Wladimir Putin hat schon viele Minister entlassen. Aber noch niemand musste so schmählich gehen, wie jüngst Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow. Obwohl der entlassene Minister dem Putin-Klan sehr nahe steht. Genau genommen verdankte Serdjukow allein dieser Nähe seinen Aufstieg. Im Jahr 2000, nach einer wenig beeindruckenden Karriere als Möbelhändler, heiratete er die Tochter von Wiktor Subkow. Subkow war schon in St. Petersburg Stellvertreter des damaligen stellvertretenden Bürgermeisters Putin. Nach Putins Aufstieg Richtung Moskau rückte er an die Spitze der russischen Steuerbehörde auf. Während Putins zweiter Präsidentschaft wurde Subkow Premierminister, ehe er 2008, als Dmitrij Medwedjew Präsident wurde, Putin Platz machen musste, aber Erster stellvertretender Ministerpräsident blieb. In Subkows Kielwasser stieg auch Serdjukow im Steuerwesen auf, wurde in Subkows direkter Nachfolge Chef der Steuerbehörde, ehe er im Februar 2007 von Putin zum Verteidigungsminister ernannt wurde.
Angesichts dieser Familien-Karriere ist der plötzliche Abstieg Serdjukows, vor allem aber seine öffentliche Demütigung also besonders erklärungsbedürftig. Warum also wurde Serdjukow Mitte Oktober 2012 bei einer morgendlichen Hausdurchsuchung bei einer seiner Mitarbeiterinnen, Jewgenija Wassiljewa, bis zum Sommer zuständig für das Eigentum des Verteidigungsministeriums, in Unterwäsche angetroffen. Frau Wassiljewa, deren Beziehung zu Serdjukow die Tageszeitung »Kommersant« als »enge Bekanntschaft« bezeichnet, wird beschuldigt, durch den manipulierten Verkauf von Immobilien des Verteidigungsministeriums fast drei Milliarden Rubel (ca. 75 Millionen Euro) veruntreut und auf Konten im Ausland geschafft zu haben.
Die Unterwäsche gibt die einfachste Erklärung: Serdjukow hatte sich mit der Zeit von seiner Familie (hier im doppelten Sinn, also auch als »Clan«, verstanden) entfernt. Die Familie hatte ihm seinen Aufstieg gegeben und nun eben wieder genommen. Doch wahrscheinlich ist das zu einfach. Wahrscheinlich gibt es gar keine allumfassende Erklärung (zudem wir uns hier zumindest mit einem Bein auf das dünne Eis der Kremlogie begeben). Wahrscheinlich sind eine ganze Reihe von Gründen zusammen gekommen. Also der Reihe nach.
Serdjukow wurde von Putin 2007 zum Verteidigungsminister gemacht, um endlich die von der Generalität und dem militärisch-industriellen Komplex seit langem boykottierte, ja sogar sabotierte Armeereform durchzusetzen und die russische Armee auch über die Atomstreitkräfte hinaus wieder einsatzfähig zu machen. Mit den umfassenden Reformen (es geht hier nicht darum, ob sie nun erfolgreich waren oder nicht) hat sich Serdjukow in der Armee jede Menge Feinde gemacht. Serdjukow ließ zudem, sicher nicht ohne Zustimmung von Putin, moderne Waffensysteme (wie französische Hubschrauberträger der »Mistral«-Klasse) im Ausland kaufen und verschmähte weniger moderne aus russischer Produktion.
Diese Auseinandersetzungen innerhalb der Machtelite reichten in normalen Zeiten wohl aus, Serdjukows Ablösung zu erklären. Aber die Zeiten sind nicht normal. Putins Rating sinkt. Auch das kleine Hoch rund um die Präsidentenwahlen im März ist längst wieder vorbei. Die Zahlen sind inzwischen schlechter als vor der Wahl, Tendenz sinkend. Und zweitens erklären die Machtauseinandersetzungen nicht die öffentliche Erniedrigung. Das war bisher nicht Putins Stil. Wer immer in der Vergangenheit nicht mehr gebraucht wurde, konnte zumindest mit einem warmen Versorgungsposten rechnen.
Die Ablösung Serdjukows könnte sogar als doppeltes Signal verstanden werden. Zum einen gäbe Putin damit nach außen zu erkennen, dass er nun wirklich ernsthaft mit der endemischen Korruption aufzuräumen gedenkt. Dazu müsste wohl aber auch Serdjukow und nicht nur seine Mitarbeiterinnen vor Gericht gestellt werden. Ob das passiert, ist unklar. Bisher wird gegen ihn nicht ermittelt, auch wenn vorige Woche seine Datscha durchsucht wurde. Das zweite Signal ginge nach innen. Da bisher noch niemand aus dem so inneren Kreis so in Ungnade gefallen ist, würde eine Verurteilung Serdjukows zu Lagerhaft allen aus dem inneren Machtzirkel zeigen, dass niemand sicher ist.
