Nichtregierungsorganisationen und Staat in Russland: aus der Geschichte in die Moderne

Von Grigorij Melkonjanz (Moskau)

Zusammenfassung
Die Arbeitsbedingungen für nichtkommerzieller Organisationen (NKO) – und dazu gehören die Nichtregierungsorganisationen (NGO) – sind in Russland schwierig. Sie stehen heute unter massivem Druck des Staates. Dabei hatten sie zunächst große Freiräume – anfangs verstand der Staat die Bedeutung der Institution NGO nicht. Erst in den Putin-Jahren ging man daran, die Verhältnisse im nichtkommerziellen Sektor zu ordnen. Der Staat misstraute insbesondere den Organisationen, die sich mit Menschenrechtsfragen befassten und versuchte ihre Tätigkeit zu behindern. Mit der Reform des NKO-Gesetzes im Jahre 2012 schuf er sich die Möglichkeit, schärfer gegen NGOs vorzugehen. Die Arbeitsmöglichkeiten wurden stark eingeschränkt, die Finanzierungsmöglichkeiten wurden stark beschnitten. Zusammenfassend lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass durch die Situation, die über die letzten Jahre entstanden ist, ernstliche Behinderungen für führende regierungskritische NGOs bestehen und deren Arbeit in Russland weiter erschwert wird. Für die Zivilgesellschaft sind die letzten Jahre sind die schlechtesten in der neuesten Geschichte Russlands.

Schwierige Bedingungen für NKOs

In Russland sind die Bedingungen für die Arbeit nichtkommerzieller Organisationen (NKO) schwierig, die Lage ist angespannt. Man kann aber nicht sagen, dass die unfreundliche Politik des Staates gegenüber NGOs überraschend gekommen ist. Die Attacken auf den nichtkommerziellen Sektor haben geraume Zeit vor den berüchtigten Korrekturen im Gesetz über nichtkommerzielle Organisationen eingesetzt, die den Organisationen den Status eines »ausländischen Agenten« zuschreiben. Über all die Jahre, die das moderne Russland als Staat besteht, ist der nichtkommerzielle Sektor genötigt gewesen, sich an die ständig strenger werdenden Vorschriften anzupassen und Attacken des Staates abzuwehren.

Das Recht auf Vereinigung sowie Freiheitsgarantien für die Tätigkeit gesellschaftlicher Vereinigungen sind in der Verfassung Russlands festgeschrieben. In letzter Zeit klaffen jedoch die Deklarationen und das reale Leben drastisch auseinander. Der Staat in Gestalt seiner Behörden mischt sich erheblich und ohne Umschweife in die Arbeit nichtkommerzieller Organisationen ein und verletzt dabei die in der Verfassung Russlands und durch internationale Normen garantierten Rechte und schafft Hindernisse für die Arbeit der Organisationen.

Zwei Typen von NKOs

In Russland lassen sich zwei Typen nichtkommerzieller Organisationen unterscheiden, die sich durch ihren rechtlichen Status unterscheiden, einen speziellen und einen allgemeinen.

Zu den Organisationen mit speziellem Status können die Außenstellen und Vertretungen ausländischer Nichtregierungsorganisationen gerechnet werden. Merkwürdigerweise fallen diese nicht unter das Gesetz über »ausländische Agenten«, während das bei den russischen NKOs der Fall war. Die Politischen Parteien, deren Ziel der Kampf um die Macht ist, zählen wir ebenfalls zu den NKOs mit einem besonderen Status. Religiöse Organisationen haben einen besonderen rechtlichen Status, wobei einige von ihnen in Russland heute ebenfalls Verfolgungen ausgesetzt sind. Mit besonderen Rechten sind auch karitative Organisationen und Gewerkschaften ausgestattet. Gesellschaftliche Vereinigungen, die eine juristische Person bilden, sind mit zusätzlichen Rechten und Pflichten versehen, obwohl sie laut Gesetz auch ohne Registrierung tätig sein können. In diesem Fall haben sie nicht das Recht auf Eigentum und ein Bankkonto.

