweis auf eine anonyme Quelle im russischen Innenministerium (MID) eine Verbindung zwischen der Verurteilung der russischen Piloten und den verstärkten Razzien her. Diese seien Teil der durch Präsident Medwedew angekündigten »asymmetrischen Antwort« auf das unrechtmäßige Vorgehen gegen die Piloten. Des Weiteren zitiert der Kommersant Fedor Lukianow, Chefredakteur der Zeitschrift Russland in der globalen Politik, der diese Einschätzung der Situation teilt:
Die antitadschikische Kampagne wird an dem Tag enden, an dem Duschanbe den Piloten ihre Freiheit garantiert. Die russische Seite versteht, dass sie selbst eine solche Resonanz […] nicht gebrauchen kann und ist daher daran interessiert, diesen Skandal zu beenden.
Auch Wedomosti spekuliert, Russland benutze das Vorgehen gegen die Arbeitsmigranten als gezieltes Druckmittel, um auf eine Freilassung der beiden Piloten hinzuwirken.
Bereits am 13. November 2011 beleuchtet die Komsomolskaja Prawda einen weiteren Aspekt des Falles und bringt damit eine neue mögliche Interpretation der Ereignisse ins Spiel. Im Jahr 2010 waren in Moskau vier junge Tadschiken wegen eines Drogendeliktes zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Darunter befand sich auch der Sohn des Leiters der Tadschikischen Eisenbahn, der zugleich ein Verwandter des tadschikischen Präsidenten Rahmon ist. Inoffizielle Bemühungen um die Freilassung der Inhaftierten waren erfolglos geblieben. Ein halbes Jahr nach der Verurteilung der Tadschiken waren die russischen Piloten verhaftet worden. Die Tatsache, dass die tadschikischen Inhaftierten nur einen Monat nach der Erteilung der Amnestie für die russischen Piloten freigelassen wurden, trägt zur Plausibilität dieser Interpretation der Zusammenhänge bei.
Auch in Tadschikistan löste die Affäre einen Mediendiskurs aus, im Rahmen dessen tadschikische Experten unterschiedliche Einschätzungen vornahmen. Die tadschikische Nachrichtenagentur Avesta.tj veröffentlichte am 23.11.2011 ein Interview mit dem Vorsitzenden der Nationalen Assoziation der Politologen Tadschikistans Abdugani Mamadasimov, in dem er die »asymmetrischen Maßnahmen« des Kremls als Generalprobe für weitere Schritte beurteilte.
Eine »strategische Partnerschaft« [zwischen Russland und Tadschikistan] besteht nur auf dem Papier. (…) Der Fall der Piloten wurde zum Vorwand für die Ausübung von Druck zur Erreichung der [russischen] Ziele in Tadschikistan. Zum Beispiel war die Frage der russischen Grenzwachen bereits entschieden, und nun will Russland das Versäumte nachholen, indem es alle möglichen Methoden für eine Rückkehr nach Amudaria nutzt, um dann durch die Länder Zentralasiens weiter an die warmen Meere zu gelangen.
Der unabhängige Sozialwissenschaftler Rustam Safarov verweist auf den Zusammenhang der russischen Reaktion mit dem Wahlkampf im Vorfeld der russischen Parlamentswahlen, der sich zum Zeitpunkt der Affäre in seiner entscheidenden Phase befand. Nachdem der Fall der verurteilten Piloten zunächst auf die Initiative von Kremlgegnern hin in die Medien gelangte, habe sich die Situation schnell grundlegend gewendet.
Der Kreml hat die Bedeutung und Ernsthaftigkeit des Vorwahl-Moments verstanden und die Initiative ergriffen. (…) Die Interessensgemeinschaft im Kreml war mit ihren Stellungnahmen und den verfälschten, falsch verbreiteten Darstellungen nicht zögerlich, und hat einen massiven Angriff auf den tadschikischen Staat begonnen, […], um die gesellschaftliche Meinung für konkretere Maßnahmen der Machthaber vorzubereiten. (…) Wie auch immer, das Spiel ist noch nicht vorüber, vor allem für Russland. Mit seinem Handeln hat es erneut sein wahres Gesicht gezeigt und deutlich gemacht, dass es nicht als gewissenhafter Partner gelten kann.
