Der 3. Oktober 1993 war ein sonniger Herbsttag. Selbst über dem gewöhnlich versmogten Moskau war der Himmel blau. Schon kein Altweibersommer mehr, die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt, aber herrlich frische Luft und, weil ein Sonntag, kein Stau. Ich lebte seit einem halben Jahr hier und hatte am Mittag meinen Vater zu seinem ersten Besuch in Russland vom damals noch einzigen »internationalen Flughafen« Scheremetjewo abgeholt. Wir fuhren gerade auf dem Gartenring am Außenministerium (einem der sieben Zuckerbäcker-Stalinhochhäuser Moskau) vorbei, als uns eine Sperre der Verkehrspolizei stoppte. In der Ferne war auf der Krim-Brücke am Gorki-Park, vom Oktoberplatz mit der großen Leninstatue kommend, eine fahnenschwenkende Menschenmenge zu sehen. Ein Verkehrspolizist beugte sich zu meinem heruntergekurbelten Fenster runter und sagte freundlich-gutmütig (!): »Dreh’ um Deutscher, sonst bringen sie Dich um.«
Die Demonstranten gehörten zu den Anhängern des Obersten Sowjets mit seinem Gegenpräsidenten Alexander Ruzkoj. Sie waren also Gegner von Präsident Boris Jelzin. Sie waren auf dem Weg zum damaligen Parlamentssitz, dem sogenannten »Weißen Haus« an der Kalininbrücke über die Moskwa. Dort sollten sie (oder nicht sie, sondern die Anhänger des Russofaschisten Alexander Barkaschow, so genau weiß das bis heute niemand) später an diesem Tag das seit zwei Jahren im gegenüberliegenden Comecon-Gebäude (oder, östlicher gesprochen, RGW-Gebäude) untergebrachte Bürgermeisteramt stürmen. Damit begann ein knapp zweitägiger Bürgerkrieg. Ein kurzer Bürgerkrieg, zugegeben. Ein auf das Moskauer Stadtzentrum und das Gebiet um das Fernsehzentrum Ostankino beschränkter Bürgerkrieg. Aber doch ein Bürgerkrieg.
Sein Ausgang ist bekannt. Boris Jelzin gewann den schließlich mit Waffengewalt geführten Kampf um die Macht und errichtete durch die später, im Dezember des gleichen Jahren in einem Referendum angenommenen neuen Verfassung eine ganz auf den Präsidenten zugeschnittene föderale Republik, die seither aber immer mehr Föderales und Republikanisches verloren hat.
Schon einige Wochen wird im Vorfeld des 20. Jahrestags dieser Ereignisse in den russischen Massenmedien und im russischsprachigen Internet heftig darüber diskutiert, was damals eigentlich geschah. Die Leute fragen (sich und andere), ob Jelzin richtig gehandelt hat? Ob es von vielen derjenigen, die sich bis heute »Liberale« oder »Demokraten« nennen, richtig war, ihn damals zu unterstützen? Ob nicht in den damaligen Herbstereignissen und -entscheidungen schon der Keim der heutigen Probleme mit der Demokratie in Russland liegt? Oder ob es nicht so oder so zur Putinschen Restauration hat kommen müssen? Weil das eben »Russlands Weg« ist. Weil das Land dazu verurteilt ist, wie in einer Zeitschleife die immer gleichen Fehler immer wieder zu wiederholen.
Ich denke das nicht. Aber das ist wohl eine Frage der Geschichtsauffassung. Selbstverständlich trägt jede Gesellschaft ihre Geschichte mit sich in die Zukunft. Das macht manche Entwicklungen wahrscheinlicher als andere. Aber es gibt, zumal in Umbruchzeiten, auch fast immer Momente, in denen die Chancen, es anders zu machen, größer sind als sonst. Die Zeit von der späten Perestroika, so etwa ab 1988, bis 1993 war eine solche Umbruchzeit.
Wie kam es zu der Anfang Oktober in diesem Zwei-Tage-Bürgerkrieg gipfelnden Machtauseinandersetzung, deren Bewertung das Land bis heute in zwei ziemlich unversöhnliche, ja, so scheint es, unversöhnbare Lager teilt (weshalb die oben erwähnte Diskussion eigentlich zwei Diskussionen sind, die nebeneinander her verlaufen)? Am Anfang standen zwei demokratische Sternstunden, wie es sie in Russland bis dahin noch nicht gegeben hatte. Im Frühjahr 1990 wurde der Kongress der Volksdeputierten, das Parlament der »Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik«, in ziemlich freien Wahlen gewählt. Ein Jahr später stimmte eine Mehrheit der Menschen in Russland für Boris Jelzin als Präsident, einen Posten, der im sowjetischen Institutionengefüge nicht vorgesehen war. Damit gab es, noch bevor das Land dann am 1.1.1992 durch die Auflösung der Sowjetunion auch formal als »Russische Föderation« unabhängig wurde, zwei durch direkte Wahlen legitimierte Machtzentren. Aber es fehlte jegliche Regelung, jegliche Tradition, wie diese Macht zu teilen sei.
