In der Nummer 248 der Russland-Analysen hat Wladislaw Below, der Leiter des Zentrums für Deutschlandstudien des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, ein bitteres Urteil gefällt:
»An dieser Stelle erlaube ich mir einige Bemerkungen zu den Experten. Anders als in Russland, wo die Zahl derjenigen, die sich mit Fragen der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, historischen Entwicklung der BRD beschäftigen, stetig zunimmt (das kann ich anhand der Situation in der Akademie und in der Hochschulbildung beurteilen), ist in Deutschland in Bezug auf die Russische Föderation ein umgekehrter Prozess zu beobachten. … Die Qualität und Quantität der Expertengemeinde, die in Deutschland zu Russland arbeitet, nimmt mit jedem Jahr ab. Die alte Generation glänzender Kenner der UdSSR und Russlands hat sich zur Ruhe gesetzt und übt bereits nicht mehr den früheren Einfluss auf Gesellschaft und Politik aus. Die neue Generation der Russlandexperten zählt wenige Köpfe und ist nicht immer professionell. Die deutschen Politiker und Beamten, die gegenwärtig für die Beziehungen zum sich transformierenden Russland zuständig sind, erhalten nicht mehr jene professionelle beratende Unterstützung, wie es in früheren Jahren der Fall war.« (Wladislaw Below, Russland-Analysen 248/30.11.2012, S. 6f.)
Die deutsche Russlandexpertise ist unzureichend, die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit schlecht beraten. Ein solches Urteil würde man nur zu gern zurückweisen. Doch Wladislaw Below hat recht. Er bringt das auf den Punkt, was die wenigen übriggebliebenen Osteuropa-Experten hierzulande selbst feststellen. Manfred Sapper, der Chefredakteur der Zeitschrift »Osteuropa«, hat dies in der Herbstnummer der Zeitschrift seinerseits sehr deutlich formuliert:
»Die deutsche Expertise über aktuelle Fragen der Innen- und Außenpolitik Russlands, der gesellschaftlichen Entwicklung und der Wirtschaft verschwindet. Wir sind mit einem Wissensdefizit, einem akademischen Burn-Out-Syndrom besonderer Art, konfrontiert.« (Manfred Sapper, in: Osteuropa, 62.2012, 6–8, S. 505)
Der Autor dieser Zeilen kann das Urteil seiner beiden Kollegen bestätigen. Sowohl als Herausgeber der Russland-Analysen wie über die Jahre als Sprecher der Forschungsgruppe Russland/GUS am »Deutschen Institut für internationale Politik und Sicherheit (SWP)« war er mit dem Problem konfrontiert, dass es in Deutschland für viele wichtige Fragen keine Expertise gibt. Als im Rahmen der Meseberg-Initiative anstand, Lösungen für den Transnistrienkonflikt zu entwickeln, stellte es sich heraus, dass dafür einfach die Fachleute fehlten, da gegenwärtig weder an deutschen Hochschulen noch in der deutschen außeruniversitären Forschung über russische Moldowa-Politik gearbeitet wird. Dass niemand über die inneren Verhältnisse Moldowas und die interethnischen Konflikte in dieser Region forscht, muss man wohl nicht extra erwähnen. Aber auch über die innere Entwicklung Russlands, des wichtigsten Nachbarn im Osten, liegen nur wenige substantielle Arbeiten vor. Es gibt keine auf Feldforschung basierenden Arbeiten zu Wahlen, Parlamentarismus und Parteiensystem. Es fehlen gründliche Studien der Zivilgesellschaft in ihren verschiedenen Aspekten, zur sozialen Schichtung, über Demographie und Sozialpolitik. Die russische Wahrnehmung der Euro-Krise, die Haltung zur Situation im Nahen Osten, die Bewertung der Rolle Chinas wird nur sporadisch untersucht. Zur Lage der russischen Volkswirtschaft, dem Zustand der Infrastruktur, der technologischen Leistungsfähigkeit und der Kapitalausstattung gibt es in der Wirtschaft gewiss Expertise – im akademischen Raum fehlt sie völlig.