Gleichzeitig gibt es eine große Gruppe gewöhnlicher NKOs: gesellschaftliche Organisationen, Bewegungen, Stiftungen, autonome nichtkommerzielle Organisationen sowie Assoziationen und Verbände solcher Organisationen. [dieser Typ von NKO wird im Text in der Folge als NGO bezeichnet. Die Redaktion]

Staat und NGOs 1999–2004

Die Geschichte der Beziehungen des Staates zu diesen NGOs weist eine ungewöhnliche Entwicklung auf. Ganz zu Beginn seines Bestehens, in den 1990er Jahren, hatte der Staat die Bedeutung der Institution NGO nicht verstanden, da er mit der Lösung anderer, drängenderer Probleme beschäftigt war und man NGOs schlichtweg keine Beachtung schenkte. Diese Phase kann als goldene Zeit für den nichtkommerziellen Sektor bezeichnet werden. In jenen Jahren wurde für nichtkommerzielle Organisationen eine Finanzierung aus dem Ausland möglich, und gerade dank dieser Unterstützung sind viele Organisationen mit unterschiedlichsten Betätigungsfeldern entstanden. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts, als im Russischen Reich massenhaft Gewerkschaften sowie unterschiedliche wohltätige Gesellschaften und Klubs entstanden waren, waren die neunziger Jahre die erste Phase in der Geschichte Russlands, in der vom Staat unabhängige gesellschaftliche und nichtkommerzielle Organisationen frei arbeiteten. In dieser kurzen Zeit gelang es den Nichtregierungsorganisationen, ein notwendiges Niveau an Professionalität zu erreichen und mit den einzelnen Organisationen des dritten Sektors die Grundlage einer zukünftigen Bürgergesellschaft zu formieren.

Die Zeit von 1999 bis 2004 kann als »frühputinsche« Phase bezeichnet werden. Der Staat nahm sich die NGOs vor und traf Maßnahmen, um im nichtkommerziellen Sektor für »Ordnung« zu sorgen. Zum einen wurde beschlossen, die Organisationen »Stück für Stück« zu zählen und sich einen Überblick zu verschaffen, womit sie sich beschäftigen. Als zweites beschloss das Justizministerium 1999, dass alle Organisationen eine Neuregistrierung durchlaufen müssen. Dann stellte sich heraus, dass der Staat allen Organisationen, in dessen Satzungen vom Schutz der Menschenrechte die Rede war, die Neuregistrierung verweigern wollte. Das wurde damit begründet, dass der Schutz der Menschenrechte die Prärogative des Staates sei. Den Bürokraten hatte es nicht gefallen, dass Menschrechtsorganisationen als Mittler zwischen Staat und Bevölkerung auftreten, und es wurde beschlossen, eine Neutralisierung dieser Tätigkeit unternehmen. Das Justizministerium verweigerte Organisationen, deren Satzungsziele »Schutz der Menschenrechte« lauteten, die Neuregistrierung. Diese Beanstandung erfolgte gegenüber vielen bekannten Menschenrechtsorganisationen, unter anderem der »Stiftung zur Verteidigung von Glasnost«, dem Menschenrechtszentrum »Memorial«, der Bewegung »Soldatenmütter Russlands« und der »Bürgerhilfe«. Die misstrauische Haltung des Staates gegenüber den NGOs wird in einer Äußerung Präsident Putins von 2004 deutlich: »Für einige Nichtregierungsorganisationen ist ein anderes Ziel vorrangig geworden – insbesondere der Erhalt von Geldern von einflussreichen ausländischen und russischen Stiftungen, während es bei anderen die Dienste für dubiose Gruppen und kommerzielle Interessen sind… Sie werden wohl kaum die Hand beißen, die sie füttert«.

Die Repressionsphase 2005–2006

2005 und 2006 waren Jahre der »Repressionen«. Es wurden neue Änderungen in der NGO-Gesetzgebung vorgenommen, die eine zusätzliche obligatorische Berichterstattung der Organisationen über ihre Tätigkeit und ihre Finanzierung vorsahen. Zur gleichen Zeit wurde die Gesellschaftskammer der Russischen Föderation gebildet, wobei die meisten Menschenrechtsorganisationen deren Einrichtung boykottierten und keine Vertreter dorthin entsandten. 2005 wurde die Steuerinspektion als Druckinstrument hinzugeschaltet; die unternahm dann umfangreiche Überprüfungen der Einnahmen und Ausgaben von NGOs. Auf Grund der Überprüfungen formulierte der Staat für sich drei wichtige Schlussfolgerungen: 1) Menschenrechtsorganisationen sind die stärksten Organisationen und erhalten Zuwendungen aus dem Ausland; 2) eine große Zahl von NGOs nutzen ihr Recht auf eine Tätigkeit ohne Registrierung und haben, während sie so aktiv sind, keine formalen Verbindungen zu staatlichen Strukturen. Also ist die Tätigkeit dieser Organisationen nicht nachzuverfolgen und sind diese nicht aufzulösen; 3) der Staat hat niemanden, mit dem er (zusammen)arbeiten kann: ein Teil der Organisationen sind Phantome, ein anderer unversöhnliche Menschenrechtler, ein dritter ist von der Wirtschaft installiert, ein vierter ist ohne Registrierung tätig, ein fünfter vom Staat installiert.

