Auf dem Boden der Tatsachen. Putins Rede zur Lage der Nation im Dezember 2013

Von Hans-Henning Schröder (Berlin)

Zusammenfassung
Putins diesjährige »Botschaft an die Föderalversammlung« hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Sie ist gewiss kein großer Wurf, sie entwickelt keine politischen Perspektiven für das nächste Jahrzehnt. Sie arbeitet sich an vielen Einzelproblemen ab, die sie nüchtern analysiert und für die sie mitunter auch Lösungsvorschläge macht. Nach der mit patriotischer Rhetorik gesättigten Rede im Dezember 2012 war der Präsident nun wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Die Nichterfüllung der Mai-Erlasse, das schwache Wirtschaftswachstum, die Schwächen in Gesundheitswesen, Bildung und Wissenschaft; Sozialpolitik und Wohnungsbau wurden thematisiert. Immerhin kann Putin außenpolitische Erfolge vorweisen und nimmt dies auch zum Anlass, eine Politik, die anderen Gesellschaften ihre Werte aufzwingt, entschieden zurückzuweisen

Russische Politik im Winter 2013

Die Präsidialadministration hatte dieses Jahr Putins Rede zur Lage der Nation auf den 12. Dezember angesetzt. An diesem Tag war 20 Jahre zuvor per Volksentscheid die derzeit geltende russische Verfassung verabschiedet worden. Ein symbolisches Datum, an dem Präsident Putin vor die Abgeordneten der Duma und des Föderationsrates trat, um in der »Botschaft an die Föderalversammlung« die Bilanz des abgelaufenen Jahres zu ziehen und seine politischen Vorstellungen für das kommende Jahr vorzustellen. Das hatte er in seinen bisherigen Amtszeiten bereits neunmal getan. 2013 war die zehnte »Botschaft«, die er den Parlamentariern präsentierte.

Nach brisanten Themen mussten die Redenschreiber 2013 nicht lange suchen. Das Regime war nach der Finanzkrise 2008/2009 in schweres Fahrwasser geraten. Ökonomische und soziale Probleme hatten Unzufriedenheit und Missstimmung in der Gesellschaft wachsen lassen. Als die politische Führung 2011 die Ergebnisse der Dumawahlen verfälschte, brach der Unmut in Form von Massendemonstrationen auf, die sich allerdings auf die Metropolen beschränkten. Zwar wurde Putin im März 2012 wieder zum Präsidenten gewählt, doch die Akzeptanzkrise des Regimes hält bis heute (Dezember 2013) an, die Umfragewerte von Präsident und Regierung geben immer weiter nach.

Es ging dabei nicht nur um ein Imageproblem. Die Wirtschaft wuchs 2013 kaum, der Kapitalabfluss ins Ausland blieb hoch, es war nicht gelungen, die Industrie umzustrukturieren und sich aus der Abhängigkeit von Energieexporten zu lösen. Die Investitionen sind unzureichend, die Infrastruktur mangelhaft. Da die Wirtschaftsleistung 2013 kaum zugenommen hatte, waren für die Verbesserung des Lebensstandards und den Ausbau der Sozialsysteme nur begrenzt Mittel vorhanden. Die Überwindung der Akzeptanzkrise durch sozialen Fortschritt, wie sie in Putins Mai-Erlassen 2012 angelegt war, konnte daher nicht ohne weiteres erreicht werden.

Innenpolitisch hatte die Putin-Administration 2012/2013 darauf gesetzt, oppositionelle Kräfte einzuschüchtern und die Zivilgesellschaft unter Kontrolle zu bringen. Justiz und Strafverfolgungsbehörden arbeiteten hier Hand in Hand, um potentielle Oppositionsführer durch Strafverfahren zu neutralisieren. Parallel dazu betrieben Administration und Duma eine nationalpatriotische Politik, die sich an die gesellschaftlichen Kräfte rechts der Mitte wandte. Die nationale Mobilisierung zeitigte zwar Erfolge, wurde dann aber auch von einer Verschärfung fremdenfeindlicher Stimmungen begleitet. Die Ablehnung von Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien hat zugenommen und den Nährboden für Pogrome wie das im Moskauer Stadtteil Birjulowo geschaffen.

