Ursachen und Umfang der Arbeitsmigration
Migrationsbewegungen von Tadschikistan nach Russland gibt es seit der staatlichen Unabhängigkeit des Landes 1991. Während des tadschikischen Bürgerkrieges (1992–1997) flüchteten hunderttausende Bürger nach Russland oder emigrierten aus ethnischen und politischen Gründen dorthin. Aufgrund der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Instabilität Tadschikistans begann Ende der 1990er Jahre die gezielte Arbeitsmigration in die Russische Förderation. Nach Studien der International Labour Organization (ILO) arbeiten tadschikische Migranten hauptsächlich im Bausektor, aber auch in der Gas- und Ölindustrie sowie im Dienstleistungsbereich. Sie kommen, teils saisonal, teils für einen längeren Zeitraum, vor allem in die Ballungsräume von Moskau, St. Petersburg und Sibirien. Die meisten von ihnen sind Männer zwischen 18 und 59 Jahren.
Auf dem russischen Arbeitsmarkt gibt es neben einem wachsenden Bedarf an hochqualifizierten Fachkräften auch einen Mangel an Arbeitskräften im Niedriglohnsektor. Migranten füllen oft Positionen aus, die von Einheimischen aufgrund der geringen Bezahlung abgelehnt werden. Durch einen Arbeitsaufenthalt in Russland entgehen sie der Einkommensarmut und Perspektivlosigkeit im eigenen Land. Sie haben die Aussicht, dort das zehn- bis zwanzigfache als in ihrer Heimat zu verdienen. Monatsgehälter in Tadschikistan belaufen sich derzeit auf 9–75 Euro. Ein guter Verdienst für Arbeitsmigranten aus Tadschikistan liegt in Russland dagegen bei etwa 750 Euro (30.000 Rubel), ein überdurchschnittlicher bei 1500 Euro pro Monat.
Verlässliche Statistiken über die genaue Zahl der tadschikischen Arbeitsmigranten sind bis heute nicht verfügbar, da es unter ihnen eine sehr hohe Anzahl an Personen gibt, die nicht registriert oder im informellen Sektor tätig sind. Nach Schätzungen internationaler Experten gab es in Russland Anfang 2000 etwa 550.000–650.000 Arbeitsmigranten aus Tadschikistan, von denen die wenigsten jedoch legal arbeiteten. Inzwischen gehen Organisationen wie die ILO davon aus, dass ihre Zahl die Millionengrenze überschritten hat. Das bedeutet, dass gegewärtig etwa ein Siebentel der Gesamtbevölkerung des Landes in Russland arbeitet.
Etwa 20 bis 50 Prozent der privaten Haushalte in Tadschikistan erhalten Rücküberweisungen aus der Arbeitsmigration. Dies ist ein wichtiger Beitrag zu ihrer Ernährungssicherheit und sozialen Absicherung. Einkünfte aus der Arbeitsmigration ermöglichen zudem den Erwerb von Autos und Immobilien sowie die Finanzierung von Familienzeremonien, muslimischen Feiertagen oder von Pilgerreisen. Nach Ansicht eines Experten des Internationalen Währungsfonds hat das private Kapital, das in Tadschikistan durch die Migrantenhaushalte in Umlauf gebracht wird, bisher jedoch nicht den Umfang, um dort entscheidende Transformationsprozesse anzuregen.
Situation der Arbeitsmigranten
Die Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Arbeitsmigranten in Russland sind prekär. Dies gilt besonders für den Bausektor. Die Arbeit auf den Baustellen ist schwer und durch mangelnden Arbeitsschutz oft lebensgefährlich. Viele Arbeiter wohnen in Rohbauten, Abbruchhäusern oder Bauwagen ohne Heizung, Wasser und Strom. In diesen Milieus kommt es immer wieder zu gewalttätigen Konflikten, oftmals unter Alkoholeinfluss. Stellenweise teilen sich 20 Menschen eine 2–3 Zimmer-Wohnung, oft ohne sanitäre Einrichtungen. In den meisten Fällen werden Migranten ausgebeutet: sie arbeiten täglich länger als zwölf Stunden, sie kennen kein Wochenende, bekommen keinen Urlaub, und erhalten für die gleiche Arbeit einen niedrigeren Lohn als einheimische Arbeitnehmer. Oft gibt es Lohnausstände oder die Vergütung erfolgt nur in Lebensmitteln.
