Das wichtigste Ziel: Machterhalt
Das wichtigste Ziel der russischen Führung ist die Erhaltung der eigenen Macht. Diesem Ziel sind alle anderen Ziele der Innen- und Außenpolitik untergeordnet. Die russische Staatsführung um Präsident Wladimir Putin will im eigenen Land und im postsowjetischen Raum mögliche Regimewechsel nach dem Vorbild der Farbenrevolutionen oder des Euromaidan in der Ukraine verhindern. Insbesondere in der Revolution in der Ukraine wird eine Gefahr für das eigene autoritäre Regime gesehen. In der Außenpolitik beansprucht Russland bereits seit Anfang der 90er Jahre den postsowjetischen Raum als »Sphäre privilegierter Interessen«, also als exklusive Einflusssphäre, die gegenüber dritten Mächten zu verteidigen ist. Hier wird insbesondere die Östliche Partnerschaft der EU als Konkurrenz um den Einfluss im postsowjetischen Raum wahrgenommen. Die Außenpolitik ist in Russland zudem auch ein wichtiger Faktor der Innenpolitik: Es geht darum, Stärke zu demonstrieren und die Großmacht Russland zu stärken. Wie die patriotische Euphorie über die Annexion der Krim gezeigt hat, instrumentalisiert die russische Führung Außenpolitik erfolgreich für ihre Machtinteressen. Die Außenpolitik verleiht somit der russischen Führung Popularität und Legitimität, nachdem der wirtschaftliche Modernisierungskurs gescheitert ist.
Die Idee der Eurasischen Union
Die Funktion der Eurasischen Wirtschaftsunion muss in diesem Kontext gesehen werden: Geostrategische Interessen gaben bei dieser Initiative den Ausschlag. Putin führte dazu in einem Beitrag in der Zeitung Iswestija aus: »Wir schlagen das Modell einer starken supranationalen Vereinigung vor, die fähig ist, einen der Pole der heutigen Welt zu bilden« (Iswestija v. 3. 10. 2011; <http://izvestia.ru/news/502761>) Wenn es der russischen Führung gelingt, Russland als bedeutendes Machtzentrum in einer multipolaren Weltordnung zu verankern, dient dies auch ihrem eigenen Machterhalt.
Das wirtschaftliche Interesse Russlands am gemeinsamen Binnenmarkt spielt eine untergeordnete Rolle, denn Russland wickelt nur einen geringen Teil seines Außenhandels mit Belarus und Kasachstan ab (vier bzw. drei Prozent im Jahr 2012). Umgekehrt ist Russland für Belarus der mit Abstand wichtigste Handelspartner; Kasachstan wickelt etwa ein Sechstel seines Handels mit Russland ab. Die wirtschaftlichen Präferenzen sind das Hauptinteresse von Belarus zur Teilnahme an den russisch dominierten Integrationsprojekten. Minsk spart durch die zollfreie Einfuhr von russischem Gas und Öl zu Vorzugspreisen etwa sechs Milliarden Dollar jährlich – das entspricht etwa zehn Prozent des belarussischen Bruttoinlandsprodukts. Das ist der Preis, den die Putin-Führung für die Teilnahme an ihrem geopolitischen Prestigeobjekt zahlt. Auch die Unterzeichnung des Vertrags zur Schaffung der Eurasischen Wirtschaftsunion ließ sich der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenka gesondert bezahlen: Bislang musste Belarus die Zölle für russisches Öl, das in Belarus weiterverarbeitet und als Benzin in den Westen weiterverkauft wird, erstatten. Die Hälfte dieser Kompensationen wurden Belarus nun erlassen, damit wird Minsk von 2015 an weitere 1,5 bis 2 Mrd. US-Dollar an Subventionen erhalten. Der Export von Ölprodukten ist eine wichtige Einkommensquelle für die weitgehend unreformierte belarussische Staatswirtschaft: nach Angaben der belorussischen Nachrichtenagentur Belapan erwirtschaftete Belarus 2013 dadurch mehr als zehn Milliarden USD, das ist etwa ein Drittel des Exporterlöses des Landes. Da die Öl-Branche in Belarus vom Import aus Russland abhängig ist, demonstriert dies die starke wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland. Außerdem ist Russland einer der wichtigsten Kreditgeber des Landes: nachdem Moskau in diesem Jahr bereits Kredite über 2 Mrd. USD an Minsk vergeben hat, legte der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedew im September noch einmal nach und vergab einen 1,5 Mrd. USD-Kredit an die belarussische Regierung. Das hochverschuldete Belarus hängt somit am Tropf russischer Subventionen. Die Außenverschuldung beträgt nach Angaben der belarussischen Nationalbank bereits 56 % des BIP. Es ist zweifelhaft, ob Belarus die Stabilitätskriterien des Eurasischen Wirtschaftsraums erfüllen wird, die ähnlich der Maastricht-Kriterien in der EU Begrenzungen für die Gesamtverschuldung und die Inflation vorsehen.
