Erklärung des Komitees für Bürgerinitiativen

Das Komitee für Bürgerinitiativen erklärt seine Kritik zu einem weiteren hastig eingebrachten und mit aller Eile durch die Staatsduma getriebenen Gesetzentwurf, der gesellschaftliche Aktivität einschränken soll. Die Rede ist vom Gesetzentwurf Nr. 102766-6, der bestimmten nichtkommerziellen Organisationen den Status von »ausländischen Agenten« zuschreibt. Eine Annahme des Entwurfs würde bedeuten, dass sozial ausgerichtete Organisationen in Russland ihre Tätigkeit einstellen, da durch eine buchstäbliche Auslegung der Gesetzesbestimmungen nicht nur Menschenrechtsorganisationen als »ausländische Agenten« eingestuft und mit diskriminierenden Maßnahmen überzogen werden können, sondern auch viele russische Hochschulen, Kinderhilfsorganisationen und Medien.

In der modernen Welt haben Prozesse gesellschaftlicher Entwicklung einen globalen Charakter: wissenschaftliche Entwicklungen, charitative Hilfe, die Schaffung von Kunstwerken und der Schutz der Menschenrechte in den verschiedenen Ländern sind eng miteinander verflochten, reichen über Grenzen hinweg und sind Gegenstand internationaler Abkommen. Fördermittel ausländischer Sponsoren und internationaler Institutionen oder Organisationen werden in Russland intensiv genutzt, beispielsweise durch Institute der Russischen Akademie der Wissenschaften, die Universitäten Moskau und St. Petersburg, die Stiftung »Schenke Leben« von Tschulpan Chamatowa und durch Bildungsorganisationen der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die absolute Mehrheit der sozialen Projekte, die mit Hilfe ausländischer Förderung umgesetzt wurden, verfolgen keine politischen Ziele und sind für die Gesellschaft von äußerst großem Nutzen. Die axtgleichen Bestimmungen des Gesetzentwurfs würden viele gute Initiativen an der Wurzel kappen.

Das Konzept des Gesetzentwurfs Nr. 102766-6 ist auf Begriffsschwindel gegründet. Nicht Personen, die gegen Entlohnung Anweisungen eines ausländischen Nutznießers (Auftraggebers) ausführen, werden als »ausländische Agenten« bezeichnet – dieser Stempel wird allen nichtkommerziellen Organisationen aufgedrückt, die auch nur zu irgendeinem Teil mit ausländischen Mitteln finanziert werden (und seien es Mittel, die durch russische Bürger bei einer internationalen Ausschreibung eingeworben wurden oder etwa solche, die von einem wohltätigen Ausländer zur Heilung kranker Kinder bereitgestellt wurden).

Im Kontext der russischen politischen Traditionen trägt der vorgelegte Gesetzentwurf für die sehr große Zahl russischer NGOs und deren Mitarbeiter bewusst beleidigende Züge.

Jedenfalls gerät eine neue Brandmarkung dieser Art zu einem weiteren Schritt bei der Herausbildung eines Feindbildes in unserer Gesellschaft, in einer Gesellschaft, die sich ohnehin in einem sehr unruhigen Zustand befindet.

Wenn im föderalen Gesetz »Über politische Parteien« unter Beteiligung am politischen Leben die »Bildung und der Ausdruck des politischen Willens, die Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Aktionen sowie an Wahlen und Volksabstimmungen« verstanden wird, so führt der neue Gesetzentwurf den sehr weiten und schwammigen Begriff der »politischen Tätigkeit« ein. Hierunter fällt praktisch jeder Versuch, an der Entwicklung der Praxis in Staat und Politik sowie an einer entsprechenden Bildung der öffentlichen Meinung teilzuhaben. Daher können als politische Tätigkeit unter anderem Aufrufe gewertet werden, »die auf eine Änderung der staatlichen Politik gerichtet sind«, Forderungen etwa nach dem Bau von Rollstuhlrampen oder der Einrichtung von speziellen Hilfen für HIV/AIDS-Infizierte.

