Lada, Renault, Nissan & Co. Probleme der Re-Industrialisierung am Beispiel der russischen Automobilindustrie

Von Rudolf Traub-Merz (Moskau)

Zusammenfassung
Russland leidet seit dem Ende der Sowjetunion an der De-Industrialisierung seiner Wirtschaft. Dabei intervenierte der Staat immer auch industriepolitisch, nur fällt es schwer, die einzelnen Massnahmen einer übergreifenden Entwicklungsstrategie zuzuordnen. Weder wurde eine freie Marktwirtschaft eingeführt, noch wurde das verarbeitende Gewerbe hinter eine Wand hoher Schutzzölle gestellt, die vor Auslandskonkurrenz schützen könnte. Eine Förderstrategie des »picking national champions« lässt sich ebenso wenig ausmachen wie ein Setzen auf Sektoren mt komparativen Kostenvorteilen. Viele »industriepolitische Eingriffe« außerhalb der Militärgüterproduktion – für diese gelten andere Überlegungen – dienten oft nur der Rettung insolventer Unternehmen. Nicht Technologieinnovation oder die Herstellung internationaler Wettbewerbsfähigkeit, sondern Beschäftigungssicherung war das gemeinsame Band. Sprudelnde Öleinnahmen wurden in Form von Kapitalspritzen, gestundeten Steuern, Auftragszuteilungen oder anderen Vergünstigungen verteilt, um insolvente Unternehmen, die sozialpolitisch als »too big to fail« eingeschätzt wurden, am Leben zu halten. Eine Ausnahme stellt die Automobilherstellung dar. Nach Jahren des Niedergangs und massiver Finanzhilfen aus dem Staatshaushalt ist dort vor einem Jahrzehnt das Steuer radikal herumgerissen und die Branche mit »klassischer« Industriepolitik auf Wachstum getrimmt worden.

Von der Planwirtschaft in die marktwirtschaftliche Absatzkrise

Russlands Automobilindustrie entstand in den frühen Jahren der Sowjetzeit. Die ersten Produktionsstandorte wurden in den 1920er Jahren aufgebaut, mit dem Schwergewicht bei Lastwägen und Traktoren.

Mitte der 1960er Jahre startete die Regierung ein Großprojekt zur Modernisierung der Produktion und zur Versorgung privater Haushalte mit PKWs. Auf der Grundlage eines Kooperationsabkommens mit dem italienischen Fiat-Konzern wurde in Toljatti an der Wolga – benannt nach dem KPI-Führer Togliatti für dessen Verdienste bei der Einwerbung von Fiat – eine Autostadt aus dem Boden gestampft.

Zwischen 1970 und 1975 war der Fiat-Lizenzbau des Lada ein Quantensprung der sowjetischen Automobilfertigung, mit dem vorübergehend Anschluss an westliche Technologiestandards gefunden wurde. Danach blieben Innovationen aus, und das gesamtrussische Fahrzeugangebot stagnierte bei einem Jahresausstoß von rund 1,3 Mio. PKWs. Bei den Fertigungsmethoden und der Produktausstattung nahm der Qualitätsabstand zu westlichen Fabrikaten ständig zu.

Mit dem Ende der Sowjetunion und der Marktöffnung für ausländische Fabriate geriet die Automobilindustrie in den 1990er Jahren wie alle anderen Branchen des verarbeitenden Gewerbes in eine tiefe Absatzkrise.

Im Jahr 2000 begann eine neue Phase. Mit dem Ölpreisboom verbesserte sich die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern und davon profitierten teilweise auch heimische Automobilfirmen. Hinzu kam aber eine negative Kostenentwicklung. Hohe Reallohnzuwächse und steigende (reale) Wechselkurse ließen die Preisvorteile heimischer Fahrzeuge sinken; angesichts erheblicher Qualitätsnachteile wandten sich die Kunden Importmodellen zu. So schnellten allein die PKW-Einfuhren von 2005 auf 2007 um 177 % nach oben und erreichten bereits einen Marktanteil von 50 % (vgl. Tabelle 1 auf S. 17). Angesichts der Dynamik dieser Absatzverschiebungen war abzusehen, dass die Automobilfertigung in Russland in wenigen Jahren vor dem Aus stehen würde.