Ein zentrales Problem für viele Arbeitsmigranten aus Tadschikistan sind ihre mangelhaften Russischkenntnisse, insbesondere unter den 18- bis 30-Jährigen. Ihre sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten führen zu vielen Folgeproblemen und lassen sich unter anderem mit dem defizitären Bildungssystem in ihrer Heimat begründen.
Die Einreise nach Russland ist für Tadschiken und Bürger der meisten GUS-Republiken visumfrei und damit, zumindest per Flugzeug, erst einmal unproblematisch. Die Hürden, die sich danach auftun, betreffen vor allem den rechtlichen Aufenthaltsstatus. Innerhalb von 90 Tagen nach der Ankunft müssen sich Einreisende aus dem GUS-Raum beim Staatlichen Migrationsdienst (FMS) auf einen Wohnort registrieren lassen. Es ist für die meisten Migranten schwierig, all die damit verbundenen Auflagen zu erfüllen. Zudem ist nach Einschätzung einer ILO-Expertin die Servicebereitschaft des FMS nicht wirklich gegeben. Viele Migranten besorgen sich daher lieber eine Registrierung über Vermittler oder zahlen ein monatliches »Schweigegeld« an den für das Wohnviertel zuständigen Polizisten.
Wer als Ausländer in Russland legal arbeiten will, braucht eine Arbeitsgenehmigung. Die Beantragung dieser Genehmigung dauert oft einen Monat. Dafür ist ein schriftlicher Arbeitsvertrag nötig. Bei einem Arbeitsaufenthalt von mehr als drei Monaten sind auch Bescheinigungen darüber erforderlich, dass die Migranten frei von Infektionskrankheiten sind. Für manche Tätigkeiten braucht man ein zusätzliches Gesundheitszeugnis, das nur speziell autorisierte Gesundheitsbehörden ausstellen können. Außerdem ist die Ausgabe der Genehmigung an einen Qualifikationsnachweis gebunden und die regionale Quote für das jeweilige Beschäftigungssegment darf noch nicht ausgeschöpft sein. Um das Beantragungsverfahren zu vereinfachen, kann man sich wiederum an private Vermittler wenden. Die Kosten für die informelle Beschaffung betragen allerdings ein Vielfaches des Behördensatzes. Im Mai 2011 etwa kostete eine Arbeitsgenehmigung beim FMS in Petersburg 2000 Rubel, bei einer der zahlreichen privaten Agenturen dagegen 14.000 Rubel. Das Problem für Migranten besteht bei »informellen Deals« neben dem erhöhten Kostenfaktor darin, dass die Vermittler sie oft lange hinhalten, häufig gefälschte Dokumente beschaffen, oder die nur verbal zugesicherte Unterstützung zuweilen ganz verweigern. Viele Migranten leben daher unter der ständigen Angst vor Polizeikontrollen, ihr psychischer Stress ist enorm. Nach Zahlung entsprechender Geldstrafen werden sie zwar meist wieder aus dem Polizeigewahrsam entlassen, bei mehrmaligen Verstößen gegen die Regelungen zur Arbeitsgenehmigung droht ihnen jedoch die Ausweisung und ein fünfjähriges Arbeitsverbot. 2010 wurden von staatlicher Seite so genannte Patente eingeführt. Durch den Kauf eines Patents erwirbt ein Migrant eine Arbeitsgenehmigung im privaten Hauswirtschaftssektor und entrichtet im Voraus Steuern. Patente können auch von Migranten erworben werden, die bis dahin irregulär gearbeitet haben. Insofern sind sie ein wichtiger Schritt in Richtung Legalisierung von Arbeitsmigration. Für die Mehrzahl der tadschikischen Migranten sind sie jedoch nicht interessant, da sie vorrangig im Bausektor tätig sind.