GONGOs und »ausländische Agenten«

Von 2007 bis 2011 trat der Staat in eine neue Phase seiner Beziehungen zu NGOs, die sich mit »Übernahme der Initiative« umschreiben lässt. Die staatlichen »Technologen« gründeten nun verstärkt Pseudo-NGOs, sogenannte GONGOs (Government-Organized/Operated Non-Governmental Organizations), um die Tätigkeit nichtkommerzieller Organisationen in für den Staat sensiblen Bereichen zu imitieren und die Tätigkeit der real arbeitenden NGOs zu »übernehmen«. Die Vertreter solcher Organisationen werden dann vom Staat in die bei den Behörden angesiedelten Gesellschaftsräte und Kommissionen berufen, die die Existenz einer Zivilgesellschaft illustrieren sollen, die das Regime unterstützt.

Ein Teil dieser Pseudo-NGOs ist ohne staatliche Registrierung tätig. Es wurden da absurde Organisationen geschaffen, die die Ideen des Staates in die Gesellschaft transportieren sollen, etwa die »Gewerkschaft der Bürger Russlands«. Die Haupttätigkeit solcher NGOs besteht in der Unterstützung der Regierung und in der Attackierung und Diskreditierung real arbeitender unabhängiger Organisationen. Für den nichtkommerziellen Sektor war das eine Phase des Überlebenskampfes. Es sollte allerdings noch schwieriger werden.

Seit Ende 2011 setzte eine neue Phase des Druckes auf den nichtkommerziellen Sektor ein, die man mit »Jagd auf ausländische Agenten« überschrieben könnte. Nachdem im Dezember 2011 eine Welle von Massenprotesten und spontanen Demonstrationen über das Land gezogen war, gingen die meisten Bürger in die Feiertage, während die Regierung nach den Gründen und den Organisatoren der Ereignisse suchte. Allem Anschein nach ist dabei die »einfache« Erklärung gefunden worden, dass diese Proteste aus dem Westen bezahlt worden seien. Da NGOs Gelder auch von westlichen Organisationen erhalten, wurde beschlossen, sie zu diskreditieren und ihre Tätigkeit einzuschränken.

Das neue NKO-Gesetz

Da das Regime sich jetzt das Bürgerengagement erklärt hatte, verabschiedete es ein Gesetz, das die Strafen für Rechtsverstöße bei Demonstrationen und Versammlungen verschärfte. Am 20. Juli 2012 wurden dann die Korrekturen zum NKO-Gesetz verabschiedet, die den Begriff der »nichtkommerziellen Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen« einführen, und Organisationen, die eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten, zwingen, sich als »ausländische Agenten« zu bezeichnen. Dieses neue Gesetz ist am 21. November 2012 in Kraft getreten. Nun sollen NGOs in Russland, die eine »politischer Tätigkeit« auf dem Gebiet der Russischen Föderation betreiben, die sich also »an der Organisierung und Durchführung von politischen Aktionen beteiligen, die die Entscheidungen staatlicher Organe oder die von diesen durchgeführte staatliche Politik beeinflussen sollen, oder an der Bildung der öffentlichen Meinung zu diesem Zwecke«, und die »Geldmittel oder anderes Vermögen von ausländischen Staaten, internationalen oder ausländischen Organisationen, ausländischen Staatsbürgern oder Personen ohne Staatsangehörigkeit erhalten«, den Status eines »ausländischen Agenten« bekommen. Eine Analyse der Gesetze in Russland fördert allerdings keine exakte normative Festlegung der Begriffe »politische Aktion« und »staatliche Politik« zu Tage, wodurch sich recht weite Grenzen für die Anwendung dieses Gesetzes ergeben, was wiederum dem Prinzip rechtlicher Bestimmtheit widerspricht.