Der Vormarsch ausländischer Automobilkonzerne

Alarmiert von den Hilferufen russischer Hersteller und der Gewerkschaften intervenierte dann die Regierung. Mit den Verordnungen Nr. 166 vom 29.3.2005 und Nr. 566 vom 16.9.2006, die mit nachfolgenden Erlassen verschärft wurden, bezweckte die Regierung aber nicht die von heimischen Lobbygruppen geforderte Protektion russischer Firmen, sondern sie versuchte damit, ausländische Unternehmen in Russland anzusiedeln. Nun wurden auch Auslandsinvestoren durch Schutzwälle unterstützt.

Mit der Ausgestaltung der Protektionspolitik gestand die Regierung das Scheitern früherer Bemühungen ein, mit Staatshilfe eigene Hersteller zu globalen Automobilkonzernen zu formen. Ohne verbindlichen Technologietransfer an russische Unternehmen und angesichts von Vergünstigungen, die die Kosten für Anlageinvestitionen verringerten, sowie eines Marktes, der das Potential hatte, innerhalb weniger Jahre auf die erste Stelle des europäischen Automobilmarkt vorzurücken, nimmt es wenig Wunder, dass innerhalb kurzer Zeit alle großen internationalen Automobilhersteller mit der Regierung Ansiedlungsabkommen abschlossen (vgl. Tabelle 2 auf S. 18).

Tabelle 3 auf S. 18 fasst die Entwicklung des Automobilmarktes in Russland im Zeitraum 2005–2013 zusammen. Hervorzuheben sind:

Der Gesamtmarkt verdoppelte sich im Zeitraum 2005–2008 von 1,5 Millionen auf knapp 3 Millionen PKWs. Nach enormen Einbußen während der Wirtschaftskrise 2008/2009 nahm er wieder Tempo auf und wuchs auf Vorkrisenniveau. Seit 2013 dämpft das geringe Wirtschaftswachstum die Nachfrage.Das Wachstum ist stark volatil. In der Wirtschaftskrise bricht der Automobilmarkt überproportional ein, im Aufschwung wächst er überproportional.Der Anteil der Einfuhren, die bis 2009 auf 59 % hochgeschnellt waren, ist innerhalb weniger Jahre stark zurückgegangen (2013: 25,4 %).Der Anteil russischer Fahrzeuge, der 2005 noch bei 60 % lag, sank ebenfalls stark und lag 2013 nur noch bei 22,4 %.Größter Anbieter sind inzwischen ausländische Firmen mit Produktionsanlagen in Russland. Ihr Anteil ist von 10,1 % (2005) auf 52,2 % (2013) gestiegen.

Die Zahlen vermitteln ein klares Bild: Die industriepolitische Intervention führt in Russland zu einem doppelten Verdrängungsprozess. Zurückgedrängt wird – wie intendiert – die Einfuhr von Fahrzeugen. Die Automobilfertigung ist wieder »nach Russland gewandert«. Allerdings wird ein großes Segment (ca. 25 %) weiterhin über Importe abgedeckt. Hier handelt es sich hauptsächlich um Modelle, die vor Ort nicht hergestellt werden, vor allem im Bereich der Luxusfabrikate.

Gewinner dieser »Standorsicherungsstrategie« sind aber nicht die russischen Firmen. Die staatliche Politik bietet russischen Herstellern keinen speziellen Schutz und in der freien Marktkonkurrenz sind sie gegenüber den Tochtergesellschaften der globalen Automobilkonzerne im Hintertreffen.

Wie sich diese Prozesse mittel- und langfristig auf die Formierung eines nationalen Unternehmertums auswirken, kann mit einer Analyse der Ausgestaltung des größten Joint Ventures, Avtovaz, beantwortet werden.

Avtovaz: die russische Automobilindustrie im Brennglas

Die Entwicklung von Avtovaz seit der Auflösung der Sowjetunion steht stellvertretend für die gesamte Automobilbranche Russlands. 1993 erfolgte durch eine Voucher-Privatisierung die Umwandlung des Kombinats in eine Aktiengesellschaft, in der die Belegschaft 51 % Anteile übernahm. In Russland besteht kein Zwang, Aktionäre öffentlich zu benennen, so dass die Entwicklung der Besitzverhältnisse kaum nachzuvollziehen ist. Wie bei anderen privatisierten Unternehmen scheinen im Hintergrund finanzstarke Kräfte und Manager des Unternehmens die Aktien eingesammelt zu haben. Vermutlich hat das Avtovaz-Management bald die Mehrheit übernommen gehabt.