Der Sommer 2013 brachte eine gewisse Wende: Die Kampagne gegen die Nichtregierungsorganisationen wurde eingestellt, und politisch gab es Andeutungen von Liberalisierung. Einzelne Politiker wie der Moskauer Bürgermeister Sobjanin gewährten der Opposition kleine Spielräume, so dass sie bei den Regionalwahlen im September örtlich Erfolge erzielen konnte. Möglicherweise fürchteten einige Angehörige der Führungselite, dass die rechte Mobilisierung zu einer Spaltung der Gesellschaft führen könnte, und bemühten sich, die gemäßigten Teile der Opposition in das politische System zu integrieren. Im Herbst 2013 war allerdings noch nicht klar, ob sich diese Tendenz in der politischen Spitze wird durchsetzen können.

Außenpolitisch war die Putin-Administration 2012 und 2013 recht erfolgreich gewesen. Sie hat im Syrienkonflikt einen diplomatischen Erfolg erzielt, und bei den Bemühungen um die Integration des postsowjetischen Raums Fortschritte gemacht. Doch der Versuch, auch die Ukraine einzubinden, stieß 2013 in der EU und in der ukrainischen Gesellschaft auf Widerstände.

All dies – die Schwäche des Wirtschaftswachstums, die soziale Frage, die interethnischen Konflikte, die Organisation des politischen Systems, die Krise in der Ukraine – waren Themen, die die »Botschaft« behandeln musste. Insbesondere war von Interesse, ob der Präsident Aussagen über den künftigen politischen Kurs macht: Würde die Führung eine Integration der Gesellschaft anstreben, die Einbindung liberaler Mittelschichten und die Überwindung der interethnischen Gegensätze, oder würde sie die nationale Mobilisierung vorantreiben und eine Ausgrenzung von relevanten Teilen der Gesellschaft zulassen, um dem Regime so einen Rückhalt in der überwiegend konservativ orientierten Bevölkerungs zu verschaffen? Auch in der Außenpolitik stellte sich die Frage nach der künftigen Politik: Würde der Präsident auf eine hegemoniale – und konfrontative – Politik setzen oder es vermeiden, die Beziehungen zu den Nachbarn im postsowjetischen Raum und zum größten Wirtschaftspartner – der Europäischen Union – nachhaltig zu verschlechtern.

In der Vergangenheit hatten Präsidenten die »Botschaft« durchaus genutzt, um solche politische Richtungsentscheidungen anzukündigen oder zu erläutern. Dmitrij Medwedew entwarf 2009 das Programm, mit dem er die Forderung nach einer raschen Modernisierung des Landes, die er in seinem Artikel »Russland vorwärts!« formuliert hatte, konkretisieren wollte. Putin selbst hatte früher Fragen wie Korruptionsbekämpfung und die Sorge um die demographische Entwicklung thematisiert. Im Dezember 2012 hatte er die Gelegenheit genutzt, um in Inhalt und Diktion deutlich zu machen, dass nur eine Rückbesinnung auf die nationale Idee und traditionelle Werte Russland Rettung bringen werde. Daher war die Spannung hoch, welche Themen der Präsident im Jahre 2013 aufgreifen, und welche Signale er der russischen Gesellschaft und dem Ausland geben wollte.

Putins zehnte »Botschaft«

Die »Botschaft«, die Putin dann am 12. Dezember verlas, war deutlich kürzer als die des Vorjahres. Auch die Diktion hatte sich verändert: Begriffe wie »Vaterland« und »Patriot« kamen kaum noch vor, »Russland« wurde nur halb so oft erwähnt wie im Vorjahr, »Bürokratie« und »Beamter« tauchten überhaupt nicht auf. Das Wort »Politik« fiel nur achtmal (gegenüber 34 mal im Vorjahr), doch »Bildung«, »Wissenschaft«, »Schule« und »Technologie« wurden genauso oft oder öfter gebraucht als 2012. (vgl. Tabellen 1 und 2 Rahmendaten und Häufigkeit von Schlüsselwörtern auf S. 7–8). Es schien fast, als hätte der Präsident seinen Redenschreiber ausgetauscht: An die Stelle patriotischer Appelle und Rückbesinnungen auf Tradition und Geschichte trat in der »Botschaft« von 2013 eine nüchterne, fast technokratische Analyse.

