Russlands Traum: Gerechtigkeit, Freiheit und ein starker Staat

Von Felix Hett, Reinhard Krumm (beide Berlin)

Zusammenfassung
83 Prozent der Russen empfinden die Einkommensverteilung in ihrem Land als ungerecht. Dies ergab eine Studie der Russischen Akademie der Wissenschaften und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Gegenstand der Umfrage: Der »Russische Traum« oder die Frage, in was für einer Gesellschaft Russlands Bürger künftig leben wollen. Demnach hat soziale Gerechtigkeit für die Mehrheit der Befragten höchste Priorität. Ihr Garant kann nach Meinung vieler nur ein starker Staat sein, der die Rechte der Schwachen gegen die Ansprüche der Starken verteidigt. Im persönlichen Leben wünscht die Mehrzahl der Befragten jedoch keine staatliche Einmischung. Die Qualität einer Demokratie wird weniger an der Achtung politischer als an der Wahrung sozialer und rechtsstaatlicher Grundrechte gemessen.

Protest und Traum

Die Protestwelle, von der Russland im Winter und im Frühjahr dieses Jahres erfasst wurde, hat eines deutlich gemacht: Russlands Bürger werden zu einem immer wichtigeren Faktor in der Politik des Landes. Die Ämter-Rochade zwischen Dmitrij Medwedew und Wladimir Putin, die nunmehr als Ministerpräsident beziehungsweise Präsident Russland führen, galt vielen als eklatante Missachtung des Wählerwillens. Manipulationen bei der Parlamentswahl am 4. Dezember 2012 waren dann nur noch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Die generelle Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen hatte sich lange aufgestaut. Nun entlud sie sich auf den Straßen Moskaus und anderer Städte. Anzeichen für die wachsende Frustration hatten Soziologen des Moskauer Zentrums für strategische Ausarbeitungen bereits Monate zuvor registriert. Für die Mehrzahl der Beobachter kam jedoch vor allem das Ausmaß der Protestwelle überraschend. Grund genug, Russlands Gesellschaft künftig stärker in den Blick zu nehmen.

Der oft gemachte Vorwurf an die Bürgerbewegung lautet: Demonstriert wird nur gegen Putin und die »Partei der Macht« Einiges Russland. Alternative Politikentwürfe habe die Straße nicht zu bieten. Der Vorwurf ist zum Teil berechtigt und zugleich ungerecht. Denn unabhängig organisierte Formen der politischen Willensbildung wurden in den vergangenen Jahren durch den Staat verhindert. Nachdem als Reaktion auf die Proteste die Neuregistrierung von Parteien stark vereinfacht wurde, könnten sich hier in Zukunft neue Möglichkeiten auftun. Nötig ist in jedem Fall eine intensive Debatte über die künftige Ausgestaltung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund hat die Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit dem Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften im Frühjahr 2012 eine Studie zum »Russischen Traum« angefertigt. 1750 Russinnen und Russen in 20 Regionen Russlands – von Archangelsk im Norden bis zum Kaukasus im Süden, von Tula im Westen bis nach Chabarowsk im Fernen Osten des Landes – wurden repräsentativ befragt, in was für einem Land und in was für einer Gesellschaft sie künftig leben wollen. Die Konturen eines russischen Traums, verstanden als Vision einer wünschenswerten Zukunft, sollen im Folgenden knapp nachgezeichnet werden.

Russlands Träume

Die überwiegende Mehrheit der Befragten hat einen Traum: Nur fünf Prozent gaben an, für sie sei das Träumen untypisch, und weitere acht Prozent haben früher geträumt, dieses aber nunmehr aufgegeben. Je höher der sozioökonomische Status der Interviewten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass diese träumen. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer nicht träumt, gehört in der Regel den ärmeren Schichten an. Das Fehlen jeglicher Zukunftsträume ist in Verbindung mit einer in dieser Gruppe dominierenden Wahrnehmung zu sehen, dass sich die meisten Lebenspläne nicht realisieren lassen. Hier gibt über die Hälfte an, kaum eine Möglichkeit zu sehen, reich zu werden oder einen prestigeträchtigen Arbeitsplatz zu erhalten. Insgesamt scheint ein gutes Zehntel der Bevölkerung desillusioniert, ohne Hoffnung auf eine Besserung der persönlichen Lebensumstände. Dabei ist wichtig zu bedenken, dass nur Menschen im Alter von 16 bis 55 Jahren befragt wurden. Es ist zu vermuten, dass eine Beteiligung der in Russland vielfach verarmten Rentner an der Umfrage die Gruppe der Desillusionierten erheblich vergrößert hätte.