Absatzkrise, ausbleibende Managementreformen und teilweise mafiöse Zustände bei Vertrieb und Zulieferung ließen dem Unternehmen das Aus drohen. Aus sowjetischen Zeiten bereits hoch verschuldet, war es ständig auf der Suche nach neuen Krediten und konnte seine Steuern nicht bezahlen. Der Versuch, in den 1990er Jahren ausländische Investoren zum Einstieg zu gewinnen, misslang. Immer wieder stundete die Regierung Steuern oder stellte Finanzspritzen bereit.

Verstaatlichung und Beschäftigungsgarantie

Avtovaz begann dann mit Umstrukturierungsmaßnahmen. Es wurde ein neues Buchhaltungssystem nach internationalen Standards eingeführt, die Abteilungen erhielten Kostenstellen. Das Verteilernetz wurde »von kriminellen Elementen gesäubert« und unter die Kontrolle des Unternehmens gebracht, einige Abteilungen wurden in eigenständige Firmen überführt.

Die Reformen verbesserten zwar die technischen Abläufe, schafften aber neue Probleme. Ausgelagerte Firmenabteilungen blieben mit komplizierten Aktienverschachtelungen an den Konzern rückgebunden und wurden mit langfristigen Verträgen und Abnahmezusagen versorgt. Die organisatorischen Umstellungen verringerten zwar die nominellen Beschäftigungszahlen im Werk, im Gesamtkonzern blieben diese aber unverändert bei etwa 150.000. Das russische Zuliefernetz blieb dünn und oftmals lagen auf beiden Seiten der Transaktion Monopolstellungen vor. Insgesamt fielen die Produktivitätsgewinne bescheiden aus, die Liquiditätsprobleme blieben bestehen. Zinslose Regierungsdarlehen und Steuerstundungen hielten das Werk zwar über Wasser, an Modernisierungsinvestitionen und neue Modelle war aber nicht zu denken.

Wie bei anderen Unternehmen wurden auch bei Avtovaz Schulden gegenüber dem Staat immer wieder in Kapitalanteile überführt. Das erworbene Aktienpaket wurde 2005 dem staatlichen Rüstungskonzern »Rosoboronexport« übertragen. Nichts deutet darauf hin, dass die Wiederverstaatlichung nach einem Plan geschah. Außer dem Wiedereinstieg als Miteigentümer verfolgte die Regierung keine weiteren Pläne; Entlassungen blieben aus, ebenso personelle oder organisatorische Umstrukturierungen. Das Management, das nicht in der Lage war, das Unternehmen nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen, wurde unverändert im Amt bestätigt.

Immerhin: Die Suche nach einem ausländischen Investor zeigte 2001/02 einen Teilerfolg. Der amerikanische Automobilkonzern General Motors (GM) lehnte angesichts der inneren Schwierigkeiten des russischen Partners einen Direkteinstieg ab, gründete aber mit Avtovaz ein separates Joint Venture und baute in einer parallelen Fertigungslinie in Toljatti den neuen Chevrolet-Lada.

Renault übernimmt – die letzte Chance?

Die ab 2006 boomende Nachfrage nach PKWs und die neue Industriepolitik für den Automobilsektor verbesserten die Chancen, einen ausländischen Investor zu finden. Im Wettbewerb mit GM und FIAT setzte sich Renault durch. Der französische Konzern stieg 2008 mit einer Einlage von einer Milliarde US-Dollar bei Avtovaz ein und übernahm ein Aktienpaket von 25 %. Die Regierung wechselte auf ihrer Kapitalseite »Rosoboronexport« gegen die Staatsholding »Rostec« (bis 2014: »Rostechnologii«).