Wie sehr die Affäre den bilateralen Beziehungen zwischen Russland und Tadschikistan geschadet hat, ist bisher nicht abzusehen. Ein langfristig entschiedenes Vorgehen der russischen Behörden gegen (tadschikische) illegale Arbeitsmigranten wäre für die tadschikische Volkswirtschaft verheerend. In Anbetracht des russischen Bedarfs an billigen Arbeitskräften und der Tatsache, dass zentralasiatische Arbeitsmigranten eine wichtige Alternative zu chinesischen Arbeitskräften darstellen, ist ein solches Vorgehen allerdings unwahrscheinlich. Wirtschaftliche Erwägungen Moskaus dürften gegenüber nationalistischen Stimmungen letztlich auch weiterhin dominant bleiben.
Chronik des Konfliktes
Vom 12. März 2011 bis zum 09. Dezember 2011
12.03.2011
Zwei Maschinen der russischen Fluggesellschaft Rolkan Investments Ltd erreichen aus Kabul den Flughafen der tadschikischen Stadt Kurgan-Tiube zur Zwischenlandung. Die beiden Piloten Vladimir Sadownitschi (RUS) und Alexej Rudenko (EST) werden zusammen mit der Crew in Untersuchungshaft genommen. Ihnen wird unrechtmäßige Grenzübertretung, Verletzung der internationalen Fluggesetze und Schmuggel vorgeworfen.
12.05.2011
Gegen die beiden Piloten Sadownitschi und Rudenko wird Haftbefehl erlassen. Der Rest der Crew wird aus der Untersuchungshaft entlassen.
16.05.2011
Die Fluggesellschaft Rolkan wendet sich an die russische Botschaft in Tadschikistan.
31.05.2011
Die tadschikischen Behörden setzen das russische Außenministerium offiziell über die Verhaftung der Piloten in Kenntnis.
12.10.2011
Beginn des Gerichtsverfahrens gegen die angeklagten Piloten.
25.10.2011
Der Vorfall wird erstmals in russischen Medien thematisiert. In einem Interview mit Echo Moskwy äußert sich der Sohn Sadownitschis.
08.11.2011
Die beiden Piloten werden durch das Gericht in Kurgan-Tiube wegen unrechtmäßiger Grenzübertretung, Verletzung der internationalen Fluggesetze und Schmuggel zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.
09.11.2011
In einem Telefonat mit dem tadschikischen Außenministerium wirft Russlands Außenminister Lawrow den tadschikischen Behörden einen Verstoß gegen die geltende bilaterale Vereinbarung vor, die Gegenseite innerhalb von 3 Tagen über Verhaftungen ihrer Staatsbürger in Kenntnis zu setzen. Damit sei das Vorgehen nicht rechtmäßig gewesen.
10.11.2011
Der Leiter der russischen Föderalen Migrationsbehörde (FMS) informiert Russlands Präsidenten Medwedew darüber, dass tadschikische Gastarbeiter für den Großteil der Verstöße gegen die Einwanderungsgesetze verantwortlich seien. Rund 10 % der 2 Mio. in Russland lebenden Tadschiken hielten sich illegal im Land auf.
11.11.2011
In durch Kritiker als »asymmetrische Reaktion« bezeichneten Razzien gegen illegale tadschikische Gastarbeiter werden in Moskau ca. 100 Gastarbeiter nach Tadschikistan ausgewiesen, ca. 25 Tadschiken kommen in Untersuchungshaft. In verschiedenen russischen Städten folgen weitere Razzien, Verhaftungen und Ausweisungen. Innerhalb einer Woche werden ca. 1.500 tadschikische Gastarbeiter verhaftet.
14.11.2011
Der Leiter der russischen staatlichen Sanitätsaufsicht, Gennadi Onischenko rät der russischen Regierung aus medizinischen Gründen zu einem vorübergehenden Verbot tadschikischer Arbeitsmigration nach Russland. In jüngster Zeit seien tadschikische Gastarbeiter häufig an Tuberkulose, AIDS oder Syphilis erkrankt.
18.11.2011
Die tadschikische Sanitätsaufsicht wirft Onischenko die Missachtung der Menschenrechte vor.
21.11.2011
Die russische Landwirtschaftliche Aufsichtsbehörde schlägt der Regierung ein Importverbot für sämtliche pflanzlichen Produkte aus Tadschikistan vor.
22.11.2011
Das Urteil der Piloten wird auf jeweils zweieinhalb Jahre Haft reduziert. Auf Grundlage einer Amnestie, die noch bis zum 1. Dezember in Kraft ist, werden die Inhaftierten freigelassen.
09.12.2011
Der Leiter der tadschikischen Migrationsbehörde Devonaev verhandelt mit dem Leiter des russischen Föderalen Migrationsdienstes (FMS) Romodanowski über eine Verbesserung der Situation der tadschikischen Gastarbeiter in Russland.