Eine »Eurasische Union«
Die mit Russland und dem GUS-Raum befasste Forschung hat ein neues Thema namens Eurasische Union. Unter diesem Titel kündigte Wladimir Putin in einem Beitrag in der Iswestija vom 3. Oktober 2011 verstärkte Integrationsprozesse im postsowjetischen Eurasien an. Es war dies seine erste strategische Einlassung nach Bekanntgabe seiner Kandidatur für die Präsidentenwahlen im März 2012 und erregte entsprechende Aufmerksamkeit. Dieser Ankündigung folgten Integrationsaktivitäten in auffälliger Nähe zum zwanzigsten Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion und der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Erste Kommentare zu diesem Projekt fielen teils skeptisch, teils alarmistisch aus. Da wurde darauf hingewiesen, dass der postsowjetische Raum seit 1991 so manche »Integrationsblase« geschlagen hat, die kaum mit Inhalt gefüllt wurde. Robert Blake, der für Zentralasien zuständige Mann im U.S. State Department, kommentierte die Herausforderung der Eurasischen Union an die Staaten in der Region seiner Zuständigkeit gelassen: Es sei schwer einzuschätzen, wie ernst es Russland mit diesem Projekt meine. Für Washington sei entscheidend, dass dieser Raum für überregionale Handelsrouten und für die Vernetzung mit der Weltwirtschaft geöffnet bleibe, dass hier keine »zone of exclusion« geschaffen werde. Ein Kommentar in der polnischen Zeitung Rzeczpospolita sah dagegen ein neues russisches Imperium entstehen: Im Unterschied zur Europäischen Union, die derzeit in einer tiefen Krise stecke, könnte dieses von Russland dominierte Integrationsprojekt zum Erfolg führen, stützt es sich doch auf die Verwandtschaft in der politischen Mentalität postsowjetischer Machteliten. Dabei übersah dieser Kommentar freilich, dass im Raum von der Ukraine bis Usbekistan diese Eliten für ihren eigenen Machterhalt die Souveränität ihrer unabhängig gewordenen Staaten beschwören und sich nicht ohne überzeugende Gegenleistung auf integrationsbedingte Einschränkungen von Souveränität einlassen.
Sowjetunion light?
Viele Kommentare zu Putins eurasischem Projekt unterstellten die Absicht, die Sowjetunion wiederauferstehen zu lassen. Putin betonte hingegen, dass es hier nicht um eine Wiederholung von Vergangenem gehe. Das Ziel sei eine »mächtige supranationale Vereinigung« souveräner Staaten, die eine Brücke zwischen Europa und dem asiatisch-pazifischen Raum bilden soll – keine neue Sowjetunion, aber doch etwas Konkreteres und Effektiveres als die seit 20 Jahren bestehende Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, die alles andere als eine »mächtige supranationale Vereinigung« darstellt, mehr auch als die unterhalb der GUS-Ebene bestehenden Kooperationsformate wie die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EurAsEC).
Als Ausgangspunkt fungiert die 2010 in Kraft getretene Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan, die drei Viertel des postsowjetischen Raums mit etwa 170 Millionen Menschen und 80 Prozent der ehemaligen sowjetischen Wirtschaftsleistung umfasst. Die Union hat die Zollschranken zwischen ihren Mitgliedstaaten aufgehoben, verschiedene Handelsabkommen implementiert und will sich noch weiter in den GUS-Raum ausdehnen. In einer neuerlichen Ansprache an das Parlament hob der russische Außenminister Lawrow das Integrationspotential der zur Erweiterung anstehenden Zollunion hervor: In der zweiten Jahreshälfte 2011 sei das Handelsvolumen zwischen den drei gegenwärtigen Mitgliedstaaten um 40 Prozent gestiegen. Dieses erfolgreiche Projekt öffne sich nun »unseren Partnern innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft und der GUS«.
Seit November 2011 kam es zu einem Prozess, den russische Quellen als Integrationsmarathon bezeichneten. Da ging die Zollunion mit Jahresbeginn 2012 in den Gemeinsamen Wirtschaftsraum über, der 2015 in die Eurasische Wirtschaftsunion münden soll. Als erstes supranationales Organ wurde eine Eurasische Wirtschaftskommission nach dem Vorbild der Kommission in Brüssel gebildet. Ihr Sitz ist Moskau und ihr Vorsitzender Viktor Christenko, bislang Russlands Minister für Industrie und Handel. Unter ihm arbeitet ein 700köpfiger Apparat, der zu 84 % von Russland besetzt wird. Als Exekutivorgan fungiert ein Kollegium aus je drei Vertretern der Teilnehmerländer für jeweils vier Jahre mit rotierendem Vorsitz. Zu seinen Aufgaben gehört die Regelung der Zolltarife, der Währungspolitik, der Arbeitsmigration und der Kapitalbewegung.