Das Gesetz fasst unter politischer Tätigkeit nicht den realen politischen Kampf um die Macht und die Unterstützung dieses oder jenes Kandidaten, sondern praktisch jedwede Tätigkeit einer gesellschaftlichen Organisation. So wird – in der Version der Staatsanwaltschaft – folgendes als politische Tätigkeit verstanden: Einsatz für die Wahrung der Rechte indigener Völker der Amur-Region, damit diese ihre traditionelle Lebensweise bewahren und einen angemessenen Nutzen aus dem Erhalt und der nachhaltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen in ihren Siedlungsgebieten ziehen können; Schaffung eines professionellen und den Steuerzahler nicht belastenden Staatsapparats; Verteidigung der eigenen Rechte, Vertretung der Interessen und berechtigten Ansprüche seiner Mitglieder sowie anderer Bürger gegenüber Organen staatlicher Macht, Organen der lokalen Selbstverwaltung und vor Gericht; Aufdeckung der Wahrheit über die Verbrechen totalitärer Regime und über terroristische Methoden der Gesellschaftsverwaltung; Vorbereitung eines Menschrechtsberichts für die 49. Sitzung des Ausschusses gegen Folter der Vereinten Nationen mit dem Titel »Zigeuner, Migranten, Aktivisten: Opfer von Polizeiwillkür«; Beteiligung der Mitarbeiter der nichtkommerziellen Organisation an einer Beobachtung der Wahlen von 2011 usw. In dem Gesetz wird für die Aufnahme in das Register eine »Freiwilligkeit« festgelegt, unter Androhung einer Ordnungsstrafe von bis zu 500.000 Rubeln für die Organisation und von bis zu 300.000 Rubeln für deren Leiter; bei böswilliger Weigerung, sich als »ausländischer Agent« registrieren zu lassen, droht der Leitung der Organisation Strafverfolgung und bis zu zwei Jahren Freiheitsentzug. Für die Organisation bedeutet es die Aussetzung ihrer Tätigkeit.

Das Vorgehen gegen die NGOs

Der Verabschiedung dieser dem Bürgerengagement entgegenstehenden Gesetze folgte die willkürliche Anwendung. 2013 gab es massenhaft staatsanwaltschaftliche Überprüfungen von nichtkommerziellen Organisationen mit dem Ziel, unter diesen Organisationen »ausländische Agenten« aufzuspüren. Das geschah in vielen Regionen des Landes und betraf über eintausend NGOs, von denen einige Dutzend aus Sicht der Staatsanwaltschaft den Status eines »ausländischen Agenten« zuzuschreiben war. Das Justizministerium blieb ebenfalls nicht untätig, allerdings ging es – anders als die Staatsanwaltschaft – gegen nur zwei Organisationen vor, gegen die Assoziation GOLOS und die Regionale Organisation GOLOS. Daraufhin wurde den beiden Organisationen ihre Tätigkeit untersagt und ihnen und ihren Leitungen eine Strafe von 700.000 Rubel auferlegt. Zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit waren die ehemaligen Mitarbeiter und Aktivisten daher genötigt, eine neue Organisation zu bilden, allerdings ohne Bildung einer juristischen Person – die Bewegung zum Schutz der Wählerrechte GOLOS.

Das Regime erhielt eine konsolidierte Reaktion des nichtkommerziellen Sektors, die in einem Boykott des Gesetzes und der Weigerung bestand, sich freiwillig in das Register »ausländischer Agenten« aufnehmen zu lassen. Menschrechtler bewerteten die Verabschiedung des Gesetzes als Versuch, unabhängige NGOs aus dem Weg zu räumen, da die Formulierungen des Gesetzes derart unkonkret seien, dass jede NGO, die eine Finanzierungen aus dem Ausland erhält, als »ausländischer Agent« eingestuft werden kann – andernfalls müsste sie mit den im Gesetz vorgesehenen Sanktionen rechnen.

Im Februar 2013 wurde im Namen von elf Menschenrechts-NGOs wegen der Verabschiedung und des Inkrafttretens des Gesetzes über »ausländische Agenten« Beschwerde beim Europäischen Menschrechtsgerichtshof eingelegt, in der auf eine Verletzung einer Reihe von Artikeln der Europäischen Menschenrechtskonvention verwiesen wird. Die Verhandlung dieser Beschwerde kann sich allerdings noch Jahre hinziehen.