Wenn geträumt wird, dann sind die Träume der russischen Bürger vor allem auf das individuelle Wohlergehen bezogen: Für drei Viertel aller Befragten steht dies an erster Stelle. 40 Prozent wünschen sich Wohlstand, verstanden als die Möglichkeit, Geld auszugeben, ohne jede Kopeke umdrehen zu müssen. 33 Prozent träumen von Gesundheit, 23 Prozent von familiärem Glück und 21 Prozent von einem Eigenheim. Werden die Antworten offen gelassen, sind die Ergebnisse ähnlich: Hier steht die eigene Gesundheit sowie die der Verwandten und Freunde an erster Stelle (43 Prozent), dann folgen Wohlstand (39 Prozent) und das Glück nahestehender Personen (25 Prozent). Romantische Träume wie der, die wahre Liebe zu finden oder berühmt und schön zu werden, werden nur von einer Minderheit geteilt (siehe Grafik 1 auf S. 7). Eine Mehrheit versucht, sich ihre Träume durch eigene Anstrengung zu erfüllen (siehe Grafik 2 auf S. 8). Ein Drittel der Befragten wünscht sich, in einer gerechteren und rationaler aufgebauten Gesellschaft zu leben – dies allerdings nur, wenn die Antwortmöglichkeit durch den Interviewer vorgegeben wird.

Starker Staat und Freiheit

Werden die Bürger Russlands über ihre Träume in Bezug auf die Politik befragt, ergibt sich eine klare Präferenz zugunsten eines starken Staates: Vor die Wahl gestellt, aus einer Reihe von politischen Schlagwörtern diejenigen herauszusuchen, die am ehesten den persönlichen Traum über die Zukunft des Landes wiedergeben, votieren 45 Prozent für soziale Gerechtigkeit, gleiche Rechte für alle und einen »starken Staat, der sich um seine Bürger kümmert«. Erst dahinter folgen Werte wie »Demokratie, Menschenrechte und die freie Entfaltung der Persönlichkeit«, gesellschaftliche Stabilität oder Russlands Rückkehr zum alten Großmachtstatus (siehe Grafik 3 auf S. 9).

Für die überwältigende Mehrheit der russischen Bürger ist klar, dass nur der Staat soziale Gerechtigkeit herstellen kann: Für den sozialen Schutz der Bevölkerung sehen 91 Prozent gerade ihn in der Verantwortung, 71 Prozent möchten seine Rolle gestärkt sehen, und 60 Prozent stimmen der Aussage zu, dass der Staat die Interessen des gesamten Volkes gegenüber einzelnen Gruppen durchsetzen muss. Hierin scheint auch der Grund für die Staatsbegeisterung zu liegen, die andererseits aber zu der hohen Wertschätzung von individueller Freiheit im deutlichen Widerspruch steht: Mehr als zwei Drittel der Befragten glauben, dass ohne diese das Leben ihren Sinn verliert. Dabei wird unter dem Begriff Freiheit vor allem die Möglichkeit verstanden, sein eigener Herr zu sein und sich von niemandem in die persönliche Lebensgestaltung reinreden lassen zu müssen. Dieses ungewöhnliche Bild – man befürwortet einen starken Staat, der andere in die Schranken weist, einen selbst aber in Ruhe lassen sollte – wird noch ergänzt durch die stereotype Ablehnung von »Individualismus und Liberalismus westlichen Typs«, die sich 54 Prozent der Befragten zu eigen machen. Offenbar besteht in Russland eine positiv Grundeinstellung gegenüber kollektivistischen Werten und Normen, die aber in der Alltagsrealität wenig Niederschlag findet. Ein Gefühl der Gemeinschaft erlebt man dann auch insbesondere im Verhältnis zur eigenen Familie (65 Prozent), zu Freunden (63 Prozent) und zu Arbeitskollegen (40 Prozent), weniger zu Menschen, die eine ähnliche politische Einstellung teilen (fünf Prozent) oder Bürger Russlands (4,5 Prozent) sind.

Soziale Gerechtigkeit und Demokratie

Über alle sozialen Gruppen hinweg findet sich eine große Wertschätzung sozialer Gerechtigkeit, auch in den wohlhabenderen Bevölkerungsschichten (vgl. Grafik 4 auf S. 10). Ein Grund liegt offensichtlich in der Tatsache, dass die gegenwärtige Situation in Russland als besonders ungerecht wahrgenommen wird: Zwei Drittel der Befragten wünschen sich eine Gesellschaft der sozialen Gleichheit, wobei letztere wiederum von 59 Prozent als Chancen- und von immerhin 41 Prozent als Einkommensgleichheit interpretiert wird. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich werden von 83 Prozent aller Befragten als zu groß eingeschätzt. Zwei Drittel empfinden die Verteilung des Privateigentums als ungerecht, und ebenso viele teilen diese Aussage über die derzeitige Lohnstruktur. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist der Auffassung, dass sie persönlich ungerecht entlohnt wird.