Eurasische Wirtschaftsunion und Zollunion
Die Eurasische Wirtschaftsunion ist bereits verkündet worden, ohne dass die ihr vorausgehende Integrationsstufe, die 2010 in Kraft getretene Zollunion erreicht wäre. Die Partner der Zollunion sind von einer gemeinsamen Handelspolitik gegenüber Drittstaaten weit entfernt, wie der Konflikt um die Ukraine zeigte. So droht Russland, Importzölle auf ukrainische Waren zu erheben, wenn das Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine in Kraft treten sollte. Zwar wurde die Implementierung des wirtschaftlichen Teils des Assoziierungsabkommens auf 2016 verschoben, aber die russische Regierung hat bereits vorsorglich eine entsprechende Verfügung erlassen. Die Drohkulisse Russlands erhält jedoch Risse, weil sich ausgerechnet die Bündnispartner Belarus und Kasachstan widersetzen. Beide Staaten haben eine Resolution des Rates der Eurasischen Wirtschaftskommission über ein neues Handelsregime mit der Ukraine abgelehnt. Nun kann Russland immer noch im Alleingang handeln. Aber die Handelsbarrieren können umgangen werden, indem ukrainische Exporteure ihre Waren über Belarus auf den russischen Markt bringen.
Es ist aber nicht nur die fehlende Einigkeit in der Handelspolitik, auch untereinander leidet der Handel: »Bis zu einem gemeinsamen Markt ist es noch weit. Es gibt noch nicht einmal den absolut freien Warenverkehr«, kritisierte der Moskauer Wirtschaftswissenschaftler Aleksandr Knobel vom Gajdar-Institut für Wirtschaftspolitik im Gespräch mit der Autorin. Zahlreiche Hindernisse erschwerten laut Knobel den Handel zwischen den Partnern. Die Eurasische Wirtschaftsunion sei nur ein Wechsel der Etiketten: »Bislang hat sich nur die Bezeichnung des Integrationsprojektes geändert, aber die Teilnehmer versuchen immer noch, die innerhalb der Zollunion ungelösten Probleme zu bewältigen«, sagte Knobel. Diese Ansicht teilt Pawel Koktyschew, Generaldirektor des Instituts für Entwicklung und Wirtschaftspolitik in Almaty. Die Zollunion sei eine »bürokratische Organisation«, der nicht die Prinzipien des Freihandels zugrunde lägen. Stattdessen »wetteifert jede Seite von Anfang an darin, besonders raffinierte protektionistische Maßnahmen einzuführen«, sagte Koktyschew im Interview mit der Autorin. Ein Beispiel dafür sei, dass die kasachischen Exporteure Spirituosen nur in Spezialfahrzeugen russischer Spediteure auf dem Territorium Russlands transportieren dürften.