Ein neues Integrationsprojekt?
Putins »neues Integrationsprojekt« knüpft an russische Politik gegenüber dem GUS-Raum in den letzten zehn Jahren an. Ende der 1990er Jahre war nur ein Bruchteil der auf GUS-Ebene getroffenen Vereinbarungen umgesetzt worden. Mehr Effektivität versprach sich der Kreml nun von Formaten unterhalb dieser Ebene, in denen eine begrenzte Zahl postsowjetischer Staaten kooperieren sollte. Auf wirtschaftlichem Feld waren dies die im Jahr 2000 gegründete Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft mit heute fünf Mitgliedstaaten (Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan). Auf sicherheitspolitischem Feld war es die Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags, (engl. CSTO), ein »Bündnis« aus sieben GUS-Staaten (Russland, Belarus, Armenien und die zentralasiatischen Staaten mit Ausnahme Turkmenistans). Regionalformate, an denen Russland nicht beteiligt war wie die Organisation für Zentralasiatische Kooperation oder die sich gar gegen seine Dominanzansprüche im postsowjetischen Raum richteten wie die GUAM (Akronym für Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldova) unterlagen einem Bedeutungsverlust oder gingen in größeren Formaten auf, in denen nun wieder Russland dominierte.
Es ist noch nicht ganz klar, in welcher Beziehung das »neue Integrationsprojekt« zur GUS-Ebene und zu den bereits bestehenden Regionalformaten unterhalb dieser Ebene steht, die ja ebenfalls gemeinsame Wirtschaftsräume intendieren. Wird hier ein Integrationstheater auf mehreren Bühnen und Ebenen aufgeführt, das letztlich eine »Integration der Integrationen« erfordert? Laut Andrej Kuschnirenko, Leiter der Wirtschaftsabteilung des GUS-Exekutivkomitees, soll die GUS ihre Mitglieder auf die Aufnahme in eine erweiterte Zollunion vorbereiten und auf den Weg zur Eurasischen Union bringen. Auch die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft soll diesem Zweck dienen. Bei ihrem jüngsten Gipfel im März 2012 stellte Putin die Integrationsperspektive klar: Bis 2015 gehen wir in eine Eurasische Wirtschaftsunion über. Zu diesem Zweck soll innerhalb der Organisation ein Eurasischer Wirtschaftsrat geschaffen werden.
Grenzen des Projekts
Der Integrationsappell richtet sich letztlich an alle Staaten des GUS-Raums. Handels- und Wirtschaftsintegration in dem Raum anzuregen, in dem es einst imperiale Herrschaft ausgeübt hat, erscheint Russland als ein unverzichtbares Attribut dessen, was ihm an Großmachtstellung noch übrig geblieben ist. Das ökonomische Projekt einer Eurasischen Union wird auf sicherheitspolitischer Ebene durch Bemühungen Moskaus begleitet, die Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags zu stärken, die Schwelle für Interventionen in ihrem Einzugsbereich zu senken und eine gemeinsame Eingreiftruppe auszubauen.
Zugleich müsste Russland aber auch klar sein, dass es mit seiner »eurasischen Integration« längst nicht alle Staaten in diesem Raum erreichen kann. Als die nächsten Beitrittskandidaten zur Zollunion gelten Kirgisistan und Tadschikistan. Auf die beiden zentralasiatischen Staaten übt Moskau politischen Druck aus. Ihre Abhängigkeit ist in den vergangenen Jahren vor allem durch die Auswanderung von Arbeitskräften nach Russland gewachsen, und ihr Staatshaushalt ist in hohem Maße auf Überweisungen aus dieser Diaspora angewiesen. In der globalen Wirtschaftskrise ist ihre Abhängigkeit von Krediten und Subventionen aus Russland noch gewachsen. Zudem deckt Russland ihren Energiebedarf. Mit dem Beitritt dieser beiden Länder, die zu den ärmsten und strukturschwächsten im GUS-Raum gehören, würde sich allerdings ein Entwicklungsgefälle innerhalb der Zollunion auftun. Welche Gefahr von divergenter Entwicklung in Wirtschafts-oder gar Währungsunionen ausgeht, dafür liefert auf einem ganz anderen Niveau die Euro-Zone derzeit ein Beispiel, das auch in Russland diskutiert wird. Zudem würde die Außengrenze des Gemeinsamen Wirtschaftsraums mit seinen durchlässigen Binnengrenzen an Afghanistan heranrücken, von dem seit Jahren Drogenströme über den postsowjetischen Raum verlaufen.
