In den Notizen vor zwei Wochen habe ich, bei der Diskussion über die mauen wirtschaftlichen Aussichten Russlands, eine zumindest an jener Stelle nicht belegte Behauptung aufgestellt: »Die demonstrativ nach der Krim-Annexion und den ersten westlichen, noch eher symbolischen Sanktionen vorgenommene Wendung ›nach Osten‹, symbolisiert vor allem durch den Abschluss des Gasvertrags mit China, kommt nicht in Gang.« Heute will ich das nachholend mit ein paar Thesen unterfüttern.
Unmittelbar nach der Annexion der Krim im März schlossen Russland und China einen Gasliefervertrag ab, über den seit mehr als zehn Jahren verhandelt worden war, ohne zu einem Abschluss zu kommen. Dazu soll eine neue Pipeline von Zentralsibirien über das Altai-Gebirge nach China gebaut werden. Russische Meldungen sprachen im Frühjahr triumphierend davon, der vereinbarte Preis pro 1.000 Kubikmeter Gas sei vergleichbar mit dem, den europäische Abnehmer russischen Gases zahlten (und die zahlen, mit Ausnahme Japans, die höchsten Preise weltweit). Außerdem leiste China eine Anzahlung in Milliardenhöhe, mit der der Bau der Pipeline zumindest teilweise finanziert werden könne.
Tatsächlich erstaunen die öffentlich bekannt gewordenen Vertragsbedingungen auf den ersten Blick. Zehn Jahre lang war der Deal gerade an den doch sehr unterschiedlichen Preisvorstellungen gescheitert und nun hatte China einem bisher als zu hoch abgelehnten Preis zugestimmt, obwohl es Russland war, das wegen der Konfrontation mit den USA und der EU dringend diesen wirtschaftlich, vor allem aber symbolisch sehr wichtigen Vertrag brauchte. Aber die Beziehungen zwischen Russland und China sind vielfältiger und viel komplizierter als es die in Moskau laut verkündete Wendung nach Osten (oder besser: das Abwenden vom Westen) erscheinen lassen mag.
Aus chinesischer Sicht mögen folgende Gründe eine Rolle gespielt haben, die schwache russische Position jetzt nicht für einen kurzfristigen Gewinn auszunutzen:
So schlecht ist der Preis nicht. Zwar ist er, wie schon geschrieben, höher als die Chinesen bisher zu zahlen bereit waren. Dafür wurde er, soweit bekannt, für einen langen Zeitraum festgelegt. Aufs Ganze gerechnet lässt sich damit wohl durchaus leben.Die massiven Umweltprobleme vor allem in Nordostchina führen schon seit einiger Zeit zu einer Umorientierung der chinesischen Energiepolitik. Das russische Gas wird wohl vor allem eingesetzt werden, um die dreckige heimische Kohle zu ersetzen. Es ist bei weitem nicht die einzige Gasquelle, aber ein wichtiger Teil einer etwas weniger auf Umweltvernutzung setzenden Gesamtstrategie (der kräftige Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energiequellen ist ein anderer).Zwar haben sich chinesische Spitzenpolitiker und Medien in der Bewertung der Krim-Annexion zurück gehalten, aber sie haben sie, trotz eigener ähnlich gelagerter Probleme – ethnische Konflikte in Tibet und Xinjiang, Autonomiefragen in Hongkong und Alleinvertretungsansprüche gegenüber Taiwan – auch nicht kritisiert. Ein Grund dürfte in den eigenen Ambitionen im Pazifik liegen (die, je nach Sichtweise, mal imperialistisch, mal expansionistisch genannt werden). Ein anderer aber dürfte das Interesse sein, »Russland im Spiel« zu halten. Es kommt China sicher zu Pass, dass durch den Konflikt um die Ukraine sowohl westliche Aufmerksamkeit und Ressourcen (vor allem natürlich der USA) als auch russische Aufmerksamkeit und Ressourcen gebunden werden. Umso weniger Kraft bleibt bei allen Beteiligten, sich um China zu kümmern (wobei den Machthabern in Peking sicher auch klar ist, dass mittelfristig Russland das Spiel nicht gewinnen kann, aber das ist wohl heute zunächst egal).Zudem liegt ein instabiles Russland (auch) nicht im chinesischen Interesse. Soweit hat es Putin nämlich inzwischen gebracht, dass eine zu schnelle und zu offene Niederlage im Ukraine-Konflikt nicht nur seine Herrschaft, sondern auch die Stabilität Russlands insgesamt ernsthaft gefährden würde.