Die Folgen des Gesetzes – eine Kampagne gegen »ausländische Agenten«

Viele Beobachter fragten sich, warum sich NGOs nicht einfach in das Register aufnehmen lassen und weiterarbeiten. Die Antwort ist einfach: Eine Arbeit wäre in diesem Falle untragbar, da die Tätigkeit einer solchen Organisation sich faktisch unter einem schwebendem Verbot befände. Eine Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen wäre ausgeschlossen. Alle Materialien, die von dieser NGO veröffentlicht würden, müssten mit dem Hinweis versehen werden, dass die Veröffentlichuein Vorschlagng durch einem »ausländischer Agenten«. Das Gesetzbuch über verwaltungsrechtliche Gesetzesverstöße legt Strafen von mehreren Tausend Rubel fest falls bei irgendeinem öffentlichen Auftritt der Hinweis fehlt, dass die Organisation den Status eines »ausländischen Agenten« hat. Hinzu kommen die Belastungen, die sich aus der vierteljährlichen Berichterstattung und den außerplanmäßigen Überprüfungen ergeben. Der Begriff »ausländischer Agent« ist zudem kein Zufall. Studien haben gezeigt, dass Formulierungen dieser Art im Bewusstsein der Menschen als negativ wahrgenommen werden; die überwiegende Mehrheit der russischsprachigen Befragten assoziiert »ausländischer Agent« mit »Spion« oder gar »Verräter«.

Dadurch bedeutet die in den Medien losgetretene Kampagne einer Brandmarkung als »ausländischer Agent« einen kolossalen Reputationsschaden für den gesamten Sektor und hat das Vertrauen in der Bevölkerung zu NGOs weiter zurückgehen lassen.

Unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Gesetzes sind die Büros führender russischer Menschenrechtsorganisationen, der Internationalen Gesellschaft Memorial, der Moskauer Helsinki-Gruppe und der Bewegung »Für die Menschenrechte«, mit der Aufschrift besprüht worden: »Ein ausländischer Agent liebt die USA«. Außerdem fanden vor den Büros von Transparency International Russland, der Assoziation GOLOS, der »U.S. Russia Foundation for Economic Advancement and the Rule of Law« (USRF) und dem Justizministerium Russlands Protestversammlungen gegen »ausländische Agenten« statt. Eine Woche später wurde auf dem Dach des Gebäudes der Internationalen Gesellschaft Memorial von Unbekannten ein großes Transparent mit den Worten »Hier sitzt ein ausländischer Agent« angebracht. In Syktywkar haben Aktivisten der ultrarechten Organisationen »Grenze des Nordens« Wohnungstüren von Menschenrechtlern mit großen Stickern beklebt, auf denen zu lesen war: »Hier wohnt ein »ausländischer Agent«.

Vom 19. bis zum 22. April 2013 hat das Lewada-Zentrum eine repräsentative Umfrage bei 1601 Bürgern Russlands durchgeführt. Die statistische Fehlerwahrscheinlichkeit solcher Umfragen liegt unter drei Prozent. Unter anderem wurde folgende Frage gestellt: »Gibt es Ihrer Ansicht nach unter den nichtkommerziellen Organisationen in Russland viele echte ausländische Agenten, die als Mittler für ausländische Staaten und deren Geheimdienste dienen?« [vgl. Grafik 1 auf S. 7]. 26 % der Befragten nannten einige Dutzend, 18 % nannten einige Tausend/Hundert, 12 % antworteten, dass es einzelne NGOs seien, und 4 % meinten, dass es solche überhaupt nicht gebe. 41 % antworteten mit »Schwer zu sagen.« Es wurde auch gefragt: »Finden Sie es richtig, dass NGOs, die politisch tätig sind, Gelder aus dem Ausland erhalten und sich gesetzeswidrig nicht als »ausländischer Agent« registrieren lassen, hart bestraft werden, bis hin zu ihrer Auflösung?« 53 % finden es gut, 20 % finden es nicht gut, und 28 % taten sich mit einer Antwort schwer [vgl. Grafik 2 auf S. 8].