Wenige Monate später traf die Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 den russischen Automobilmarkt mit voller Wucht. Der Lada-Verkauf brach um 50 % auf nur noch 350.000 Fahrzeuge ein, über 150.000 gingen auf Halde. Das Werk reagierte mit einer Drosselung der Fertigung und einem Absenken der Löhne. Wieder einmal befand es sich im Überlebenskampf. In der Region Samara, für die Avtovaz der wichtigste Arbeitgeber ist, sank das BIP um 38 %.

Regierung, Avtovaz-Management, die Gebietsregierung Samara sowie Renault kämpften um ein Rettungspaket. Die Regierung verhinderte zunächst mit einer erneuten Kapitalspritze den Untergang des Unternehmens, verlangte aber von Renault ebenfalls finanzielle Unterstützung oder eine Verwässerung des Anteils. Nach heftigen, teils öffentlich geführten Auseinandersetzungen, gelang ein Sanierungskonzept (s. Renault Press: Renault, Russian Technologies and Troika Dialog agree on Avtovaz Restructuring Measures, März 2010):

Die Regierung erhöhte ihren Krisenbeitrag auf 1.67 Mrd. €;

die Gebietsregierung Samara übernahm die Lohnkosten von 14.600 Beschäftigten, die in zwei Tochterunternehmen von Avtovaz ausgegliedert wurden;Sozialeinrichtungen des Werks wurden an Zentral- und Kommunalbehörden übergeben;Renault stellte keine Geldmittel bereit, sondern Technologien, Maschinen und eine Fertigungsplattform seiner rumänischen Billigmarke Dacia im Wert von 240 Millionen Euro.

Sieger der Auseinandersetzung war Renault. Im Lichte der nachfolgenden Schritte kann die Rettungsstrategie von 2009 als Paradigmenwechsel hinsichtlich des Managements von Avtovaz und seiner wirtschaftlichen Einbettung gewertet werden:

Das Unternehmen sollte nun betriebswirtschaftlich geführt werden und ohne Finanzhilfen der Regierung auskommen. Dafür wurde Beschäftigungspolitik zur ausschließlichen Angelegenheit des Managements. Avtovaz strich bereits 2009 rund 30.000 Stellen, vor allem in der Verwaltung; der weitere Beschäftigungsabbau erfolgte seither in kleineren Schritten;Renault übernahm die Führerschaft im Technologiebereich und trieb die Modernisierung mit der Bereitstellung der Fertigungspläne für die BO-Plattform von Dacia voran. Damit wird künftig die Kapazität um 350.000 auf über eine Million PKWs im Jahr erweitert. 70 % der Fertigung soll Avtovaz zugute kommen und 30 % Renault-Nissan, die eigene Modelle vom Band laufen lassen können;Renault versuchte bereits 2008 bei der Übernahme von 25 % der Aktien französische Manager ins Werk zu bringen. Sie wurden wohl vom russischen Management abgeblockt und wieder abgezogen. Renault beschloss nun, Nissan ebenfalls ins Unternehmen zu ziehen und gemeinsam eine Anteilsmehrheit anzustreben. Damit soll das russische Management unter französisch-japanische Kontrolle gebracht werden;die Regierung unterstützte das Sanierungskonzept, indem sie 2010 den Absatz mit einer Abwrackprämie anregte, die nur beim Kauf russischer Fahrzeuge fällig wurde.

Die Umstrukturierung der Besitzverhältnisse erfolgte 2012. Der neu gegründeten »Alliance Rostec Auto« (ARA) wurden 74,51 % des Aktienkapitals übertragen. Renault erhöhte mit einer weiteren Kapitalspritze von 742 Millionen US-Dollar seinen ARA-Anteil auf 50 %; Nissan stieg mit einer Investition von 376 Millionen US-Dollar ein und übernahm ein Aktienpaket von 17,13 %. Bei »Rostec« verblieben 32,87 %. (Avtovaz Annual Report 2013, S. 9). Die Investmentbank »Troika Dialog« verkaufte ihre Anteile. Die außerhalb von ARA gehaltenen 25,5 Prozent verblieben im Streubesitz. Mit der Aktienmehrheit erhielt Renault-Nissan auch die Mehrheit im Aufsichtsrat (acht der 15 Sitze) und die Kontrolle über das Management. Zwar behielt der russische Staat ein Vetorecht, er zog sich aber aus der Unternehmensführung weitgehend zurück. Die Geschäftspolitik wird nun im Ausland bestimmt und Avtovaz zu einer regionalen Gliederung eines internationalen Konzerns. Die Integration betrifft auch den Einkauf und die Koordinierung mit Zulieferern. Avtovaz wird in die RNPO (Renault-Nissan Purchasing Organisation) eingebunden. Bis 2016 sollen 80 % der Einkäufe über die RNPO getätigt werden.