Es gibt noch eine weitere Überlegung, warum Serdjukow gehen musste: Putin begradigt die Frontlinien. Praktisch alle Analysen der politischen und wirtschaftlichen Situation in Russland gehen davon aus, dass eine größere Krise in nicht allzu ferner Zukunft unausweichlich ist. Die dann notwendigen Reformen mit Einschnitten in die Sozialsysteme wären extrem unpopulär. Die Zustimmung zu Putin sinkt. Repressive Maßnahmen nehmen zu. Das Geld, mit dem bisher die meisten sozialen und politischen Probleme gelöst werden konnten, wird immer knapper. In solch einer Krisensituation, so die allgemeine Weisheit in Russland, müssen die Herrschenden drei Kräfte hinter sich haben: Geheimdienst, Polizei und Armee. Der Geheimdienst ist Putins Domäne. Die Polizei scheint unter dem neuen Minister Wladimir Kolokolzew weitgehend loyal. Aber ob die Armee Serdjukow (sprich: seinem Patron Putin) gefolgt wäre, dürfte den Kreml beunruhigt haben. Der neue Verteidigungsminister Sergej Schojgu ist der populärste Politiker nach Putin.
Neben voraussichtlichen wirtschaftlichen Problemen gibt es noch eine weitere Frage, die seit einiger Zeit durch die Analysen geistert: Ist Putin krank? Und wenn ja, wie schwer? »Geistern« ist hier das richtige Wort, denn so recht traut sich kaum jemand, das Thema anzusprechen. Erste Gerüchte kamen im September auf, nach dem Flug Putins mit den Kranichen. Als erstes seriöses Blatt wagte sich dann vor einigen Wochen die Moskauer Tageszeitung »Wedomosti« vor. Sie zählte auf der ersten Seite und als Editorial akribisch auf, welche ursprünglich geplanten Auslandsbesuche Putin seit September nicht angetreten und wie selten (dreimal im Oktober) er sich von seiner Datscha vor den Toren Moskaus in den Kreml begeben hatte. Putins Sprecher Dmitrij Peskow sah sich daraufhin gezwungen, öffentlich abzuwiegeln. Putin habe eine Sportverletzung an den Muskeln, nichts Schwerwiegendes. Und nach Moskau fahre er nicht, um die Moskauer Autofahrer nicht mit Straßensperren und noch mehr Staus zu verärgern.
Zum Petersburger Dialog Mitte November in Moskau war die Gerüchteküche schon richtig heiß. Russische Journalisten aus dem Kremlpool wogen bedenklich das Haupt ob der, wie sie aus sicheren Quellen wüssten, höchst angeschlagenen präsidialen Gesundheit. Fotografen, die besonders nah an den »Körper« heran dürfen, wurde eingeschärft besonders auf Krankheitsanzeichen zu achten. Bemerkt wurde Putins etwas schiefe Körperhaltung selbst im Sitzen, und dass er wohl ein Korsett unter dem weitgeschnittenen Anzug trug. Das Korsett würde vielfache Vermutungen bestätigen, Putin habe etwas am Rücken. Nur was? Die Gerüchteskala reicht vom Bandscheibenvorfall (Diagnose: schmerzhaft, aber ungefährlich) bis zum Sarkom an der Wirbelsäule (Diagnose: nur noch kurze Zeit zu leben).
Was hat das alles mit Serdjukow zu tun? Sollte Putin eine Krankheit haben, die ihn zumindest zeitweilig, z. B. durch eine nicht ganz einfache Operation außer Gefecht setzt, könnte auch das eine Erklärung für die eingeleitete Konsolidierung sein.
Also noch einmal zusammen gefasst: Serdjukow war eine schwache Stelle im System Putin. Seine Aufgabe, die Armeereform mit Brachialgewalt vom Fleck zu bringen, hatte er erfüllt. Durch persönliche Eskapaden hatte er sich von Putin-Klan entfernt. Die Korruption im Verteidigungsministerium wuchs unter ihm vielleicht noch unverschämter als in anderen Bereichen. Außerdem war Serdjukow (nicht nur in der Armee) einer der unpopulärsten Politiker der Putin-Riege. Alles in allem war er so aus doppeltem Grund fällig: Um die Reihen zu schließen und als populäres Opfer.
Ist das alles sicher? Natürlich nicht. Sicher scheint nur zu sein, dass es weiter nicht langweilig wird.
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