Auch die Sozialversicherung stellt bisher ein ungelöstes Problem dar. Arbeitgeber, die Migranten legal beschäftigen, brauchen bis dato keine Sozialversicherungsbeiträge für sie zu entrichten. In der Regel schließen Arbeitsmigranten in Russland keine eigene private Krankenversicherung ab. Dies ist besonders problematisch für Schwangere und für Menschen, die schwer erkranken. Sie erhalten meist nur eine Notfallbehandlung. Migranten verschleppen daher oftmals ansteckende Krankheiten wie TBC und kehren krank nach Hause zurück. Teilweise setzen sich die Probleme der Migranten hinsichtlich des legalen und sozialen Aufenthaltsstatus auch bei ihren Kindern fort. Diese werden an russischen Schulen nur dann aufgenommen, wenn ihre Eltern eine gültige Registrierung haben; manchmal müssen sie auch eine Krankenversicherung nachweisen.
Die Lebenssituation für Migranten aus Tadschikistan und anderen Ländern Zentralasiens wird in Russland auch dadurch erschwert, dass sie dort aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werden. In der Wahrnehmung tadschikischer Migranten kam es in russischen Großstädten ab Anfang 2000 zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen lokalen Einwohnern und »nichtslawischen« Zuwanderern. Es gab erste rassistisch motivierte Übergriffe, und es formierten sich Gruppen wie die Bewegung gegen illegale Immigration. Auch nach dem Verbot dieser rechtsextremistischen Gruppierung gibt es weiterhin eine aktive Neonaziszene. Viele gewalttätige Attacken gegen Migranten werden strafrechtlich jedoch nur unzureichend oder gar nicht aufgearbeitet. Das Menschenrechtszentrum Sova dokumentierte für 2010 und 2011 insgesamt 577 rassistisch motivierte Gewalttaten – von Körperverletzung bis hin zum Mord –, von denen 132 Menschen aus Zentralasien direkt betroffen waren. Auch viele Vertreter der Rechtsschutzorgane verhalten sich diskriminierend gegenüber Arbeitsmigranten. Immer wieder kommt es vor, dass die Polizei ihnen gegenüber verbal übergriffig wird, ihre Dokumente wegnimmt, Geld von ihnen einfordert und sie körperlich attackiert. Solche Rechtsverletzungen werden strafrechtlich ebenfalls kaum geahndet.
Weitere Akteure der Arbeitsmigration
Der russische Migrationsdienst FMS ist die zentrale staatliche Behörde für Migranten in Russland. Er ist dem Innenministerium unterstellt und sieht seine Hauptaufgabe in der Regulierung der Migration und in der Überwachung von Ausländern. 2009 hat der FMS neue Beratungsgremien geschaffen, in denen ausgewählte Migrationsforscher bzw. Vertreter aus NGOs, Diasporaorganisationen und den Medien mitwirken. Dort werden regelmäßig aktuelle Migrationsfragen besprochen, allerdings ohne die Beteiligung von Arbeitsmigranten.
Von den zuvor bereits erwähnten privaten Vermittlungsfirmen für Migranten, distanziert sich der FMS, gibt aber zu verstehen, dass deren illegale Aktivitäten trotz Strafverfolgung nicht eingedämmt werden können. Die Fälschungen der Vermittlungsfirmen seien schwer nachzuweisen und verschwänden bei Razzien oft. Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL St. Petersburg hängt dies mit der Korruption im Migrationsdienst und in den Vermittlungsagenturen zusammen. Die Korruption führt dazu, dass die Firmen in der Lage sind, auch rechtsgültige Dokumente auszustellen, obwohl offiziell nur der FMS dazu autorisiert ist.
Angesichts niedriger Löhne im informellen Sektor besteht seitens russischer Arbeitgeber ein großes Interesse an der Aufrechterhaltung der irregulären Beschäftigung von Migranten. Nach Einschätzung der Migrationsexpertin Elena Tyuyurkanova arbeiten über 70 Prozent der Migranten in Russland ohne Arbeitsvertrag. Laut einer Umfrage des russischen Verbandes der kleinen und mittleren Unternehmen von 2010 finden 70 Prozent aller befragten Firmen die Registrierungsprozeduren zur Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern zu kompliziert und verzichten auf deren Anstellung. Die Strafen für Arbeitgeber bei illegaler Beschäftigung von Ausländern betragen mittlerweile zwischen 10.000 und 20.000 Euro (400.000–800.000 Rubel). Die Durchsetzung von Sanktionen ist meist schwierig und weist noch erhebliche Lücken auf. Die Agentur für Arbeit ROSTRUD, unter anderem verantwortlich für die Kontrolle der legalen Anstellung von Arbeitsmigranten, kann zum Beispiel nur dann intervenieren, wenn es einen schriftlichen Arbeitsvertrag gibt. Russische Gewerkschaften sind erst seit kurzem bereit, sich für die Rechte von Arbeitsmigranten einzusetzen.