In welche Richtung Avtovaz geführt wird, zeigte sich bereits 2014, als der russische Automobilmarkt erneut stark einbrach. Die Belegschaft wurde um weitere 14.000 Stellen reduziert. In einem Interview gab Bo Andersson, seit 1. Januar 2014 erster ausländischer Generaldirektor in der 48-jährigen Werksgeschichte, die Entwicklung der nächsten Jahre vor:

»Die Produktivität lag 2013 bei 20 Autos pro Jahr und Angestellten. Bis Jahresende dürften wir sie auf 40 verdoppelt haben, unser nächstes Ziel wären dann 60«. (Interview mit Bo Anderson in Automotive News Europe, 7. Oktober 2014).

Avtovaz ist nicht das einzige Standbein von Renault-Nissan in Russland. Renault unterhält seit Ende der 1990er Jahre ein Joint Venture mit »Avtoframos«, in dem verschiedene Modelle zusammengeschraubt werden. Und Nissan engagiert sich seit 2009 in St. Petersburg, wo es eigene Modelle vom Band rollen lässt. Mit allen Fertigungsanlagen zusammen wollen Renault-Nissan 40 % des russischen Marktes erobern. Diese Expansionsstrategie soll Renault-Nissan vom vierten auf den dritten Platz der weltgrößten Automobilkonzerne klettern lassen.

Der Standort Russland wird dabei zu einer wesentlichen strategischen Säule in einer weltweiten Vermarktungsstrategie. Damit geht Renault-Nissan über das Engagement anderer ausländischer Hersteller hinaus, die bisher in Stückzahlen von 150.000 – 350.000 planen. Für letztere bleibt der russische Markt von nachgeordneter Bedeutung. Renault-Nissan jedoch bindet seine Expansionsstrategie an das Schicksal von Avtovaz und ist nun gezwungen, im russischen Hauptwerk die Produktivität auf internationales Niveau zu heben.

Zukünftige Entwicklungstrends

Bis Mitte 2013 prägte großer Optimismus Prognosen über die Zukunft des russischen Automobilmarktes. Russland sollte den deutschen Markt überholen und in Europa auf Platz eins klettern. Eine Jahresnachfrage von 5 Millionen PKWs schien möglich. Mittlerweile herrscht Pessimismus vor. Roland Berger Consulting passte im Mai 2014 seine Szenarien an (Grafik 1 auf S. 19). Nunmehr wird mit einem stagnierenden Markt oder nur geringen Zuwächsen gerechnet. Es ist schwierig, inmitten einer Absatzkrise positive Aussagen über die Marktentwicklung zu treffen.

Dennoch sind auch auf einem Binnenmarkt, der in der jetzigen Größenordnung verharrt,Wachstumsstrategien möglich: Der Importanteil, der immer noch bei rund 30 % liegt, könnte weiter zurückgedrängt werden; mit einer Verringerung der Verkaufspreise könnten neue Käufer gewonnen werden; und schließlich ließe sich der Absatz über Ausfuhren ankurbeln.

Über die zukünftige Marktentwicklung bestimmen auch die Schutzzölle. Im Jahr 2012 trat Russland nach 18-jährigem Verhandlungsmarathon der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Die Sinnhaftigkeit der Mitgliedschaft einer Öl-Ökonomie in einer Handelsorganisation, die sich nicht mit Ressourcen-Handel beschäftigt, ist zweifelhaft, und große Teile der russischen Unternehmerschaft sprachen sich in jeder Verhandlungsphase gegen den Beitritt aus. Sie forderten nicht ausländische Absatzmärkte, sondern Schutz vor Konkurrenz. Die Maximalhöhe fortbestehender Einfuhrzölle auf fertige Pkws wurden erst nach zähen Verhandlungen in ein WTO-Sonderprotokoll überführt, das für einen Zeitraum von sechs Jahren (2012–2018) Ausnahmeregelungen gewährt (siehe Tabelle 5 auf S. 19).