Die Eurasische Wirtschaftsunion
Auch ein Blick auf den am 29. Mai unterzeichneten Vertrag zur Eurasischen Wirtschaftsunion zeigt, dass zunächst die im Rahmen der Zollunion und des 2012 gegründeten Einheitlichen Wirtschaftsraums gestellten Aufgaben bewältigt werden müssen: Zwei von vier Teilen des Vertrages sind aus den Verträgen über die Zollunion von 2009 und über den Einheitlichen Wirtschaftsraum von 2011 übernommen. Der erste Teil widmet sich der Gründung neuer Organe, die im Grunde eine Umbenennung der bestehenden ist: der Oberste Eurasische Wirtschaftsrat der Staats- und Regierungschefs, ein Rat der stellvertretenden Regierungschefs der drei Mitgliedsländer und das Gericht der Eurasischen Wirtschaftsunion. Die seit 2012 agierende Eurasische Wirtschaftskommission bleibt das wichtigste Exekutivorgan des Zusammenschlusses. Erst im vierten Teil des Vertrages finden sich neue Integrationsschritte – die allerdings in die Zukunft verlegt wurden. Die sensible Frage einer Integration des Öl-, Gas- und Finanzsektors wurde auf das Jahr 2025 verlegt, also in die ferne Zukunft. Bei der Stromwirtschaft wollen die Seiten bis 2019 eine Einigung erzielen. Die einzige zeitnahe Bestimmung betrifft die Abschaffung von gegenseitigen Barrieren im Handel mit Arzneimitteln und medizinischen Geräten – bis zum 1. Juli 2016. Dies betrifft alles den gemeinsamen Markt von Waren. Der im Vertrag über den Einheitlichen Wirtschaftsraum vorgesehene gemeinsame Markt von Dienstleistungen wurde noch nicht angegangen. Auch der gemeinsame Markt für Arbeitskräfte ist nicht so bald zu erwarten. Für die Gastarbeiter aus den GUS-Staaten gibt es in Russland einschränkende Quoten, ihre Aufhebung ist wegen der weit verbreiteten Xenophobie politisch nicht opportun.
Ob die Eurasische Wirtschaftsunion das Wirtschaftswachstum der Mitgliedsstaaten fördert, wird die Zukunft zeigen. Wissenschaftler bezweifeln jedoch, dass der Zusammenschluss dreier Staaten mit ineffizienten wirtschaftlichen Strukturen die Modernisierung vorantreiben und die internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken wird. Zwei der Partner, Russland und Kasachstan, weisen eine starke Rohstoffabhängigkeit auf, der Anteil von Öl und Gas am Export dieser Länder beträgt etwa drei Viertel. Wichtiger – aus der Perspektive Russlands – ist die politische Funktion der Union: Das Eurasische Reich soll Russlands Dominanz im postsowjetischen Raum zementieren. Denn die Mitgliedstaaten sind nur auf den ersten Blick gleichberechtigt: Die Räte sind paritätisch besetzt und entscheiden im Konsens. Umgesetzt werden die Beschlüsse von der Kommission, deren Zusammensetzung sich nach dem bisherigen Zollaufkommen richtet. So sind 84 % der mehr als 1.000 Beamten des in Moskau ansässigen Gremiums Russen, Kasachstan stellt zehn Prozent und Belarus sechs Prozent der Mitarbeiter. Obwohl Putin Wert darauf legt, die Eurasische Wirtschaftsunion nicht als Konkurrenzunternehmen zur EU darzustellen und sie als »integralen Bestandteil eines größeren Europa« bezeichnet, steht die EAES de facto im Gegensatz zur EU. Denn die Union verhindert, dass europäische Strukturen und Normen auf den postsowjetischen Raum ausgeweitet werden. Eine Mitgliedschaft in der Zollunion schließt den Freihandel mit der EU aus, so wird verhindert, dass die Adressaten der Östlichen Partnerschaft der EU Assoziierungsabkommen mit »tief greifendem und umfassenden Freihandel« abschließen.