Finanzierungsprobleme

Ein wichtiges Ereignis war im Oktober 2012 das faktische Verbot für eine Tätigkeit der US-amerikanischen Entwicklungshilfebehörde USAID in Russland. Eine große Zahl von Organisationen, die früher eine institutionelle Förderung erhielten, waren nun genötigt, eiligst eine Alternative zur jetzt verbotenen Förderung zu suchen. Die Risiken, die mit dem Erhalt von ausländischen Geldern verbunden sind, der Rückzug großer ausländischer Zuwendungsgeber und das Unsicherheit hinsichtlich der weiteren Politik des Staates gegenüber den Zuwendungsgebern insgesamt werden von den NGOs als äußerst wichtiger, negativer Faktor gewertet, der sich nachhaltig auf ihre Existenzmöglichkeiten auswirkt. Innerhalb kurzer Zeit eine innerrussische Finanzierung durch die Bevölkerung zu finden, ist nur in kleinem Umfang möglich. Das gilt auch für die staatliche Förderung von NGOs, die die entstehenden Verluste nicht ausgleicht.

Auch wenn in den letzten Jahren die Finanzierung für NGOs aus Haushaltsmitteln formal zugenommen hat, und der Umfang der Fördermittel für NGOs, die aus dem Zentralhaushalt bestritten werden, im Jahr 2012 zwei Milliarden Rubel erreicht hat, erfolgt keine ernstzunehmende Steigerung der NGO-Förderung. Zu den Empfängern dieser Gelder gehören in erster Linie die landesweiten Invalidenverbände, Vereinigungen der Kunstschaffenden und Organisationen, die in den Bereichen soziale Sicherung und Gesundheit tätig sind. Sie erhalten die Mittel direkt über die jeweils zuständigen Ministerien, ohne eine Auswahl über Ausschreibungen. Es werden immer mehr Gelder zugeteilt; in der Praxis aber gehen sie Jahr für Jahr an die immer gleichen Organisationen. Von den über zwei Milliarden Rubel 2012 wurden gerade einmal 93 Millionen nach Ausschreibungen zugeteilt.4

Zudem zeigen die staatlichen Stellen bei der Zuteilung von Fördermitteln über Ausschreibungen fehlende Kompetenz zur effizienten Verteilung der Haushaltsmittel und zum Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen zu den Organisationen des dritten Sektors. Die Prinzipien, nach denen russische Stiftungen Zuwendungen gewähren, sind den potentiellen Empfängerorganisationen nicht immer klar und intransparent.

Im Rahmen des Wettbewerbs um die Präsidenten-Grants wird die Finanzierung mit Hilfe einiger Verteilerorganisationen zugeteilt, wobei die NGOs von diesen keine reale Unterstützung erfahren. Sechs der zehn größten Verteiler dieser Fördermittel in den Jahren 2008–2013 waren aktuell oder früher Mitglieder der Gesellschaftskammer. Praktisch jedes Jahr werden die Ausschreiben von nahestehenden NGOs gewonnen, und die Zuwendungen an diese sind meist merklich größer als für andere Bewerber.5

Die meisten russischen NGOs arbeiten noch immer unter den Bedingungen eines ständigen Ressourcenmangels. Der Staat und die Unternehmen in Russland sind nicht bereit, einen unabhängigen dritten Sektor zu finanzieren.

In der näheren Zukunft stehen einige wichtige Ereignisse an. Zum einen wird das Verfassungsgericht Anfang 2014 seine Entscheidung zur Frage verkünden, ob die Bestimmungen des Gesetzes über »ausländische Agenten« mit der Verfassung vereinbar sind; es könnte eine kosmetische Präzisierung der Formulierungen folgen. Als zweites dürften die Grundlagen für außerplanmäßige Überprüfungen aller NGOs gesetzlich ausgeweitet werden; zweifellos werden viele unabhängige Organisationen die Folgen hiervon zu spüren bekommen. Drittens ist die Verabschiedung eines neuen Zivilgesetzbuches in Planung, in dem nur zwei Arten von nichtkommerziellen Organisationen verbleiben korporative und »unitäre«, was zu einer neuen Welle erzwungener Neuregistrierungen von NGOs führen könnte.