Dem Text de Gesetzentwurfes zu Folge können alle nichtkommerziellen Organisation – staatliche oder kommunale Einrichtungen nicht ausgeschlossen –, die von ausländischen Quellen, staatenlosen Personen oder internationalen Institutionen und Organisationen Geld erhalten, als »ausländische Agenten« eingestuft werden. Das Absurde der Bestimmungen wird dadurch deutlich, dass selbst die Abteilung Gerichte beim Obersten Gerichtshof Russlands, die mit diversen nichtkommerziellen Organisationen bei der Erschließung von Weltbank-Geldern zur Gewährleistung des Zugangs zu den Gerichten und der Offenheit von Gerichtsentscheidungen zusammenarbeitet, als »ausländischer Agent« eingestuft werden kann. Das Gleiche gilt für diejenigen Organisationen, die von der UNESCO als internationaler Organisation mit kulturpolitischem Einfluss Gelder erhalten.

Es ist darauf hinzuweisen, dass der Verweis auf die Erfahrungen in entwickelten Ländern, die in die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes eingeflossen seien, nicht haltbar ist. Das 1938 in den USA zur Bekämpfung von NS-Propaganda verabschiedete FARA (Foreign Agents Registration Act), das von den Autoren des russischen Gesetzentwurfs als Beispiel angeführt wird, reguliert die Tätigkeit von Personen, die tatsächlich Agenten einer ausländischen Einflussnahme sind, die also nicht nur durch finanzielle Unterstützung aktiv sind, sondern »auf Befehl, im Auftrag oder unter der Leitung oder Kontrolle eines ausländischen Auftraggebers« (§ 611 Abs. c Nr. 1 United States Code – U.S.C.). Dort wird davon ausgegangen, dass der Agent mit dem ausländischen Nutznießer nicht nur die Ausführung eines Auftrags konkret verabredet, sondern von diesem auch Informationen über »die Art des Geschäfts oder anderer Betätigung des ausländischen Auftraggebers« erhält (§ 612Abs. a Nr. 3 U.S.C.), sowie darüber, wer diesen »Auftraggeber« »besitzt oder kontrolliert«. Dem russischen Gesetzentwurf zu Folge werden jedoch als »ausländische Agenten« selbst jene eingestuft, die nur sehr wenig über ihre ausländischen »Nutznießer« wissen, beispielsweise, wenn eine Organisation offen Mittel zur Rettung eines Kindes einwirbt und auf ihrem Konto Gelder von unbekannten ausländischen Bürgern eingehen. Sind diese Gelder über mehrere Konten gelaufen, könnte die Empfängerorganisation möglicherweise nicht einmal eine Ahnung von der ausländischen Herkunft dieser Mittel haben.

Es ist ein wichtiges Prinzip des FARA, dass sich eine Person selbst als ausländischer Agent zu identifizieren hat. Daher wird als solcher eine Person angesehen, die »behauptet oder vorgibt, als Agent eines ausländischen Auftraggebers tätig zu sein” (§ 611 Abs. c Nr. 2 U.S.C.). Um die Registrierung von »selbsternannten« Agenten zu verhindern, verlangt das FARA allerdings die Vorlage »aller schriftlichen Vereinbarungen sowie die Einzelheiten und Bedingungen aller mündlichen Abmachungen […und] eine umfassende Beschreibung der Umstände, durch die der Antragsteller ein Agent eines ausländischen Auftraggebers ist« (§ 612 Abs. a Nr. 4 U.S.C.). Die Autoren des Gesetzentwurfs Nr. 102866–6 nötigen die russischen nichtkommerziellen Organisationen zur Selbstbezichtigung: Sie sollen sich unter Androhung strenger Sanktionen ungeachtet ihrer wahren Zwecke und ihres tatsächlichen Status zu »ausländischen Agenten« erklären. Und dies unter anderem, bevor die »politische« Tätigkeit aufgenommen und ausländisches Geld empfangen wird.

Im Unterschied zum russischen Gesetzentwurf formuliert das FARA ein klares Verzeichnis aller, die nicht als Agenten für ausländischen Einfluss gelten können. Dies sind unter anderem Organisationen aus den Bereichen Religion, Forschung, Wissenschaft und Kunst (§ 613 Abs. e), Organisationen, die in der juristischen Praxis (§ 613 Abs. g) oder im Handel tätig sind (§ 613 Abs. d), sowie Medien, falls deren Leiter und mindestens 80 % der Besitzer US-Bürger sind (§ 611 Abs. d).

Und wenn in dem viele Seiten umfassenden FARA alle Anforderungen detailliert beschrieben und die Begriffe definiert sind, so enthält der in die Staatsduma eingebrachte Gesetzentwurf eine Vielzahl schwammiger und zweideutiger Bestimmungen. Allein die beispiellosen Kontrollbefugnisse der staatlichen Behörden werden klar beschrieben. So wären etwa die zuständigen Behörden berechtigt, ohne Gerichtsbeschluss die Tätigkeit einer nichtkommerziellen Organisation für 6 Monate zu untersagen oder sie aus verschiedenen Anlässen einer außerordentlichen Prüfung zu unterziehen.