Der hohe Stellenwert der Gerechtigkeit bedeutet aber nicht, dass Ungleichheiten nicht akzeptiert werden: Gewisse Einkommensunterschiede, die aus unterschiedlicher Bildung oder Anstrengung resultieren, gelten als gerecht. Von einer relativen Mehrheit der Russen (48 Prozent) wird jedoch nicht akzeptiert, dass jemand aufgrund seines höheren Einkommens eine bessere medizinische Versorgung erhält. Eine Gesellschaft wird als demokratisch wahrgenommen, wenn soziale und ökonomische Rechte gewahrt werden (Zustimmung von 79 Prozent der Befragten). Auf die Frage, welche Bedingungen unbedingt erfüllt werden müssen, damit in einer Gesellschaft alle Träume von Demokratie erfüllt sind, nennen 77 Prozent die Gleichheit aller vor dem Gesetz. 40 Prozent sehen geringe Einkommensunterschiede als Grundvoraussetzung für Demokratie und 37 Prozent unabhängige Gerichte. Die Bedeutung von freien Wahlen (27 Prozent) ist hingegen gesunken – vielleicht, weil die Desillusionierung in Bezug auf den Wahlprozess mittlerweile groß ist. Drei Viertel der Befragten geben an, dass sich ihre Vorstellungen über einen demokratischen Aufbau der russischen Gesellschaft nicht erfüllt haben (siehe Grafik 5 auf S. 10).

Gemischte Wirtschaft

Das hohe Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit soll durch den Staat befriedigt werden: Zwei Drittel stimmen der Aussage zu, es sei nötig, die Rolle des Staates in allen Bereichen zu stärken sowie Großbetriebe und strategisch wichtige Branchen zu verstaatlichen. 28 Prozent sind genau entgegengesetzter Meinung: Sie sehen die Notwendigkeit, »alle Lebensbereiche zu liberalisieren und die Wirtschaft von der Macht der Bürokraten zu befreien«. Etatisten, Anhänger des starken Staates, bilden also die klare Mehrheit der Bevölkerung, sehen sich aber einer nicht zu vernachlässigenden liberalen Minderheit gegenüber. Überschneidungen und Differenzen gibt es bei der Wahl der bevorzugten Wirtschaftsform: Ein Viertel der Liberalen befürwortet einen reinen Kapitalismus, ebenso wie 15 Prozent der Etatisten. Die Übrigen treten entweder für eine sozialistische Wirtschaftsform ein oder für eine »mixed economy« aus Plan- und Marktwirtschaft. Gerade für die letzte Variante sprechen sich über die Hälfte der Befragten aus.

Polarisierung der Gesellschaft?

Es gibt Grund zu der Annahme, dass die seit den Wahlen entstandene Protestbewegung durch das liberale Spektrum der russischen Gesellschaft dominiert wird. Auch einige der lautstarken Moskauer Politikstrategen schienen von dieser Annahme ausgegangen zu sein, als sie versuchten, die konservative Mehrheit der Bevölkerung gegen die liberale Minderheit, das »satte Moskau« in Stellung zu bringen. Der Erfolg dieser Strategie ist jedoch ungewiss, eine Polarisierung der russischen Gesellschaft nicht zwangsläufig. Politische Brücken können geschlagen werden, wie nicht zuletzt die Studie zum »Russischen Traum« zeigt. Denn Werte wie soziale Gerechtigkeit, ein Demokratieverständnis, das nicht nur rein prozessual ist, sondern auch die sozialen Grundlagen von Demokratie mitdenkt, die Ablehnung marktradikaler Wirtschaftsmodelle und die Überzeugung, selbst anpacken zu müssen, sind Konturen eines Russischen Traums, der in weiten Teilen der russischen Gesellschaft konsensfähig ist. Zu diesem gehört aber nach wie vor auch eine starke Präferenz für gesellschaftliche Stabilität: Die Abneigung gegen revolutionären Umwälzungen zeigt sich in der Frage nach der historischen Epoche, in der Russland seinem Traum am nächsten gekommen ist: 32 Prozent der Befragten nennen die Zeit unter Putin, 14 Prozent die letzten Jahrzehnte der Sowjetunion, den »goldenen Herbst« des Staatssozialismus (siehe Grafik 6 auf S. 11). Freilich: Etwa ein Drittel gibt zu bedenken, dass der Russische Traum bislang noch nie auch nur annähernd erfüllt wurde.

Lesetipps / Bibliographie

  • Hett, Felix; Krumm, Reinhard: Gerechtigkeit, Freiheit und ein starker Staat. Konturen eines widersprüchlichen Russischen Traums. FES Internationaler Dialog. FES Moskau. Perspektive, Juli 2012 http://library.fes.de/pdf-files/id/09212.pdf
  • Rossijskaja Akademija Nauk. Institut Soziologii: O tschom metschtajut rossijane (rasmyschlenija soziologow). Analititscheskij doklad. Podgotowlen w sotrudnitschestwe s Predstawitelstwom Fonda imeni Fridricha Eberta w Rossijskoj Federazii, Moskwa 2012 http://www.isras.ru/files/File/Doklad/AnalitdocMechti/Ochemmechtayutrossiyane.pdf, 15. September 2012 [Vollständige Umfrage, in Russisch]

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