Die Sonderabsprachen enden 2018, danach dürfen auf Einfuhren nur noch 15 % Schutzzoll erhoben werden. Ebenso entfallen dann die Vorgaben für die Lokalisierung der Produktion (»local content«) der Verordnung Nr. 166. Im Nutzfahrzeugbereich sind diese WTO-Einschnitte noch stärker ausgeprägt.

Wichtig ist ebenfalls: Mit dem Wegfall der Lokalisierungsvorschrift ist es Fahrzeugherstellern freigestellt, die Wertschöpfungsschraube wieder rückwärts zu drehen. Sie können Komponenten, die sie bisher auf dem lokalen Markt eingekauft haben, wieder aus dem Ausland beziehen.

Fazit

In den letzten Jahren war es üblich, Russland als Schwellenland zu charakterisieren und ihm mit der Zugehörigkeit zur BRICs-Gruppe einen besonders dynamischen Wachstumsverlauf zuzuschreiben. Aus einer strukturalistischen Perspektive ist dies schon immer falsch gewesen. Wie Brasilien und Südafrika leidet es an der De-Industrialisierung. Das Land hat es versäumt, eine wettbewerbsfähige Industrie aufzubauen, und der Ölboom verfestigte strukturelle Verwerfungen weiter. Der Rentenzufluss im Energiesektor ließ zwar das BIP anwachsen, die Industrie gewann aber keine Bodenhaftung. Unproduktive Unternehmen wurden vom Staat geschützt, eine konkurrenzorientierte Marktwirtschaft, in der Investitionen in Modernisierung Absatzchancen bestimmen, entwickelte sich nicht oder nur in Nischen.

Im Automobilsektor hat der Staat einen anderen Entwicklungsweg eingeschlagen und ein Stück weit eine Umsteuerung vollzogen. Avtovaz, der Stolz der Sowjetunion, steht exemplarisch für die Fehlentwicklungen der Transformationsphase. Privatisierung und Liberalisierung führten zum Absturz, nur die Re-Nationalisierung konnte den Kollaps verhindern. Die Verordnungen von 2005, 2006 und 2011 zur Lokalisierung der Fertigung im Automobilsektor verschärften zwar die Lage des Riesenwerks in Togliatti. Die von der Regierung gewählte Strategie würgte aber den Importsektor nicht ab, sondern setzte Anreize für ausländische Investoren, die alle großen Automobilkonzerne veranlasste, lokale Fertigungsstätten aufzubauen. Der Preis bestand in der Verdrängung der einheimischen Fertigung. Avtovaz rettete sich in ein Joint Venture mit Renault-Nissan, um der Insolvenz zu entgehen. Andere russische Anbieter kamen aus ihrer Rolle als Lizenzbauer für ausländische Marken nie heraus und spielen technologisch keine Rolle.

Mit dieser Strategie entschied sich Russland für einen Weg, der sich grundlegend vom chinesischen Modell absetzt. Während China die Automobilbranche zum strategischen Sektor für das Wachstum nationaler Unternehmen erklärte und Auslandsinvestoren in Joint Ventures zwang – und zwar mit Auflagen bezüglich des Technologietransfers zugunsten eigener Automobilhersteller –, führte die russische Variante zur Verdrängung nationaler Produzenten. Der russische Staat übernahm nicht die Rolle des »strukturellen Entwicklungsagenten« für das einheimische Unternehmertum, sondern zerstörte die nationalen Monopole und stellte Konkurrenz mit internationalen Automobilkonzernen her. Einen unabhängigen nationalen Automobilbau gibt es in Russland nicht mehr, dafür massive Fertigungskapazitäten mit der Chance, bei niedrigen Wechselkursen auch Exportmärkte beliefern zu können. Darüber entscheiden aber nun internationale Automobilkonzerne mit ihren globalen Herstellungs- und Vermarktungsstrategien.

Lesetipps / Bibliographie

  • Traub-Merz, Rudolf: Öl oder Autos. Chancen einer Re-Industrialisierung Russlands. Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung Moskau. Februar 2015, 30 S. <http://www.fes.de/lnk/1gs>

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