Putin versuchte keinen »großen Wurf«, er sprach eine Vielzahl unterschiedlicher Themen an und arbeitete sie Stück für Stück ab, ohne politische Visionen und nur in wenigen Fällen mit ideologischen Rückbezügen. Die Verfassungsfrage, die im Vorfeld breit diskutiert worden war – einige Abgeordnete hatten sehr weitgehende Vorstellungen über Verfassungsänderungen – handelte Putin vergleichsweise knapp ab. Gewisse Korrekturen an der Konstitution bezeichnete er als notwendig, ging aber nur auf die Zusammenlegung der Obersten Gerichte ein. Darüber, welche Änderungen noch anstehen, schwieg er sich in der »Botschaft« aus.

Breit ging er auf die Notwendigkeit ein, das Bürgerengagement zu fördern, die Bürger in die kommunale Selbstverwaltung und den breiten öffentlichen Dialog einzubeziehen. Dabei sprach er auch die Beteiligung von Menschenrechtlern und Nichtregierungsorganisationen an, die allerdings nicht politisch aktiv werden, sondern sich mit dem »konkreten Menschen« beschäftigen sollten. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass der Präsident das Fehlen eines Dialogs Bürger-Obrigkeit als Problem wahrnahm. Da weder die Parlamente noch die zugelassenen Parteien in der Lage scheinen, die Bevölkerung zu erreichen, denkt der Präsident offenbar über andere Mechanismen nach, um die Bürger einzubinden. Allerdings wird in der »Botschaft« keine davon in überzeugender Weise dargestellt. Nach wie vor fehlen in Russland normale Institutionen, in denen die Bürger an Entscheidungen partizipieren können, eine Mehrheit hat denn auch kein Interesse an Politik. Das politische System weist also in der Kommunikation zwischen »Macht« und »Volk« ganz erhebliche Schwächen auf und Putin verfügt über keine Konzepte, mit denen diese Defizite behoben werden können.

Im Vorübergehen berührte Putin auch die Frage der interethnischen Konflikte. Ganz zutreffend beschrieb er sie als komplexe Phänomene, in denen sich soziale und regionale Probleme, Korruption, das Misstrauen gegenüber den Staatsorganen und Mängel der Bildungs- und Kulturpolitik vermischen. Politische Lösungsvorschläge für den Umgang mit diesem Problemkreis blieb der Präsident den Abgeordneten aber schuldig: Er flüchtete sich in den Aufruf, die Einheit der Gesellschaft und des russischen Staates zu wahren. Im Wirtschaftsteil der »Botschaft« kam er allerdings noch einmal auf die interethnischen Probleme zurück: Putin forderte, bei der visafreien Arbeitsmigration aus dem postsowjetischen Raum »Ordnung zu schaffen« und kriminellen Aktivitäten »ausländischer Bürger« einen Riegel vorzuschieben. Insofern agierte der Präsident durchaus ambivalent: einerseits beschwor er den multiethnischen Charakter des russischen Staates und plädierte dafür, die Ursachen von Konflikten zu bekämpfen, andererseits nahm er das verbreitete Misstrauen gegen Migranten auf und versprach ordnungspolitische Lösungen. Den Eindruck, er habe die Brisanz des Problems erkannt und arbeite an einer Lösung, hinterließ er nicht.

Die leidigen Mai-Erlasse

Ein wichtiges Thema waren für den Redner aber die Mai-Erlasse des Jahres 2012 – jenes Bündel präsidialer Anordnungen, die, fast im Sinne planwirtschaftlicher Vorgaben, wirtschafts- und sozialpolitische Ziele für die kommenden Jahre fixiert hatten. Sie sahen u. a. eine erhebliche wirtschaftliche Leistungssteigerung, soziale Verbesserungen – etwa Gehaltssteigerungen für Lehrer und medizinisches Personal – einen effizienteren Mitteleinsatz im Sozialbereich und Beschleunigung des Wohnungsbaus vor. Die Erlasse waren gewissermaßen als Garantien für jenen sozialen Fortschritt gedacht, mit dem man gesellschaftliche Konflikten bereits im Vorfeld entschärfen wollte.