Usbekistan und Turkmenistan sind dagegen wohl kaum erreichbar. In einer Rede zum Tag der Verfassung Usbekistans am 8.Dezember 2011 betonte der usbekische Präsident Islam Karimow die Souveränität seines Landes und äußerte seinen Argwohn über den politischen Charakter solcher Integrationsprojekte. Das usbekische Volk müsse wachsam sein gegenüber Versuchen, die sowjetische Geschichte falsch zu interpretieren, nämlich im Sinne einer Verpflichtung zur Integration und Wahrung eines gemeinsamen historischen Erbes postsowjetischer Staaten. Auch der Südkaukasus liegt außerhalb eurasischer Reichweite. Georgien ist das »nahe Ausland«, das seine Abwendung von Russland und von Regionalorganisationen unter russischer Vorherrschaft am deutlichsten bekundet. Aserbaidschan praktiziert zwar eine ausgewogenere Außenpolitik zwischen Russland und westlichen Partnern, verweigert sich aber ebenfalls Regionalorganisationen unter russischer Vorherrschaft. Selbst Armenien, das enge sicherheitspolitische Bindungen an Russland wahrt und als einziges Land der Region in der Organisation des Kollektiven Sicherheitsvertrags vertreten ist, bleibt außerhalb des eurasischen Integrationsprojekts. Denn mit der Zollunion hat es keine gemeinsame Grenze, sondern ist für seinen Außenhandel auf Transitrouten über Georgien und den Iran angewiesen.
Da richtet sich der Blick nun besonders auf den gemeinsamen Nachbarschaftsraum zwischen der EU und Russland, der von Belarus über die Ukraine bis Moldova reicht. Aus russischer Sicht ist Belarus der engste Partner im eurasischen Integrationsverbund und die Ukraine das Land, ohne das Integration im postsowjetischen Raum äußerst unvollständig wäre. Laut einer Meinungsumfrage vom September 2011 betrachtet eine Mehrheit der Russen (60 %) beide Staaten nicht als Ausland. In den politischen Problemen, die sich derzeit zwischen Kiew und Brüssel zeigen, sieht Russland gewisse Chancen, die Ukraine in seinen Orbit zurückzuführen.
Integration nach europäischem Vorbild?
Putin lehnt seine Eurasische Union an europäische Integrationserfahrung an, und das zu einem Zeitpunkt, an dem dieses Vorbild in der Euro-Krise an Strahlkraft verliert. Die Botschaft lautet: Die Zugehörigkeit zur Eurasischen Union tue den Bemühungen einiger ihrer Mitgliedstaaten um Integration nach Europa keinen Abbruch. Die beiden Integrationsprozesse könnten sich gegenseitig befruchten. An einigen Stellen wird dieser europäische Bezug jedoch fragwürdig. So sieht Putin die Eurasische Union als Teil eines »Großeuropa«, das auf gemeinsamen Werten wie Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft beruht. Von einer ausgeprägten Neigung zu den politischen Freiheitswerten kann bei den drei Staaten, die den Nukleus des »neuen Integrationsprojekts« bilden, kaum die Rede sein. An anderer Stelle vergleicht Putin die Eurasische Union in Hinsicht auf Freizügigkeit mit der Schengenzone und verspricht Arbeitsmigranten den freien Verkehr über die Grenzen der Mitgliedstaaten. Doch heute schon stoßen Arbeitsmigranten, die z. B. aus einem als Beitrittskandidat vorgesehenen Land wie Tadschikistan kommen, auf xenophobe Reaktionen in der russischen Bevölkerung und bei russischen Behörden. Im Kernland der »eurasischen Integration« sind fremdenfeindliche nationalistische Tendenzen in den letzten zwei Jahren unübersehbar gewachsen.
Ist die Eurasische Union wirklich als Partner Europas gedacht oder doch eher als ein Gegenmodell, mit dem Russland in Integrationskonkurrenz zur Europäischen Union in einem gemeinsamen Nachbarschaftsraum tritt? Bisherige Reaktionen Russlands auf die Östliche Partnerschaftsinitiative der Europäischen Union, die sich seit 2009 an Osteuropa und den Südkaukasus richtet, sprechen eher für die Konkurrenz-als für die Kooperationsthese. Doch gleichzeitig erweist sich sowohl im Falle Europas als auch Russlands das Vermögen, dieses Osteuropa an sich zu binden, als begrenzt. Die Europäische Union steckt derzeit in ihrer größten Krise. Aber auch Russland hat nach den Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011 und den Protestbewegungen gegen Wahlfälschung genug mit sich selbst zu tun. Dem Kernland der »eurasischen Integration« könnten anhaltende innenpolitische Herausforderungen bevorstehen, die seinen Ambitionen im postsowjetischen Raum die Grenzen weisen. Als Modernisierungsmotor hat sich Russland in diesem Raum bislang ohnehin nicht erwiesen.