Trotzdem hat der Gasdeal, oder besser: die gesamte »Wendung nach Osten«, mit China einen klaren Gewinner. Es besteht, wie Pawel Bajew vom Peace Research Institute Oslo schreibt (<http://www.ponarseurasia.org/memo/upgrading-russia’s-quasi-strategic-pseudo-partnership-china>), zwischen China und Russland keine Beziehung »auf Augenhöhe« mehr, also etwas, worauf die russische Führung (und die öffentliche Meinung im Land) vor allem in Bezug auf den Westen aber auch sonst immer besonderen Wert legen. Das zeigen auch die unterschiedlichen Diskussionen über den Gasdeal in beiden Ländern. Während in Russland die geopolitischen Fragen im Vordergrund stehen, dreht sich die Diskussion in China fast ausschließlich um die wirtschaftlichen Aspekte.
Der Vertrauensverlust, zu dem die russische Politik inzwischen in Europa geführt hat, dürfte auch in Bezug auf China eine Rolle spielen. Das mag ein wenig mit dem rauen und wenig auf Regeln achtenden Auftreten der russischen Außenpolitik in den vergangenen Jahren zu tun haben, mehr aber noch mit einer Art Systemkonkurrenz zwischen autoritären Regimen. In China gibt es eine durch die kommunistische Partei institutionell abgesicherte kollektive Führung mit klar ausgeprägten Nachfolgeregeln, die, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat, auch ohne wesentliche Reibungsverluste funktionieren. Das ist ein wichtiger Grund für die Stabilität des chinesischen Staates. In Russland dagegen hängt heute alles an einem Alleinherrscher ohne Rettungsschirm, einem Präsidenten, der, wenn er das wollte, noch nicht einmal zurücktreten könnte ohne die Gefahr, dass das Land im Chaos versinkt. Ja mehr noch, ein Präsident, der genau diesen Zustand systematisch aus Gründen der Machtsicherung herbeigeführt hat. Diese beiden autoritären Welten stehen sich, trotz der ihnen gemeinsamen Systemkonkurrenz mit dem liberal-demokratischen Westen reichlich fremd gegenüber.
Zusätzlich kommen noch unterschiedliche Interessen im Fernen Osten und Ostasien und, neuerdings, in der Arktis hinzu. China schürt seit einiger Zeit im Westpazifik eine ganze Reihe von begrenzten Konflikten um kleinere Inselgruppen (so mit Japan, Vietnam und den Philippinen). Russland verfolgt in manchen dieser Konflikte eigene Ziele (Japan und die Kurilen) oder pflegt etwa mit Vietnam enge politische und wirtschaftliche Beziehungen.
Die größte Sprengkraft dürften langfristig aber die Forderungen Chinas sein, die Arktis zu »internationalen Gewässern« zu erklären und damit die Rohstoffausbeutung dort prinzipiell jedem Land der Welt zugänglich zu machen. Russland beharrt, auch in der Auseinandersetzung mit den anderen Arktisanrainerstaaten (zu denen China nicht gehört), darauf, dass etwa die Hälfte der Arktis zum russischen Festlandschelf zu rechnen sei und damit Russland das ausschließlich Recht zur Ausbeutung der dort vermuteten enormen Vorkommen an Öl, Gas und anderen Rohstoffen zukommt. Diese Vorkommen sind wichtiger Teil des russischen Wunsches, auch künftig eine der größeren Mächte dieses Planeten zu bleiben.
Ganz zum Schluss bleibt noch der Hinweis, dass eine tiefe russische Angst gegenwärtig nur von der (propagandistisch unterfütterten) Euphorie des »Krim ist unser!« verdeckt wird: Die Angst, dass die vielen hundert Millionen Chinesen irgendwann in gar nicht allzu ferner Zukunft und egal ob nun offen oder (was für wahrscheinlicher gehalten wird) einfach aufgrund eines großen, so genannten »Bevölkerungsdrucks« das »urrussische« Sibirien übernehmen könnten. Wie Pawel Bajew schreibt, glaubt sich die russische politische Elite angesichts der Konfrontation mit dem Westen gegenwärtig »gezwungen, so zu tun als ob die Unterstützung durch China ein Zeichen gemeinsamer Interessen« sei. In Wirklichkeit glaubt das natürlich kaum jemand. Im Gegenteil sind viele davon überzeugt, dass China bei erster Gelegenheit, zum Beispiel wenn der Putinsche Staat in sich zusammen kracht, die Schwäche Russlands ausnutzen wird. Schöne Aussichten.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.