Anlass zu schlimmsten Befürchtungen geben die straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die der Gesetzentwurf für Zuwiderhandlungen gegen die Gesetzgebung über »ausländische Agenten« vorsieht. Die Formulierungen, die die Grundlage für die relativ strengen Sanktionen bilden, sind unbestimmt und ermöglichen eine willkürliche Anwendung. So gilt etwa Folgendes als Straftat: eine böswillige Missachtung der Pflichten, die sich aus der Gesetzgebung zu ausländischen Agenten ergeben, die also durch den Gesetzentwurf eingeführt werden sollen; eine ebensolche Missachtung aller Pflichten, die durch die Gesetzgebung über nichtkommerzielle Organisationen festgelegt sind, und die Gründung von nichtkommerziellen Organisationen, deren Tätigkeit damit verknüpft ist, die Bürger zur Missachtung ihrer Bürgerpflichten oder zu anderen rechtswidrigen Taten zu bewegen. Es ist offensichtlich, dass alle möglichen Formen von Protest oder Menschenrechtsarbeit einer nichtkommerziellen Organisation unter derlei Bestimmungen gefasst werden können. Die vorgesehenen Geldstrafen – 500.000 bis 1.000.000 Rubel für Organisationen und 300.000 bis 500.000 Rubel für deren Leiter – würden in den meisten Fällen die Schließung der Organisation und für die Leiter eine Aufgabe der weiteren Tätigkeit bedeuten. Somit öffnet dieser Gesetzentwurf einer Rückkehr in jene Zeiten die Tore, als man »mit Hilfe« einer erweiterten Gesetzesauslegung für jedwedes gesellschaftliches Engagement im Gefängnis landen konnte.

Wir streiten nicht ab, dass eine rechtliche Regulierung der Tätigkeit von Subjekten gebraucht wird, die in Russland die Interessen von ausländischen Regierungen, Staatsbürgern oder Organisationen vertreten. Eine solche Tätigkeit stellt jedoch eine Variante von Lobbyarbeit dar, und deren gesetzliche Regulierung wird nur dann möglich sein, wenn Lobbyismus in zivilisierte rechtliche Rahmen überführt wird. Eine solche Aufgabe lässt sich nicht in den wenigen Tagen lösen, die den Gesetzgebern bis zur Sommerpause verbleiben. Sie verlangt Zeit, Konsolidierung der gesellschaftlichen Kräfte und die Schaffung eines verlässlichen intellektuellen Fundaments.

Der in die Staatsduma eingebrachte Gesetzentwurf Nr. 102766–6 basiert jedoch auf der zweifelhaften Idee, dass die Politik des Staates Vorrang hat. Gegenüber gesellschaftlicher Aktivität, die diese Politik zu verändern oder zu beeinflussen versucht, ist demnach nicht nur strenge Kontrolle vonnöten, sondern auch beschränkende oder gar ausgrenzende Maßnahmen. Ein solcher Ansatz widerspricht ganz eindeutig dem in Artikel 13 der russischen Verfassung festgeschriebenen Grundsatz der politischen Vielfalt und darf in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zum Einsatz kommen.

Wir rufen daher die Abgeordneten der Staatsduma dazu auf, den Gesetzentwurf bereits bei der ersten Lesung abzulehnen.

04.07.2012

Alexei Kudrin, Vorsitzender des Komitees für Bürgerinitiativen; Mitglieder: Alexandr Archangelskij,Dmitrij Oreschkin,Iwan Begtin,Viktor Pleskatschewskij,Andrei Galijew,Igor Potozkij,Leonid Gosman,Alexandr Rubzow,Jewgenij Gontmacher,Nikolai Swanidse,Julij Gusman,Dmitrij Trawin,Michail Dmitrijew,Mark Urnow,Kirill Kabanow,Sergei Zypljajew,Walerija Kasamara,Witalij Uschkanow,Wassilij Melnitschenko,Jana Jakowlewa,Wladimir Nasarow,Irina Jasina,Andrei Netschajew

Quelle: http://akudrin.ru/news/zayavlenie-komiteta-grazhdanskikh-initsiativ.html

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

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