Das ging solange gut, wie das gemeinsame Interesse sich gegen Sowjetpräsident Michail Gorbatschow richtete. Die Sowjetunion war zwar schon moribund aber noch nicht tot, als das Parlament Präsident Jelzin im November 1991 zusätzlich zum Regierungschef machte und, wenn auch auf ein Jahr limitiert, mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausstattete. Jelzin bestimmte Jegor Gajdar zum Vizepremier und der begann sofort mit unaufschiebbar notwendigen Wirtschaftsreformen. Diese (liberalen) Wirtschaftsreformen trafen schnell auf erbitterten Widerstand einer Mehrheit des Parlaments.
Dabei ging es nicht nur um die »richtige« Politik. Es ging auch darum, wer die Verfügungsgewalt über die riesige sowjetische Konkursmasse erhält. Dieser Anfangskonflikt führte zudem dazu, dass sich um Jelzin vor allem Wirtschaftsliberale und »Demokraten« (also Leute, denen für Russland ein bis heute »westlich« genannter Weg vorschwebte) scharten, während sich im Parlament Kommunisten und russische Nationalisten, kurz, die »Antiwestler« sammelten (man möge mir die grobe Verkürzung hier verzeihen). Dieses Schema bestimmte die Auseinandersetzungen bis zum Oktober 1993 (und bestimmt die russische Innenpolitik in vielerlei Hinsicht bis heute).
Nur ganz kurz, was geschah: Im Dezember 1992 musste Jelzin auf Druck des Parlaments den Radikalreformer Gajdar gegen den aus dem sowjetischen Gassektor, also der alten Nomenklatura stammenden Wiktor Tschernomyrdin austauschen. Im März 1993 versuchte das Parlament vergeblich, Jelzin seines Amtes zu entheben. Im April konterte Jelzin mit einem Referendum, in dem er dem Volk direkt die Vertrauensfrage stellte und gewann. Doch das Grundproblem, wer denn nun im Staate Russland in welchen Dingen das Sagen hat, wurde nicht geklärt. Beide, Präsident und Parlament forderten die ganze Macht. Alle Versuche Jelzins, eine neue Verfassung zu schaffen und seine Position als Präsident zu stärken, wurden also vom Parlament abgewehrt.
Am 21. September versuchte Jelzin diesen gordischen Knoten zu zerschlagen und unterschrieb den Ukas Nr. 1400, mit dem er eine »schrittweise Verfassungsreform« einleiten wollte, das Parlament auflöste und Neuwahlen für Dezember ansetzte. Schon am nächsten Tag erklärte das Verfassungsgericht den Ukas für verfassungswidrig. Die Parlamentarier verschanzten sich im Weißen Haus.
In den darauf folgenden zwei Wochen wurde durchaus intensiv verhandelt. Eine Gruppe von Politikern, darunter Grigorij Jawlinskij, der bekannte Journalist Jegor Jakowlew und der Präsident des Verfassungsgerichts Walerij Sorkin, schlug eine sogenannte »Null-Variante« vor. Danach sollte Jelzin den Ukas Nr. 1400 zurück nehmen, während das Parlament den im Dezember gemeinsam zu organisierenden Parlamentswahlen zustimmt. Die Verhandlungen kulminierten in Treffen im Danilow-Kloster unter Vermittlung des orthodoxen Patriarchen Alexij II. Doch weder Parlament noch Jelzin waren zu Kompromissen bereit (oder in er Lage), obwohl heute klar ist, dass weder die eine, noch die andere Seite ihres (militärischen) Sieges gewiss war.
Zu fest scheint in den Köpfen auch die Überzeugung gesessen zu haben, dass kein Kompromiss möglich sei, dass eine Seite gewinnen müsse, dass Politik im Grunde ein Nullsummenspiel sei. Eine Überzeugung, die heute noch vieles in der russischen Politik (und den Umgang mit Russland auf internationaler Ebene) erschwert.
Dann kam der 3. Oktober mit dem Sturm des Bürgermeisteramts am Nachmittag. Die Sondereinsatztruppen des Innenministeriums zogen sich zurück und ließen einige gepanzerte Truppentransporter und einen Minenwerfer zurück. Abends versuchten die von General Albert Makaschow (einem extremen Nationalisten, der schon die Putschisten gegen Gorbatschow im August 1991 unterstützt hatte) angeführten »Parlamentstruppen« das Fernsehzentrum in Ostankino einzunehmen. Es gab, auf beiden Seiten, die ersten Toten, allerdings weit mehr auf Parlamentsseite, denn auf der Seite des Präsidenten. Dieses Ungleichgewicht sollte so bleiben.