Seit einigen Jahren engagiert sich der Verband der kleinen und mittleren Unternehmen für eine Liberalisierung der Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften und regte 2010 die Weiterentwicklung der bisherigen Migrationsstrategie an. Hintergrund dafür waren Schwierigkeiten vieler Unternehmen, ihren Bedarf an Fachkräften abzudecken und statistische Prognosen, dass es Russland im Jahr 2030 voraussichtlich an 11 Millionen Arbeitskräften mangeln wird.
Die neue Migrationsstrategie zielt hauptsächlich darauf ab, Anreize für die Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften zu schaffen, und soll bis 2025 umgesetzt werden. Maßnahmen, die dabei besonders für zentralasiatische Arbeitsmigranten von Bedeutung sind, beinhalten u. a. die Abschaffung des Quotensystems, die Einführung einer freiwilligen Krankenversicherung und die Schaffung von speziellen Wohnheimen für saisonale Migranten.
Sozialer Zusammenhalt in Migrantengemeinschaften
Tadschikische Arbeitsmigranten sind in Russland zunächst in Gemeinschaften integriert, die im Prozess der Migration entstehen. Davon gehen Sozialforscher wie Saodat Olimova (Forschungszentrum SHARQ, Dushanbe) und Hafiz Boboyorov (Zentrum für Entwicklungsforschung, Bonn) aus, die sich bereits intensiv mit der tadschikischen Arbeitsmigration befasst haben. Der Zusammenhalt in informellen Migrantengruppen beruht auf der sozioökonomischen Gemeinschaft von Blutsverwandten, patriarchalischen Rollenverteilungen und der moralischen Pflicht zu gegenseitigem Beistand. Dieses Konzept von Selbsthilfe und sozialem Schutz ist bis heute in vielen Teilen Tadschikistans von zentraler Bedeutung. Dabei haben die Rechte der Familie und des Klans ein stärkeres Gewicht als individuelle Interessen. Das Oberhaupt einer Gruppe übt nahezu unangefochten Autorität aus und beeinflusst auch Migrationsentscheidungen. Ältere, erfahrene Arbeitsmigranten übernehmen in Russland daher eine Art Patenrolle für die jüngeren, unerfahrenen Migranten und finanzieren ihnen zum Beispiel die Reise. Sie arbeiten oft beim gleichen Arbeitgeber oder wohnen im selben Quartier. Außerdem gibt es eine starke Verbundenheit zwischen nicht verwandten Migranten desselben Herkunftsortes oder derselben Herkunftsregion. Sie zahlen gegebenenfalls sogar Lösegeld füreinander, wenn einer von ihnen bei einer Polizeikontrolle in ernsthafte Schwierigkeiten geraten ist. Von Mitgliedern der Gemeinschaft wird erwartet, dass sie die Hilfe und Unterstützung, die ihnen zuteil geworden ist, an Angehörige der Gruppe zurückgeben. Daher arbeiten viele Migranten zunächst oft unentgeltlich oder können über ihre Einkünfte nicht allein verfügen. Sie stehen zudem nicht nur unter dem Schutz ihrer Gemeinschaft, sondern auch unter deren sozialer Kontrolle. In diesen informellen Netzwerken werden überdies gemeinschaftliche Feste und religiöse Zeremonien organisiert. Es gibt unter ihnen auch Mitglieder, die regelmäßig die Gebetszeiten in der Moschee wahrnehmen. Sie genießen besondere Achtung und stellen eine Verbindung zur Gemeinschaft der Muslime her.
Russische Ehefrauen werden im Rahmen dieses Konzeptes als Möglichkeit angesehen Zugang zur russischen Gesellschaft zu finden. Durch die Eheschließung kann ein Migrant die russische Staatsbürgerschaft erhalten und seinen Aufenthaltsstatus langfristig absichern. Mittlerweile gibt es unter Tadschiken die Tendenz, ihre Ehe in Tadschikistan nur nach muslimischem Recht zu schließen. Auf diese Weise können sie in Russland standesamtlich heiraten, ihre Ehe(n) im eigenen Land aufrechterhalten oder diese jederzeit annullieren. Dies konfrontiert die davon betroffenen Frauen und Kinder in Tadschikistan jedoch mit vielen Problemen, angefangen vom Armutsrisiko bis hin zu ungeklärten Fragen zum Sorgerecht.