Der Verbund der Erlasse sei, so der Präsident, ein einheitliches Handlungsprogramm, das das Streben des russischen Volkes nach einem besseren Leben zusammenfasse. Doch man habe sie nicht oder nur verzerrt umgesetzt. Anderthalb Jahre nach der Publikation der Erlasse am 7. Mai 2012 seien sie, so der Präsident, immer noch nicht realisiert.

Die »Botschaft« behandelte eingehender einige der Problemfelder, auf die die Mai-Erlasse abzielten. Putin ging auf das Gesundheitswesen, die Kulturpolitik, das Bildungswesen und den Wohnungsbau ein, und setzte sich auch mit Einzelheiten auseinander. So stellte er angesichts der unzureichenden Regulierung der Baugenehmigungsverfahren bitter fest: »Die Kollegen verstehen sehr gut, was da vorgeht, warum die Frage bisher nicht gelöst wurde. Das ist eine durch und durch korrumpierte Sphäre, deshalb. Das ist das ganze Problem.« Der Präsident musste eingestehen, dass er nicht einmal in der Lage war, ein Verwaltungsverfahren zu vereinfachen, und zwar deshalb, weil die Masse der Beteiligten ein Interesse daran hätten, umständliche Verfahren beizubehalten, die mehr Möglichkeiten boten, Bestechung zu generieren.

Innovation, Unternehmensklima und off shore-Geschäfte

Großen Raum widmete Putin den Fragen von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Er stellte fest, dass der Anteil des Umsatzes durch intellektuelles Eigentum am Bruttoinlandsprodukt in den USA 12 % ausmacht, in Deutschland 7–8 %, in Russland aber weniger als 1 %. Der Präsident forderte daher eine Intensivierung der Innovationspolitik, u. a. die Säuberung der Industrien von »veralteten, ineffektiven, schädlichen Technologien«, um Nachfrage nach neuer Hochtechnologie zu schaffen. In diesem Kontext wolle er auch den Export von Gütern der verarbeitenden Industrie ausbauen und dazu administrative Hemmnisse abbauen. Um das Geschäftsklima zu verbessern, regte der Präsident an, ein Register für staatliche Kontrollmaßnahmen zu schaffen. Damit solle das Vorgehen staatlicher Stellen im Unternehmensbereich transparenter, und die Kontrolleure besser kontrollierbar werden.

Schließlich thematisierte Putin auch die off shore-Frage. Im Dezember 2012 hatte er die Praxis vieler russischer Konzerne kritisiert, sich in Steueroasen registrieren zu lassen und ihre Geschäfte off shore abzuwickeln. Der Präsident hatte eine Politik der deoffschorisazija gefordert, die Rückholung russischer Unternehmen und russischen Kapitals ins eigene Land. Ein Jahr später musste Putin eingestehen, dass in der Zwischenzeit nichts geschehen sei: 2013 wurde ein Fünftel des russischen Exports über off shores getätigt, und die Hälfte der russischen Auslandsinvestitionen gingen in den off shore-Bereich. Der Präsident beklagte auch, dass beim Kauf der Holding TNK-BP durch den russischen Staatskonzern Rosneft ein Teil des Geschäfts außerhalb der russischen Jurisdiktion abgewickelt worden sei. Was um so erstaunlicher erschien, als der Vorstandsvorsitzende von Rosneft, Igor Setschin, ein enger Weggefährte des Präsidenten, offenbar nicht geneigt war, geschäftliche Vorteile der Staatsräson zu opfern. Zur Durchsetzung der deffschorisazija schlug Putin nun tatsächlich konkrete steuerrechtliche und kreditpolitische Schritte vor. Aber er ging noch weiter: er hielt Medwedews Regierung vor, nicht in der Lage zu sein, die Staatsunternehmen zu kontrollieren: »Ich lege der Regierung nahe, dass sie die Prinzipien ihrer Arbeit grundsätzlich ändert, es darf keine Zonen »korporativer Gemütlichkeit« geben.«

Auch im Wirtschaftsbereich hatte die »Botschaft« wenig Positives zu vermelden. Die Entwicklung stagniert, die Effizienz blieb gering, staatliche Maßnahmen haben nicht gegriffen.

Kein Anspruch auf den Supermachtstatus

Der außen- und sicherheitspolitische Teil der »Botschaft« war – wie schon in den Jahren zuvor – knapp gehalten.