Das »Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien«, das 2001 aufgelöste deutsche Regionalforschungszentrum, hat 1999 eine Studie zu Russlands Perspektiven im Jahre 2010 vorgelegt. Auf Basis der Analyse der makroökonomischen Faktoren, der Staatsfinanzen, der natürlichen Ressourcen, der Umweltpolitik, der demographische Entwicklung, des Komplexes Forschung und Entwicklung und der herrschenden Traditionen und Leitbilder wurden Szenarien für die Entwicklung Russlands und mögliche westliche Strategien erarbeitet. Eine solche Studie könnte heute nicht mehr geschrieben werden: dazu fehlen einfach die Fachleute. Manfred Sapper hat die Misere in seinem Aufsatz zutreffend zusammengefasst:
»Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist die Diagnose eindeutig: Weder die Wirtschafts- noch die Sozialwissenschaften an den deutschen Universitäten sind in der Lage, diesen Bedarf an praxisrelevanter Forschung und Beratung zu decken. Auch die außeruniversitären Institute sind damit überfordert, weil sie entweder zeithistorisch ausgerichtet sind oder über keine oder nur punktuelle Russlandexpertise verfügen. Insofern ist ein Neuanfang erforderlich.« (Manfred Sapper in: Osteuropa, 62.2012, 6–8, S. 519)
Es fehlt Expertise, es fehlt inzwischen auch der Nachwuchs. Denn wer will sich für ein Arbeitsfeld qualifizieren, in dem es keine Stellen gibt? Die sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle, die einen regionalen Schwerpunkt in Eurasien haben, kann man an einer Hand abzählen, die nächsten Stellen werden in etwa zehn Jahren frei (wenn sie nicht gestrichen werden). Die Mehrzahl der exzellenten Doktoranden der neunziger Jahre, in denen zahlreiche wegweisende Dissertationen zu Transformationsländern und Transformationsprozessen entstanden, ist nach Abschluss der Promotion notgedrungen in andere Arbeitsbereiche abgewandert.
Es geht also darum, die praxisrelevanter Forschung und Beratung wiederzubeleben, Nachwuchs auszubilden und Stellen für diesen Nachwuchs zu schaffen. Dafür müssen die notwendigen Strukturen geschaffen werden. Die Bundesrepublik braucht wieder ein Regionalforschungszentrum, das sich mit den Entwicklungen in Eurasien – in Russland, der Ukraine, Belarus, Moldowa, dem Südkaukasus und Zentralasen – auseinandersetzt. Diese Forderung steht nicht im luftleeren Raum. Der Wissenschaftsrat hat schon im Jahre 2006 »Empfehlungen zu den Regionalstudien (area studies) in den Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen«, in denen er auf die Misere aufmerksam gemacht hat, die nicht nur die Expertise zu Osteuropa und Eurasien betrifft, sondern mehr oder weniger zu allen Weltregionen. Die methodische Wende der universitären Sozialwissenschaften zu positivistischen Ansätzen und quantifizierender Modellbildung hat das Wissen über regionale Entwicklungen entwertet, und sie droht nun gänzlich verloren zu gehen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat deshalb ein Programm aufgelegt, um Hochschulen anzuregen, regionale Schwerpunkte zu bilden. Sechs neue Zentren sind gebildet worden, die sich u. a. mit Chinas Engagement in Afrika oder den Rivalitäten der Großmächte im arabischen Raum befassen. Im Bereich der gegenwartsbezogenen Osteuropaforschung steht eine Gründung noch aus.
Bei unseren Nachbarn ist man da konsequenter. Sowohl in Finnland wie in Polen sind große Institute geschaffen worden, die sich mit Osteuropa und Eurasien befassen: das »Aleksanteri-Instituutti« in Helsinki und das »Ośrodek Studiów Wschodnich im. Marka Karpia (OSW)« in Warschau. Die Konzepte beider Institute sind durchaus unterschiedlich, doch beide beschäftigen 30 bzw. 40 Wissenschaftler, die Entwicklungen in der postsowjetischen Region im Detail erforschen. Es wird Zeit, dass in der Bundesrepublik ein Forschungszentrum Eurasien geschaffen wird. In diesem Zentrum muss substantielle Regionalforschung als Grundlage von Politikberatung betrieben werden, und das Zentrum muss in Zusammenarbeit mit Universitäten einen Stamm von Nachwuchswissenschaftlern heranbilden, die unsere Forschung und Beratung wieder konkurrenzfähig machen.