Die Rolle von Diasporaorganisationen
In Russland existiert eine Vielzahl von Migranten- und Diasporaorganisationen. Darunter gibt es sowohl Dachverbände wie den Kongress der Armenier, die politisch einflussreich sind, als auch lokal sehr begrenzte Vereine. Insgesamt gibt es etwa 70 Organisationen von Migranten aus Tadschikistan, die offiziell registriert sind. Darin engagieren sich meist Tadschiken, die bereits seit längerem in Russland leben, deren rechtlicher Aufenthaltsstatus abgesichert ist und die sich sozial und wirtschaftlich bereits etabliert haben. Für diese Gruppe von Migranten hat sich in Russland seit etwa zehn Jahren die Bezeichnung Diaspora durchgesetzt.
Staatliche Akteure in Russland und Tadschikistan interessieren sich zunehmend für Diasporaorganisationen. Der russische Migrationsdienst pflegt seit einiger Zeit regelmäßige Beziehungen zu ausgewählten Diasporavereinen, und in Tadschikistan wurde unlängst ein eigenes Strategiepapier zur Zusammenarbeit mit der Diaspora verfasst.
Zivilgesellschaftliche und internationale Akteure in Russland stehen zentralasiatischen Migranten- und Diasporaorganisationen generell eher skeptisch gegenüber. Ihrer Ansicht nach gibt es eine Vielzahl stark fragmentierter Gruppen, die keine inhaltliche Agenda, keinen politischen Status und nur eine geringe organisatorische Kapazität haben. Arbeitsmigranten und Migrantenorganisationen werden als voneinander grundsätzlich verschiedene Gruppen wahrgenommen, deren Interessen und Lebenswirklichkeiten sehr weit auseinander liegen. Während die meisten Arbeiter ständig von der Ausweisung bedroht sind und am Rand der Gesellschaft verharren, sind es die Migranten mit abgesichertem Aufenthaltsstatus, die Organisationen gründen und sich gesellschaftlich engagieren. Nach Einschätzung externer Beobachter verfolgen viele Diasporavereine gegenüber Arbeitsmigranten vor allem kommerzielle Interessen. Sie tragen mit dazu bei, dass neu angekommene Migranten in einen irregulären Rechtsstatus hineingeraten oder darin verbleiben. Teilen der Diaspora sagt man sogar nach, in den Menschenhandel involviert zu sein. Nur einige wenige Vereine genießen solch eine uneingeschränkte Anerkennung für ihre engagierte Arbeit wie die Menschenrechtsorganisation Migration and Law in Moskau.
Im Rahmen von Interviews mit verschiedenen tadschikischen, kirgisischen und usbekischen Diasporaorganisationen in Moskau und St. Petersburg wurde deutlich, dass die Arbeit dieser Vereine meist von Menschen getragen wird, die einen hohen Bildungsgrad haben und noch in der Sowjetzeit nach Russland gekommen sind. Sie fanden sich zunächst zusammen, um eigene kulturelle Traditionen zu pflegen und wurden erst allmählich zur Anlaufstelle für Arbeitssuchende aus ihrem Herkunftsland. Heute beraten sie diese vor allem auf individueller Ebene, teils gratis, teils kostenpflichtig. Eine gezielte Lobbyarbeit für die Rechte und Interessen der Arbeitsmigranten war nicht oder nur ansatzweise zu erkennen. Die interviewten Vereine grenzten sich teilweise auffällig stark voneinander ab und standen auch staatlichen und internationalen Akteuren zum Teil kritisch bis ablehnend gegenüber. Im folgenden Abschnitt werden drei tadschikische Diasporavereine näher vorgestellt, um einen Eindruck von ihrem Selbstverständnis und vom breiten Spektrum ihrer Aktivitäten zu vermitteln.