Am 3. Oktober erklärte Jelzin den Ausnahmezustand und Panzer rollten in Richtung Innenstadt. Zwar war Verteidigungsminister Pawel Gratschow anfangs nicht bereit, die Armee einzusetzen. Erst als sich am 3. Oktober die Polizei nach dem Sturm des Bürgermeisteramts zurückzog, gab er den Befehl einzugreifen. Selbst dann weigerten sich viele Kommandeure, auf das Parlament zu schießen und es kostete die Jelzin-Leute (Jelzin selbst verließ den Kreml, in dem zwei Hubschrauber zur Evakuierung bereit standen, nicht) viel Überzeugungskraft, wenigsten einige Panzerbesatzungen zum Einsatz ihrer Waffen zu bewegen. Da die Parlamentsseite bis auf den erbeuteten Granatwerfer nur mit leichten Waffen ausgerüstet war, und keine schwerer bewaffneten Armee- oder Innenministeriumseinheiten auf ihre Seite ziehen konnte, wurde das Weiße Haus am 4. Oktober schnell sturmreif geschossen. Gegenpräsident Alexander Ruzkoj, der Parlamentsvorsitzende Ruslan Chasbulatow und ihre Genossen gaben auf.
Bis heute gibt es heftigen Streit darüber, wie viele Menschen in diesem Bürgerkrieg getötet wurden. Offiziell waren es 123 Tote und 389 Verletzte. In oppositionellen Publikationen werden Zahlen von bis zu 1.000 Toten genannt. Es herrscht auch keine Einigkeit, wer mit dem Schießen angefangen hat. (Fast) Jede Diskussion über den blutigen Herbst 1993 endet in gegenseitigen Beschuldigungen und teilt das Land in mindestens zwei Lager. Ich muss zugeben (und kann das auch über die meisten meiner politischen Freunde sagen), damals froh gewesen zu sein, das Jelzin den Sieg davon getragen hat, denn die Parlamentsseite war eine größtenteils doch sehr obskure Ansammlung (um es vorsichtig auszudrücken). Auch heute noch kann ich mir die Folgen ihres Siegs nur in sehr düsteren Farben ausmalen.
Aber die Folgen von Jelzins damaligem Sieg wirken bis heute nach. Die im Dezember 1993 in einem umstrittenen Referendum angenommene und seither im Wesentlichen unverändert geltende Verfassung gibt dem Präsidenten fast alle Macht. Er kann sich, wie Jelzin immer wieder gezeigt hat, im Zweifel durch Ukase auch gegen ein oppositionelles Parlament durchsetzen. Zudem ist er Oberkommandierender, bestimmt über den Polizei- und Sicherheitsapparat und, seit Putin, auch die Gerichte. Zwar kann das Parlament den Präsidenten theoretisch absetzen, praktisch sind die Hürden dazu aber unüberwindbar.
Wichtiger dürfte noch etwas anderes sein. Der Bürgerkrieg im Herbst 1993 hat die alte, bis ins 19. Jahrhundert zurück gehende Spaltung des Landes in »Westler« und »Antiwestler« erneuert und verstärkt. Vor allem aber hat er die Hoffnung der Perestroika und ersten Postperestroikazeit auf eine demokratische Wende enttäuscht. Diese Hoffnung mag alles in allem etwas Überschießendes und Naives gehabt haben. Aber wo war das in vergleichbaren Situationen nicht der Fall. Mehr noch: Gerade auf den ersten Blick unrealistisch erscheinende Hoffnung ist im Zweifel mitunter in der Lage, Gesellschaften über ja meist schwierige und krisenhafte Umbruchsphasen hinweg zu helfen. Das alles war nach dem Herbst 1993 vorbei und ist (erneut) einem alles zuschüttenden Zynismus von Herrschenden und Beherrschten gewichen.
Damit war aber auch die Chance vertan, neue und legitime Institutionen zu etablieren, denen ausreichend viele Menschen im Land vertrauen. Institutionen zudem, die »inklusiv« anstelle von »extraktiv« sind (damit beziehe ich mich ausdrücklich auch auf die Untersuchungen von Daron Acemoglu und James A. Robinson zum »Scheitern« von Nationen). Außerdem wurde die Chance vertan, einen anderem Umgang miteinander (ein-)zuüben, als die jeweilige Vernichtung oder völlige Unterwerfung des politischen Gegners.
So gesehen war Jelzins Sieg im Herbst 1993 also ein Pyrrhussieg. Heute, 20 Jahre danach, gewinnen ähnliche obskurante Figuren und Ansichten erneut die Oberhand, wie sie bei vielen Jelzingegnern vor 20 Jahren zu finden waren. Das sind zwar nicht mehr die gleichen Leute, aber es sind ihre Werte: ein überbordender, fremdenfeindlicher Nationalismus und ein patriarchalisch-autoritäres Gesellschaftsbild.
Wann die nächste Weggabelung in der russischen Geschichte kommt, weiß niemand. Vielleicht kündigt sie sich gerade an. Ich hoffe, sie wird besser genutzt.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.