Putin leitete ihn mit einer defensiven Erklärung ein: Russland wolle nicht als »Supermacht« auftreten. Vielmehr strebe es eine Führungsrolle an, indem es das Völkerrecht verteidige und sich für Respektierung der nationalen Souveränität, Selbständigkeit und Eigenart einsetze. Damit wandte sich Putin implizit gegen die USA und der EU, die sich in ihrer Außenpolitik gern auf Menschenrechte und gemeinsame Werte beriefen – und diese, so das russische Verständnis, anderen Gesellschaften aufdrängten. Traditionelle Werte und kulturelle Unterschiede gingen damit verloren, die Unterscheidung zwischen »Gut« und »Böse« werde aufgehoben.

Russland wende sich, so Putin, gegen die Zerstörung traditioneller Werte »von oben«, die nicht nur negative Folgen für die Gesellschaften habe, sondern zutiefst »antidemokratisch« sei. Dieser Erosion der Werte stellte Putin die russische Position gegenüber, die die geistige, moralische Grundlage der Zivilisation schütze: die Werte der traditionellen Familie, das echte menschliche Leben, die Religion, den Humanismus und die Vielgestaltigkeit der Welt. Versuche, anderen Staaten »ein progressiveres Entwicklungsmodell« aufzuzwingen, erklärte der Präsident, hätten in den letzten Jahren mehrfach zu Barbarei und Blutvergießen geführt.

Mit dieser Argumentation entwickelt er eine Verteidigungslinie gegen jegliche Kritik aus dem Ausland, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen, Wahlfälschung und mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Russland wendet. Dennoch ist verblüffend ist, dass diese Passage im Kapitel über Außenpolitik auftaucht, nicht in den Abschnitten, die sich mit der inneren Entwicklung oder mit Bildungs- und Kulturpolitik befassen. Geht man vom Inhalt der »Botschaft« aus, dann scheint es fast, dass der Bezug auf traditionelle Werte für die Putin-Administration vor allem eine außenpolitische Funktion hat, während sie innenpolitisch darauf setzt, den sozialen Frieden durch Zuwendungen an die Bevölkerung zu sichern, durch die Hebung des Lebensstandards und die Verbesserung sozialer Leistungen.

Zog Putin in der Wertefrage eine klare Linie zwischen Russland und »dem Westen« (den er aber nicht benannte), so blieb er in konkreten politischen Fragen sehr zurückhaltend. Gewiss, er lobte die russischen Außenpolitik, die in den Fällen Syrien und Iran eine wichtige Rolle gespielt habe, doch im Falle des akuten Konflikts mit der EU über die Ukraine, argumentierte Putin ausgesprochen defensiv. Er bot »unseren europäischen Freunden« sogar Gespräche über die Zusammenarbeit zwischen EU und Eurasischer Union an. Diese leise Sprache kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die russische Führung in der Praxis massiv auf die ukrainische Regierung einzuwirken sucht, doch sie zeigt auch, dass die Putin-Administration nicht gewillt ist, die Brücken zu den EU-Staaten abzubrechen. Sie verfolgt ihr Integrationsprojekt, das auf die Absicherung der eigenen Interessensphäre abzielt, doch sie will gesprächsfähig bleiben.

Allerdings gesprächsfähig von einer sicheren Position aus. Denn der Ausbau der Streitkräfte und eine enorme Ausweitung des Rüstungskomplexes sollten der Modernisierung von Armee, Luftstreitkräften und Flotte dienen, und damit Schutz gegen Bedrohungen von außen bieten. Gleichzeitig schaffe diese Initiative auch neue Arbeitsplätze. Zwei Millionen Personen seien nach Putins Angaben im Rüstungssektor tätig und das Beschaffungsprogramm, sollte auf Jahre hinaus die Beschäftigung hochqualifizierter Arbeitskräfte sichern.