Zusammenfassend lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass durch die Situation, die über die letzten Jahre entstanden ist, ernstliche Behinderungen für führende regierungskritische NGOs bestehen und deren Arbeit in Russland weiter erschwert wird. Für die Zivilgesellschaft sind die letzten Jahre sind die schlechtesten in der neuesten Geschichte Russlands. Eine vom Staat unabhängige Aktivität zu entfalten wird nicht nur immer schwerer, sondern schlichtweg auch gefährlich. Angesichts des außergewöhnlichen Drucks und schrumpfenden Lebensraumes benötigen die russischen NGOs dringender denn je vielseitige Unterstützung.

Gleichzeitig bleibt die Schaffung eines günstigen Umfeldes, vor allem durch einen Wandel in der staatlichen Politik gegenüber dem dritten Sektor, eine Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Existenz der Organisationen.

Übersetzung: Hartmut Schröder

Lesetipps / Bibliographie

Lesetipps zum Thema Zivilgesellschaft in Russland

  • Amnesty International (Hrsg.): Freedom under threat: The clampdown against freedoms of expression, assembly and association in Russia, London: Amnesty International Publications 2013 (= <http://www.amnesty.org/en/library/asset/EUR46/011/2013/en/d9fb0335-c588-4ff9-b719-5ee1e75e8ff5/eur460112013en.pdf, 4. Mai 2013>), 58 S.
  • Aron, Leon: A Quest for Democratic Citizenship: Agendas, Practices, and Ideals of Six Russian Grass-Roots Organizations and Movements. A Project of the American Enterprise Institute, September 2012 (= <http://www.aei.org/files/2012/08/28/-a-quest-for-democratic-citizenship-agendas-practices-and-ideals-of-six-russian-grassroots-organi zations-and-movements170653437332.pdf, 21. September 2012>), 45 S.
  • Aron, Leon: Russia’s Protesters: The People, Ideals, and Prospects. American Enterprise Institute for Public Policy Research. Russian Outlook, Summer 2012, September 2012 (= <http://www.aei.org/files/2012/08/08/-russias-protesters-the-people-ideals-and-prospects152337456900.pdf, 21. September 2012>), 13 S.
  • Ennker, Benno: Russland in Bewegung. Die alte Ordnung und die neuen Dekabristen, in: Osteuropa, 62.2012, Nr. 1, S. 41–55.
  • Evans, Alfred B.; Henry, Laura A.; Sundstrom, Lisa McIntosh (Hrsg.): Russian Civil Society. A Critical Assessment, Armonk, N.Y. / London: M.E. Sharpe 2006, vii, 340 S.
  • Evans, Alfred B.: jr.: Protests and civil society in Russia: The struggle for the Khimki Forest, in: Communist and Post-Communist Studies, 45.2012, Nr. 3–4, S. 233–242.
  • Gabowitsch, Mischa [Gabovič, Michail]: Putin kaputt!?. Russlands neue Protestkultur, Berlin: Suhrkamp Verlag 2013 (= edition suhrkamp 2661), 438 S.
  • Greene, Samuel A.: State and Society. Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in: Demokratizatsiya. The Journal of Post-Soviet Democratization, 20.2012, Nr. 2, S. 133–140.
  • Koesel, Karrie J.; Bunce, Valerie J.: Putin, Popular Protests, and Political Trajectories in Russia: A Comparative Perspective, in: Post-Soviet Affairs, 28.2012, Nr. 4, S. 403–423.
  • Lang, Susanne; Härtel, Alexandra; Bürsch, Michael: Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement in Russland, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Referat Mittel- und Osteuropa, 2010, 24 S. (Studie Friedrich-Ebert-Stiftung. April 2010) <http://library.fes.de/pdf-files/id/07173.pdf, 26. August 2011>
  • Michaleva, Galina: Das politische Potential der Zivilgesellschaft in Russland während der Präsidentschaft von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew. Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Arbeitspapiere und Materialien Nr. 116, November 2011, 63 S. <http://www.forschungsstelle.uni-bremen.de/UserFiles/file/fsoAP116.pdf, 9. Februar 2012>
  • Schiffer, Stefanie; Dzhibladze, Yuri: European Solidarity for Russia’s Civil Society, 26.6. 2013 (= EU-Russia Civil Society Forum/Graždanskij forum ES Rossija. Policy Paper <http://eu-russia-csf.org/fileadmin/PolicyPapers/Oth ers/EuropeanSolidarityforRussiasCivilSociety26-1-1.06.pdf, 2. Juli 2013>), 6 S.

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