Perspektiven der Eurasischen Union
Dass die JeAES ein wenig demokratisches Gebilde ist, verdeutlicht auch die Tatsache, dass zwei Staaten nicht ganz freiwillig beitraten. Belarus stand 2010/2011 kurz vor dem Staatsbankrott, als es der Zollunion beitrat und auch die zweite Hälfte des Aktienpakets an dem Gasverteiler Beltransgas an Gazprom verkaufte. Das politische Wohlverhalten belohnte Moskau mit wirtschaftlichen Präferenzen in Form von niedrigen Energiepreisen und Krediten. Ähnlich ging Russland auch bei Armenien vor, das auf die ursprünglich geplante Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU verzichtete und ankündigte, der EAES beizutreten. Hier waren vor allem sicherheitspolitische Argumente ausschlaggebend, denn Russland unterstützt Armenien im Konflikt mit Aserbaidschan um Berg-Karabach. Auch Armenien erhielt einen günstigen Gaspreis und trat den letzten Anteil an dem Pipelinenetz Armrosgas an Gazprom ab. Diese Politik aus wirtschaftlichem Druck und der Nutzung eingefrorener Konflikte wendet Russland auch bei Georgien und der Republik Moldau an, die bislang jedoch dem Druck standhielten. Hier übt Moskau Einfluss über die abtrünnigen Provinzen Abchasien, Südossetien und Transnistrien aus. Zu den wirtschaftlichen Druckmitteln gehören die Energielieferungen und die Importverbote für georgische und moldauische Lebensmittel. Wenig erfolgreich war das Spiel aus wirtschaftlichem und militärischem Druck auch im Fall der Ukraine, allerdings wird die Ukraine möglicherweise für ihren Widerstand den Preis eines weiteren »Transnistriens« im Osten des Landes zahlen müssen. Mit Blick auf die Verhinderung einer EU-Assoziierung war Russland also hinsichtlich Belarus und Armeniens erfolgreich, bei der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien nicht. Aserbaidschan als sechstes Land der Östlichen Partnerschaft ist derzeit weder an einer Integration in die EU noch in die Eurasische Wirtschaftsunion interessiert.
Fraglich ist, ob es Russland gelingen wird, die Eurasische Wirtschaftsunion zu einer politischen Union auszubauen. Belarus und Kasachstan haben sich deutlich dagegen ausgesprochen. Auch im Konflikt mit dem Westen wegen der Ukraine geben die drei Mitgliedsländer kein einheitliches Bild ab. Kasachstan hat offiziell erklärt, sich an dem Embargo für westliche Lebensmittel nicht zu beteiligen. Belarus nutzt die Situation für eigene Geschäfte. Zum einen hat die belarussische Regierung Vereinbarungen mit Russland über die Lieferung von Milch, Fleisch, Zucker und anderen Lebensmitteln aus belarussischer Produktion abgeschlossen. Belarus re-exportiert aber auch Lebensmittel aus EU-Staaten. So hat sich beispielsweise der Import von Lachs nach Belarus seit der Einführung des russischen Embargos verdreifacht, wie die norwegische Firma Fjordlaks mitteilte. Dort erhält der Lachs einen neuen Zollcode und ist damit nicht mehr dem Embargo unterworfen. Die belarussische Firma SP Santa Bremor liefere den norwegischen Fisch weiter nach Russland, berichtete die russische Zeitung RBK-Daily. In Kasachstan ist man über eine Äußerung Putins verärgert, der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew habe einen Staat auf einem Territorium geschaffen, auf dem es zuvor nie einen Staat gegeben habe. »Die Kasachen hatten keine Staatlichkeit«, sagte Putin laut russischsprachigem Dienst der BBC (2. September 2014; <http://www.bbc.co.uk/russian/international/2014/09/140901_kazakhstan_putin>). Die Eurasische Wirtschaftsunion nütze den Kasachen wirtschaftlich, um »in den Weiten der großen russischen Welt zu bleiben«, so Putin. Dies folgte auf eine Drohung des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowskij, Russland müsse erst die Sache mit der Ukraine klären und dann einen näheren Blick auf Kasachstan werfen. Nasarbajew warnte daraufhin im kasachischen Fernsehen, Kasachstan werde aus der Eurasischen Wirtschaftsunion austreten, wenn seine Unabhängigkeit bedroht sei.