Die Rückkehr der Nüchternheit

Putins diesjährige »Botschaft an die Föderalversammlung« hinterläs einen zwiespältigen Eindruck. Sie ist gewiss kein großer Wurf, sie entwickelt keine politischen Perspektiven für das nächste Jahrzehnt. Sie arbeitet sich an vielen Einzelproblemen ab, die sie nüchtern analysiert und für die sie mitunter auch Lösungsvorschläge macht. Nüchternheit ist vielleicht das angemessene Stichwort. Nach der mit patriotischer Rhetorik gesättigten Rede im Dezember 2012 scheint der Präsident nun wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Man kann über Russlands historische Größe schwadronieren, doch wenn Investitionen durch bürokratische Verfahren, deren Hauptzweck es ist, einige Beamte zu bereichern, verhindert werden, klingen die patriotischen Phrasen hohl. Insofern unterscheidet sich die »Botschaft« 2013 deutlich von der 2012: Es gibt weniger nationale Parolen, stattdessen werden Probleme offen benannt. Man hat den Eindruck, Putin hat seinen Redenschreiber gewechselt.

In der Nüchternheit der Analyse werden auch die politischen Schwächen der Putin-Administration deutlich:

Trotz aller außenpolitischer Erfolge fühlt sich die russische Führung offenbar immer noch in der Defensive. Das Plädoyer für traditionelle Werte zeigt, wie belastend die Kritik von außen empfunden wird.Die Krise in der Ukraine wird nicht zum Streitfall zwischen Russland und EU stilisiert. Vage bietet man an, die Frage in einem kooperative Kontext zu behandeln, allerdings mit dem offensichtlichen Ziel, die Idee der Eurasischen Union aufzuwerten.Es ist keine Wirtschaftsstrategie erkennbar. Die Wachstumsschwäche wird beklagt, aber eine Politik, die sie überwindet nicht umrissen. Auch Schritte zur Überwindung der der Abhängigkeit von Energieexporten werden nicht genannt. Eine Innovationsstrategie ist nicht greifbar.Es wird allerdings offenbar angestrebt, die Rüstungsindustrie massiv auszubauen, und weiter als großer Rüstungsexporteur zu agieren. Es ist bekannt, dass der Stellvertretende Ministerpräsident Rogosin das für eine Innovationsstrategie hält. Putin hat es in seiner Rede nicht unterstellt.Die »Botschaft« macht deutlich, dass dem Regime eine plausible Strategie zur Konsolidierung des politischen Systems fehlt. Das Parlament nimmt seine Funktion als Bürgervertretung nicht wahr; der Versuch, über Gesellschaftskammer und diverse Räte einen Ersatz zu schaffen, zeitigen keine erkennbaren Erfolge.Ein Alarmsignal sind die interethnischen Konflikte, in denen sich soziale Probleme, alltäglicher Rassismus und Misstrauen gegenüber der Regierung vermischen. Putins Ausführungen zeigen, dass die Administration keine Vorstellung hat, wie man dieses Problem politisch angehen kann.

Der Präsident hat mit den Problemen nicht hinter dem Berg gehalten. Er geht aber noch weiter – er offenbart, dass die Führung in vielen Fällen nicht die Kraft hat, gefällte Entscheidungen zu realisieren:

So wurden die Mai-Erlassen von Regierung und Verwaltung nicht umgesetzt.Auch die Politik der deoffschorisazija war ein Fehlschlag, in Laufe eines Jahres gab es keinen Fortschritt. Wenn allerdings der Erste Stellvertretende Ministerpräsident Igor Schuwalow über ein ausgedehntes off shore-Imperium verfügt, das seiner Frau gehört, dann ist die Frage berechtigt, ob die Eliten überhaupt interessiert sind, die Vorgaben des Präsidenten zu erfüllen.

In solchen Punkten zeigen sich die schwachen Managementfähigkeiten der Putin-Administration. Ob es eher daran liegt, dass der Präsident unerfüllbare Vorgaben formuliert, oder daran, dass der Apparat eigene Interessen verfolgt und die Vorgaben von oben ignoriert, ist schwer zu beurteilen. In jedem Fall erweckt die diesjährige »Botschaft an die Präsidialversammlung« nicht den Eindruck, dass Putin über eine konzise Politik für die nächsten Jahre verfügt, geschweige denn über einen Apparat, der die politischen Vorgaben umsetzen würde.

Lesetipps / Bibliographie

  • Presidential Address to the Federal Assembly: December 12, 2013, 13:15 The Kremlin, Moscow <http://eng.krem lin.ru/news/6402>

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