Verein »Tadschikische Arbeitsmigranten«, Moskau:
»Wir wollen unabhängige Hilfe für Tadschiken in Russland anbieten, damit sie keine Extremisten oder Terroristen werden.«
Die Vereinigung tadschikischer Arbeitsmigranten besteht seit 2001 und hat fast 50 Außenstellen in ganz Russland. Ihr Ziel ist es, tadschikische Migranten durch Beratung, Informations- und Medienarbeit zu unterstützen. Für den Verein arbeiten neben zahlreichen Rechtsanwälten und Journalisten etwa 150 Freiwillige. Der Verein finanziert sich durch Spenden von Geschäftsleuten und aus den Gebühren für seine Rechtsberatung. Er gibt verschiedene russisch-tadschikischsprachige Wochenzeitungen heraus und auf seiner Webseite www.tajmigrant.com werden unter anderem Firmennamen mit der Höhe ihrer Lohnausstände gegenüber Migranten veröffentlicht. Der Vorsitzende des Vereins setzt sich offensiv mit der Diskriminierung von Tadschiken in Russland auseinander und versucht, Einfluss auf die politische Meinungsbildung von tadschikischen Arbeitsmigranten zu nehmen.
Verein der Pamir-Tadschiken »NUR«, Moskau:
»Wir sind sowohl offen für Ismailis als auch für andere Menschen aus dem Pamir.«
Der Verein wollte in seiner Anfangszeit Mitte der 1990er Jahre vor allem Pamir-Tadschiken ansprechen und ihr kulturelles und spirituelles Selbstbewusstsein stärken. Ende der 1990er Jahre erhielt man immer mehr konkrete Anfragen von Arbeitsmigranten mit der Bitte um Unterstützung. Heute versteht sich NUR als Kulturverein, der sich auch für Arbeitsmigranten engagiert – durch finanzielle Hilfe in Notsituationen, Arbeitsvermittlung, Beratung, Bildung und Kultur. Der Verein hat etwa 1700 lose assoziierte Mitglieder. Er wird von der Aga-Khan-Stiftung finanziert, welche Angehörige der ismailitischen Religionsgemeinschaft weltweit fördert. Außerdem erhält er Spenden von russischen Banken, die auf Kulturveranstaltungen Werbung für ihre Finanzdienstleistungen machen dürfen.
Verein tadschikischer Studenten »MOST«, St. Petersburg:
»Die richtigen Probleme der Arbeitsmigranten wollen und können die Diaspora-Organisationen nicht lösen. Wenn die Beratung funktionieren würde, gäbe es unseren Verein nicht.«
Dieser Verein hat sich erst kürzlich in St. Petersburg registrieren lassen und ist auf Stadtebene aktiv. Die Gründungsmitglieder sind tadschikische Absolventen von Petersburger Hochschulen. Der Verein hat etwa 300 Freiwillige. Sie organisieren ehrenamtlich Unterstützung für tadschikische Arbeitsmigranten, vor allem kostenlose medizinische Behandlung und Sprachvermittlung. Der Verein will eine Brücke sein zwischen Behörden in St. Petersburg und neu eingereisten Migranten aus Tadschikistan. Von tadschikischen Diasporavereinen und staatlichen Stellen in Tadschikistan distanziert er sich. Derzeit sucht man nach externer finanzieller Unterstützung für größere Projekte.
Fazit
Arbeitsmigranten aus Tadschikistan agieren in Russland vor allem als Teil informeller Netzwerke. Sie erfahren in ihren Gemeinschaften sozialen Zusammenhalt und organisieren gegenseitige Unterstützung. Probleme wie Lohnausstände, Willkür staatlicher Behörden oder rassistische Diskriminierung werden dadurch zwar nicht ursächlich gelöst, aber stark abgefedert.
Privatwirtschaftliche Akteure spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung von ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen im russisch-tadschikischen Migrationssystem. Die Fähigkeit und das Interesse staatlicher Akteure eine legale und sozial verantwortliche Arbeitsmigration durchzusetzen, ist hingegen stark begrenzt.
Diaspora- und Migrantenorganisationen sind teilweise sehr gut vernetzte und gesellschaftlich etablierte Akteure. Für sie stellen Arbeitsmigranten seit einigen Jahren eine wichtige Zielgruppe dar. In vielen Fällen bleibt jedoch offen, inwieweit ihr Engagement tatsächlich den Arbeitsmigranten zugutekommt oder eher dem Selbsterhalt der eigenen Organisation dient.